Verlag OntoPrax Berlin

Unipolarität oder Multipolarität? 

Zur Frage nach dem „Myth of Multipolarity“ 

Übersicht 

  1. Von „der Natur der Unipolarität“ (the nature of unipolarity) 
  2. Unipolarität als eine messbare Quantität? 
  3. Unipolarität, Multipolarität und die Großmächterivalität 

Anmerkungen 

„Die Geschichte ist ein Friedhof von Eliten.“
(Vilfredo Pareto) 

  1. Von „der Natur der Unipolarität“ (the nature of unipolarity) 

Unter dem provokanten Titel „The Myth of Multipolarity“ haben Stephen G. Brooks und William C. Wohlforth eine umfangreiche Studie in Foreign Affairs am 18. April 2023 voröffentlicht. Die Verfasser der Studie bestreiten vehement die Multipolarisierung der Weltordnung. Ihre Kernthese lautet: „Die Welt ist weder bipolar noch multipolar und sie ist auch nicht im Begriff, es zu werden“ (The world is neither bipolar nor multipolar, and it is not about to become either). 

Zwar scheine die globale US-Dominanz in den vergangenen zwei Jahrzehnten geschwächt zu sein und die Autoren zählen zahlreiche Gründe für diese ihrer Meinung nach scheinbare Schwächung auf: 

  • Die kostspieligen wie gescheiterten Interventionen in Afghanistan und im Irak, eine verheerende Finanzkrise und eine sich vertiefende innenpolitische Polarisierung des Landes, isolationistische Tendenzen der Trump-Administration; 
  • Ein fulminanter ökonomischer Aufstieg Chinas, der manche Experten dazu verleitete, das 

„unipolare Momentum“ für beendet und die Welt für bipolar zu erklären. 

  • Russlands Revisionismus, der die US-Vorherrschaft bzw. die von den USA aufgebaute internationale Ordnung unterminiert und den die USA in der Ukraine nicht verhindern konnten. 
  • Die Welt stehe angeblich „kurz vor dem Übergang zur Multipolarität“. China, der Iran und Russland unterstützen als „die führenden antiamerikanischen Revisionisten“ (the leading anti- American revisionists) diese Entwicklung im Glauben, das Weltordnungssystem nach ihrem Gutdünken zu gestalten. 
  • Selbst Indien und viele andere Länder des „Globalen Südens“ seien zum gleichen Schluss gekommen, dass sie nach Jahrzehnten der Dominanz der Supermächte endlich frei seien, ihren eigenen Kurs zu bestimmen. 
  • Auch viele US-Amerikaner halten heute die Welt für multipolar. „Es gibt vielleicht keine andere akzeptablere Wahrheit über die heutige Welt als die Vorstellung, dass diese nicht mehr unipolar ist“ (There is perhaps no more widely accepted truth about the world today than the idea that it is no longer unipolar). 

All das sei aber – stellt die Studie apodiktisch fest – ein Humbug (But this view is wrong). Die USA bleiben nach wie vor „an der Spitze der globalen Machthierarchie“ (the top of the global power hierarchy). 

Und „das Fortschreiben der Unipolarität“ (the persistence of unipolarity) werde noch deutlicher – frohlocken Brooks/Wohlforth -, „wenn man konzediert, dass die Welt immer noch weitgehend frei von einem Zustand, der die Großmachtpolitik in Zeiten der Multipolarität und Bipolarität vom Beginn des modernen Staatensystems bis zum Kalten Krieg prägte, nämlich die Machtbalance“ (And the persistence 

of unipolarity becomes even more evident when one considers that the world is still largely devoid of a force that shaped great-power politics in times of multipolarity and bipolarity, from the beginning of the modern state system through the Cold War: balancing). 

Damit stellen Brooks/Wohlforth den Begriff „Unipolarität“ dem Begriff „Machtbalance“ gegenüber, den sie mit „Multipolarität“ und „Bipolarität“ gleichsetzen. Und so treten die Autoren als vehemente Anhänger einer hegemonialen Weltordnung auf und lehnen die Machtbalance bzw. das Machtgleichgewicht, das sie mit der Großmächterivalität identifizieren, als Weltordnungsprinzip ab. 

Sie verbleiben damit in der Tradition der US-Außen- und Weltpolitik, die noch auf Woodrow Wilson zurückgeht. Was wir heute Unipolarität/Multipolarität bezeichnen, ist in der Tat ein seit Jahrhunderten fortdauernder Machtkampf zweier Ordnungsprinzipien der europäischen Geschichte: Hegemonie und/oder Gleichgewicht. Die Autoren missverstehen freilich den Sinn und die Bedeutung der Gleichgewichtspolitik in der europäischen Geschichte. 

Zum einem vermengen sie zwei völlig heterogene Epochen der europäischen und Weltgeschichte miteinander, indem sie undifferenziert eine jahrhundertlang andauernde Geschichte des europäischen Machtgleichgewichts im Allgemeinen und hundertjährige Epoche des „Europäischen Mächtekonzerts“ im Besonderen auf eine Stufe mit der bipolaren Weltordnung der Nachkriegszeit stellen. 

Zum anderen priorisieren sie die unipolare vor der multipolaren Weltordnung und identifizieren die Multipolarität genauso wie die Bipolarität mit Großmächterivalität. In der Tradition eines Woodrow Wilson stehend, der die europäische Großmachtpolitik des 19. Jahrhunderts aufs Schärfste verurteilte, lehnen sie ebenfalls die mit der Multipolarität gleichgesetzten Gleichgewichtspolitik ab. 

Zum dritten outen sie sich als eifrige Vertreter des US-Hegemonialpolitik. 

Und so schreiben sie begeistert und selbstbewusst: „Die amerikanische Macht wirft immer noch einen großen Schatten über den Globus, aber sie ist zugegebenermaßen kleiner als zuvor geworden. Dennoch sollte diese Entwicklung relativiert werden. Es geht allein um die Natur der Unipolarität – nicht um ihre Existenz“ (American power still casts a large shadow across the globe, but it is admittedly smaller than before. Yet this development should be put in perspective. What is at issue is only the nature of unipolarity—not its existence). 

Wer von der „Natur der Unipolarität“ im Gegensatz zu deren „Existenz“ redet, spricht von der „Natur der Sache“, von „essentia“ im Gegensatz zu „existentia“, will diese „Sache“ apologetisch legitimieren und betreibt dadurch eine Indulgenz der Unipolarität. Es geht also um die Rechtfertigung und Verteidigung der Unipolarität, nicht um eine Analyse der geopolitischen Realität. 

Und das aus gutem Grund! Die „Existenz“ der US-Hegemonie ist akut bedroht und gefährdet. Sie befindet sich samt ihrer unipolaren Weltordnung in einem Langfristtrend, der abwärtsgerichtet ist, auch wenn sie (noch) unangefochten besteht. 

Der Apologie der „essentia“, „der Natur der Unipolarität“ (the nature of unipolarity), nicht deren bedrohter „existentia“ widmet sich die vorgelegte Studie. Zugleich wird die Multipolarität, die ihrer Natur nach ein auf ein Machtgleichgewicht zielendes Weltordnungsprinzip ist, pauschal diskreditiert, und historisch karikiert. 

„Die multipolare Welt war eine hässliche Welt“ (The multipolar world was an ugly world), beteuern Brooks/Wohlforth und begründen ihre Behauptung damit, dass „die Großmachtkriege (great-power wars) stets mehr als einmal im Jahrzehnt von 1500 bis 1945 ausbrachen. Mit erschreckender Regelmäßigkeit bekämpften sich alle oder die meisten der mächtigsten Staaten in schrecklichen, alles verzehrenden Konflikten: dem Dreißigjährigen Krieg, den Kriegen Ludwigs XIV., dem Siebenjährigen Krieg, den Napoleonischen Kriegen, dem Ersten Weltkrieg und dem Zweiten Weltkrieg.“ 

Dass der Wiener Kongress 1814/15 dem europäischen Kontinent einen langandauernden hundertjährigen Frieden bescherte und dieser Frieden seine Existenz dem auf der Gleichgewichtspolitik der europäischen Großmächte beruhenden „europäischen Mächtekonzert“ verdankt, wird einfach ausgeblendet. Dieses historische Factum passt offenbar nicht in die selektive Wahrnehmung der europäischen Geschichte seitens unserer US-Unilateralisten. 

„Apologie kraft Interpretation“ hat der große deutsche Gelehrte – Rechtshistoriker und Staatsrechtslehrer Michael Stolleis – einst eine solche wissenschaftliche Methode genannt. Man könnte in diesem Kontext auch von Interpretation kraft Selektion sprechen. 

Je „hässlicher“ die Multipolarität dargestellt wird, umso wunderbarer und glückseliger erscheint die Unipolarität am geopolitischen Horizont. „So angespannt das gegenwärtige internationale Umfeld (mit den glücklichen Tagen der 1990er-Jahre verglichen) auch sein mag, so fehlt es ihm an Anreizen für 

Konflikte und hat darum keine nennenswerte Ähnlichkeit mit dem Zeitalter der Multipolarität (to the age of multipolarity),“ behauptet die Studie. 

Wirklich nicht? Die Geschichte der vergangenen drei Jahrzehnte belehrt uns eines Besseren. Die unipolare Weltordnung hat sich unter Führung des US-Hegemonen in den 1990er-Jahren geformt und ihre endgültige Gestalt um die Jahrhundertwende eingenommen. Karl Otto Hondrich nannte sie bereits 2007 „Weltgewaltordnung“, die er freilich uneingeschränkt befürwortete.1 

Diese unipolare „Weltgewaltordnung“ hat mit ihren zahlreichen militärischen US-Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit eine lange blutige Spur hinterlassen. Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“109 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw. 

  1. Unipolarität als eine messbare Quantität? 

Will man die methodische Vorgehensweise der Autoren bei ihrer Darstellung der unipolaren bzw. multipolaren Weltordnung auf einen Nenner bringen, so kann man sie durch drei Schlagworte charakterisieren: Wirtschaftslastigkeit, China-Fixierung und militärische Kraftmeierei. Hegemonie oder Gleichgewicht bzw. Unipolarität oder Multipolarität werden nicht als politische Ordnungsprinzipien, sondern als ökonomisch und militärisch messbare Größen betrachtet. 

„Viele, die Multipolarität proklamieren“ – schreiben Brooks/Wohlforth -, „scheinen Macht als Einfluss (power as influence)“ wahrzunehmen, nämlich als eine Fähigkeit, andere dazu zu bringen, das zu tun, was man will. Da die Vereinigten Staaten Afghanistan oder den Irak nicht befrieden und viele anderen globalen Probleme nicht lösen konnten, sei die Welt multipolar geworden, argumentieren die Gegner der Unipolarität. 

Dem sei aber nicht so. „Polarität“ liege eine ganz andere „Bedeutung von Macht“, die messbar ist (meaning of power, one that is measurable), zugrunde. Diese „Macht“ sei deswegen „messbar“, weil sie eine insbes. militärisch und ökonomisch quantifizierbare Ressource sei (vgl.: „power as resources, especially military might and economic heft“). 

Daraus wird mit Verweis auf die Communis opinio doctorum geschlussfolgert, dass die internationale Politik in Abhängigkeit davon funktioniere, über wie viele Ressourcen die Großmächte verfügen. Damit wird die Kategorie der Substanz Macht mit der der Quantität gleichgesetzt und „Macht“ als „Ressource“ messbar gemacht, wonach man sodann Unipolarität oder Multipolarität mittels einer quantifizierbaren Bewertung definieren kann. 

Diese methodische Vorgehensweise blendet nicht nur geopolitische und geoökonomische Machtverschiebungen im globalen Raum aus und macht aus „Unipolarität“ und „Multipolarität“ als Weltordnungsprinzipien eine messbare, militärisch und/oder ökonomisch quantifizierbare Entität, sondern entwertet dadurch die welt- und geopolitischen Prozesse zu einer bloß ökonomisch und/oder militärisch messbaren Quantität. 

Getreu diesem Machtverständnis schreiben Brooks/Wohlforth: Damit das System multipolar werde, müsse mindestens drei Großmächte an der Spitze stehen. Die USA und China seien die mächtigsten Länder der Welt. Ein weiteres Land müsse sich dazu gesellen, damit die Multipolarität existieren könne. Das Land, welches plausibel an dritter Stelle stehen könnte – Frankreich, Deutschland, Indien, Japan, Russland, das Vereinigte Königreich – sei aber kein gleichwertiger Konkurrent für die USA oder China. Folgt man dieser rein quantitativen Betrachtung der weltpolitischen Prozesse, so dürfte das wohl heißen: Wenn eine Großmacht an „der Spitze der globalen Machthierarchie“ (the top of the global power hierarchy) steht, ist die Welt unipolar; wenn zwei …, bipolar; wenn drei …, multipolar; wenn vier …, 

ultrapolar

Liest man die Studie weiter, so wird diese Betrachtung noch absurder: „In multipolaren Epochen“ (In multipolar eras) führte die gleichmäßige Machtverteilung dazu, dass viele Großmächte behaupteten, die 

Nummer eins zu sein, ohne dass es klar war, wer den Titel verdiente. Soll das heißen, dass die Multipolarität lediglich eine erweiterte Form der Unipolarität ist? 

Bedeutet die Unipolarität, dass der Hegemon an der „Spitze der globalen Machthierarchie“ (the top of the global power hierarchy) stehe und die Welt anführe, so besteht der Sinn und Zweck einer multipolaren Weltordnung laut der Studie im permanenten Machtkampf unter den Großmächten um eben diese Hegemonie. Und so versucht die Studie die Multipolarisierung der Welt in Anbetracht des selbst von den Autoren nicht mehr zu leugnenden Erosionsprozesses der unipolaren Weltordnung, die sie euphemistisch als „partial unipolarity“ charakterisieren, in einen Zweikampf zwischen den USA und China umzufunktionieren. 

Ein solches Verständnis von der Multipolarität steht nicht nur im Widerspruch zu der spätestens seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine entstandenen neuen geopolitischen Realität, sondern ist auch ahistorisch

Folgt man nun der Argumentation der Studie, so bedeutet eine multipolare Weltordnung zum einen eine quantitativ messbare gleichmäßige Machtverteilung unter den mindestens drei ökonomisch und militärisch gleichwertigen geopolitischen Rivalen und zum anderen einen permanenten Kampf um die Verteilung von Ressourcen, die es ihnen ermöglichen sollten, die Hegemonie zu erringen und die Unipolarität je nachdem entweder zu perpetuieren oder zu verteidigen oder wiederherzustellen. Und genau darum geht es heute dem US-Hegemon. Er will seine unipolare Welt am liebsten als „total unipolarity“ vollumfänglich wiederherstellen. 

Da aber nach Auffassung der Autoren allein China als der mächtigste Herausforderer der US- Hegemonie über ausreichende militärische und ökonomische Ressourcen verfügt, beschäftigen sie sich in ihrer Studie weitgehend mit China als US-Konkurrenten und kommen erleichtert zu dem Schluss, dass China noch nicht so weit sei, um den USA Paroli bieten zu können. Es sei also doch nicht zu spät die Unipolarität zu retten und die US-Hegemonie für immer zu perpetuieren. 

Conclusio: Die bestehende Weltordnung bleibe mit den USA an der Spitze immer noch unipolar. Und so schließen Brooks/Wohlforth ihre Studie mit einer selbstberuhigenden Diagnose: „Yes, America faces limits it did not face right after the Soviet Union’s collapse. But the myth of multipolarity obscures just how much power it still has“ (Ja, Amerika steht vor Herausforderungen, mit denen es seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht mehr konfrontiert war. Aber der Mythos der Multipolarität verschleiert, wie viel Macht es noch hat). 

Dieser geopolitische Eskapismus ist im US-Establishment weit verbreitet und unausrottbar und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen. Die geopolitische Realität der Gegenwart sieht freilich für die USA alles andere als beruhigend aus! 

  1. Unipolarität, Multipolarität und die Großmächterivalität 

Multipolarität bedeutet nicht – wie die Studie beteuert – eine Weltordnung, in der permanente Kriege aller gegen alle stattfinden. Kriege zu verhindern, war freilich auch weder das Ziel noch der Sinn des europäischen Gleichgewichtssystems. Es war vielmehr ein System von Macht und Gegenmacht, wodurch die Großmächte sich wechselseitig beschränkten, um die Hegemonie einer Großmacht auf dem europäischen Kontinent zu verhindern2

Die seit dem 16. Jahrhundert entstandene europäische Staatenwelt war eine Staatenordnung der Souveräne (der europäischen Fürstenhäuser) – ein im kulturellen, religiösen und vor allem verfassungsrechtlichen Sinne homogen bestehender Staatenverbund und nicht das Weltordnungssystem der räumlich, kulturell, politisch und rechtlich zusammenhanglos nebeneinander existierenden 

„souveränen“ und „gleichberechtigten“ Staaten der Gegenwart. 

Der Wiener Kongress von 1814/15 hat die verfassungsrechtliche Homogenität der europäischen Staatenwelt restauriert und den Staatenverbund der europäischen Souveräne fortgeführt, der das „lange 

19. Jahrhundert“ praktisch bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hindurch hielt. 

Dieser Staatenverbund der europäischen Souveräne, dem das europäische Völkerrecht und nicht das universalistische Normsystem des UN-Rechts zugrunde lag, unterscheidet sich geopolitisch fundamental von dem heutigen Weltordnungssystem der souveränen Staaten. 

Das Zeitalter des „Europäischen Mächtekonzerts“ zeichnete sich durch eine Großmächtekonstellation aus, der die Machtbalance in Europa und die Hegemonie im globalen Raum gleichermaßen zugrunde lag. Bestand das Gleichgewicht der europäischen Großmächte auf dem europäischen Kontinent dergestalt, dass es jede territoriale Veränderung in Europa ausschloss, so bildeten die europäischen Groß- und Kolonialmächte global ein geopolitisches Machtkartell zwecks einer gemeinsamen Beherrschung, Unterwerfung und Domestizierung des unter sich verteilten globalen Raumes, wobei das British Empire Primus inter Pares war. 

„Gleichgewicht zu Lande, Hegemonie zur See“, bezeichnete Michael Stürmer deswegen diese vom British Empire dominierte Weltordnung des 19. Jahrhunderts. 

„Wenn dies ein Widerspruch war – Gleichgewicht zu Lande, Hegemonie zu See“, meinte Stürmer verlegen -, „so lag darin doch die Voraussetzung der europäischen Stabilität, Ausdruck der British interests und Leitmotiv der großen Kämpfe der Epoche“3 zugrunde. 

Das war aber auch kein Widerspruch. Denn nur so konnte offenbar die Machtbalance in Europa durch die Eroberungsfeldzüge der europäischen Großmächte außerhalb des europäischen Kontinents aufrechterhalten werden. Vor diesem Hintergrund müssen wir im Grund genommen von einer hegemonialen Machtgleichgewichtsordnung des 19. Jahrhunderts sprechen. 

Denn weder Gleichgewicht noch Hegemonie gab es in Reinkultur unter der Herrschaft des 

„Europäischen Mächtekonzerts“ im Zeitalter der Machtstaatpolitik. „Es ging um Sicherheit durch Gleichgewicht und stillschweigende englische Hegemonie, nicht um eine allgemeine Theorie des Friedens oder, wie Kissinger das ganze zusammengefasst hat: >Ein Krieg gegen Eroberungen, nicht gegen eine Revolution.“4 

Es ging, anderes formuliert, um eine geo- und sicherheitspolitische Machtbalance der europäischen Großmächte in Europa und deren Hegemonie über den Rest der Welt. 

Die Versailler Friedensordnung konnte diese geo- und sicherheitspolitische Konstruktion des 

„Europäischen Mächtekonzerts“ nach dem Ende des Ersten Weltkrieges aus bekannten Gründen nicht mehr wiederherstellen und mit der Entstehung der bipolaren Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war von der europäischen Gleichgewichtstradition erst recht keine Rede mehr. 

An Stelle des geopolitischen Machtkartells der europäischen Groß- und Kolonialmächte trat nach den zwei verheerenden Weltkriegen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zum einen eine verfassungsrechtlich heterogene nebeneinander bestehende Staatenwelt des UN-Völkerrechts und zum anderen eine bipolare Weltordnung der mit- und gegeneinander agierenden Supermächte. Das ganze Staaten- bzw. Weltordnungssystem der Nachkriegszeit war unter den Bedingungen der Bipolarität seiner Natur nach dysfunktional und hatte auf Dauer kein Bestand. 

Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat nicht nur die bipolare Weltordnung des „Kalten Krieges“ unter sich begraben, sondern auch kein Machtgleichgewichtsystem weder in Europa noch in der Welt schaffen können. An Stelle der Bipolarität trat eine unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen und an Stelle des „Gleichgewichts des Schreckens“ das Machtungleichgewicht, das die Sicherheitsarchitektur auf dem europäischen Kontinent bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine prägte.5 Was wir also seit dem Ende des „Kalten Krieges“ beobachten, ist ein Novum in der Geschichte der europäischen und globalen Staatenwelt, nämlich die Herausbildung einer europäischen Sicherheits- und Friedensordnung, die man mit der Formel zusammenfassen könnte: US-Hegemonie zu Lande und zur See. Es entstand mit anderen Worten ein hegemoniales Machtungleichgewicht bzw. eine hegemoniale 

Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen und globalen Sicherheitsarchitektur. 

Diese hegemoniale Dysbalance ergab sich daraus, dass sich die USA nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als gesamteuropäische und weltweite Ordnungsmacht etablierten und zur Hegemonialmacht zu Lande und zur See in Europa und in der Welt aufgestiegen sind. 

Im Gegensatz zu den USA war das British Empire des 19. Jahrhunderts nicht an der Beherrschung des europäischen Kontinents zu Lande interessiert. „Großbritanniens Hegemonie war von jener Art, die sich mit dem Gleichgewicht des Kontinents vertrug, ja es voraussetzte,“6 wohingegen die US-Hegemonie von jener Art ist, die sich „mit dem Gleichgewicht des Kontinents“ nicht verträgt und eine hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent zur Voraussetzung hat. 

Dieses gesamte seit dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene US-Hegemonialgebäude geriet mit der Irakinvasion (2003), dem nicht enden wollenden Afghanistankrieg und den anderen US- Interventionen global ins Schwanken. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat diese Entwicklung nun auch den europäischen Kontinent erreicht. 

Denn Russland schickt sich nun an, die USA als die europäische Ordnungsmacht in Europa mit seiner Ukraineinvasion zu konterkarieren. Vor diesem Hintergrund entsteht entgegen aller Beteuerungen von Brooks/Wohlforth eine neue globale Groß- und Mittelmächtekonstellation, die eine Vielzahl von souverän agierenden Machtzentren umfasst und bereits kraft ihrer bloßen Existenz die unipolare Weltordnung unter Führung der USA disponibel macht. 

Diese sich formierende globale Großmächtekonstellation ist nämlich von der Art, dass sie als Momentaufnahme nicht ohne weiteres auf einen Nenner unipolar/multipolar gebracht werden kann. Befindet sich die unipolare Weltordnung seit dem Irakkrieg allmählich auf dem Rückzug und hat deren Erosionsprozess mit dem Rückzug aus Afghanistan 2021 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht, so steht das Ergebnis des Proxy-Krieges zwischen den USA und Russland auf ukrainischen Boden noch nicht fest. 

Findet ein zunehmender Prozess der Emanzipation einer Reihe von Groß- und Mittelmächten, allen voran Russland und China, aber auch Indien, Türkei oder Iran und Saudi-Arabien – dergestalt statt, dass sie sich nicht mehr vom US-Hegemon abhängig machen wollen, so verbleibt die EU nach wie vor der geo- und sicherheitspolitischen Logik des „Kalten Krieges“ verhaftet, immer noch der US-Geostrategie ausgeliefert und ohne jedweden Ehrgeiz, unabhängig vom US-Hegemon ein Subjekt der Geopolitik werden zu wollen, um eine eigenständige souveräne Geopolitik führen zu können. 

Der Prozess einer geopolitischen Emanzipation ist aber ein Prozess der Verselbstständigung bzw. Souveränisierung des eigenen geopolitischen Machwillens. Im Gegensatz zu den EU-Europäern ist der sog. „Globale Süden“ bzw. Nichtwesten mittlerweile dazu bereit und fähig. Der Grund besteht eben in der sich neu ausbildenden Großmächtekonstellation, der weder Hegemonie noch hegemoniale Dysbalance, sondern eine posthegemoniale Machtbalance zugrunde liegt. 

Wir haben heute eine geo- und sicherheitspolitisch gespaltene Welt, in welcher die noch bestehende hegemoniale Dysbalance (in Europa) und die posthegemoniale Machtbalance (im globalen Raum) die zwei systembildenden Strukturen der globalen Sicherheits- und Friedensordnung sind, in deren Zentrum drei rivalisierende, bis an die Zähne bewaffnete Groß- und Supermächte stehen: die USA, China und Russland. 

Diese geopolitische Komplexität des bestehenden Weltordnungssystems macht eine Reduktion der Analyse der weltpolitischen Entwicklungen allein auf das Gegensatzpaar Unipolarität/Multipolarität unbefriedigend. Sollte Russland das Machtgleichgewicht in Europa in welcher Form auch immer wiederherstellen, werden die USA ihre Hegemonialstellung in Europa verlieren. 

Die geoökonomischen und geopolitischen Rahmenbedingungen im globalen Raum haben sich wiederum schon jetzt dergestalt verändert, dass die USA nicht mehr die unumstrittene und unangefochtene ökonomische und militärische Übermacht sind. Mit China und Russland hat der US- Hegemon eine mächtige ökonomische und militärische Konkurrenz bekommen.7 

Immerhin räumt die Studie mit ihrer Unterscheidung zwischen einer „partiellen Unipolarität“ (partial unipolarity) und einer „totalen Unipolarität“ (total unipolarity) ein, dass die USA zumindest teilweise an ihrer Weltmachtstellung eingebüßt haben, und bestätigt damit verklausuliert doch noch einen Erosionsprozess der unipolaren Welt. 

Anmerkungen 

  1. Vgl. Hondrich, K. O., Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“, NZZ 22.03.2003, S. 50. Näheres dazu Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  2. Vgl. Link, W., Die europäische Neuordnung und das Machtgleichgewicht, in: Thomas Jäger/Melanie Piepenschneider (Hrsg.), Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklungen. Opladen 1997, 9-31 (11). 
  3. Stürmer, M., Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte. München 2001, 24. 
  4. Zitiert nach Stürmer (wie Anm. 3), 27. 
  5. Vgl. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und Morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  6. Stürmer (wie Anm. 3), 35. 
  7. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands geopolitisches Weltbild. Aleksej Puškovs Analyse der US- Außenpolitik. Mai 2023, www.ontopraxiologie.de. 
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