Verlag OntoPrax Berlin

„Postimperiales Imperium“? 

Die paradoxe These von Timothy Garton Ash 

Übersicht 

  1. Die EU und die postimperiale Hegemonie 
  2. Die Dreierbeziehung: Russland, die USA und die EU 

Anmerkungen 

„Imperialismus ist nicht Reichsgründung, und 
Expansion ist nicht Eroberung.“ 
(Hannah Arendt)1 

  1. Die EU und die postimperiale Hegemonie 

Vor dem Hintergrund des tobenden Ukrainekrieges veröffentlichte der britische Historiker, Timothy Garton Ash, der dem deutschen Publikum mit seinen historischen Werken ebenso, wie mit zahlreichen Interviews und Artikel in den deutschen Printmedien bekannt ist, eine Studie unter dem bezeichnenden Titel „Postimperial Empire“ in „Foreign Affairs“ am 18. April 2023. 

Mit dem Titel, den er selber als „paradox“ bezeichnete, nahm Ash bereits die Kernthese seiner Studie vorweg, die da lautet: Damit die EU ihre „postimperiale Zukunft“ (postimperial future) sichere, indem sie „die russische Aggression“ (Russian aggression) abwehre, müsse sie selber „Empire“ werden. 

Der Kernthese legte er zwei Axiome zugrunde, die keines Beweises bedürfen: 

  • Putin versuche das Russische Imperium durch „die Rekolonisierung der Ukraine“ (recolonizing Ukraine) wiederherzustellen. 
  • Putins Rekolonisierungsversuch habe „die Tür zu einem postimperialen Europa“ (the door to a postimperial Europe) geöffnet. 

Damit die EU ihre „postimperiale Zukunft“ im „postimperialen Europa“ sichern kann, müsse sie selber 

„Imperium“ werden. Wie soll nun das Postimperium ein „Imperium“ werden? Und wie ist dieses Oxymoron überhaupt zu deuten? Steckt dahinter mehr als nur äquivoke Wortspielerei? Um diesen begrifflichen Wirrwarr zu entwirren, muss die Studie näher untersucht und unter die Lupe genommen werden. 

Drei Bedingungen sind nach Ash zu erfüllen, soll die EU ein „postimperiales Empire“ werden: Sie müsse „geeint“ (unity), von einer „zentralen Autorität“ (central authority) geleitet und eine „effektive Entscheidungsfindung“ (effective decision-making) haben. Dieser rein funktional umschriebene 

„Empire“-Begriff sagt nichts substanziell darüber aus, wie ein „postimperiales Europa“ imperial werden soll, zumal die Zeiten, in denen die europäischen Großmächte Kolonialreiche errichteten und die Welt beherrschten, längst vorbei und nicht mehr reanimierbar sind. 

Die drei genannten Kriterien kann prinzipiell jedes staatlich organisierte Machtgebilde erfüllen, ohne dabei „Empire“ zu sein bzw. werden zu wollen. Betrachtet man freilich die EU als ein Teil des Ganzen, nämlich als Teil des transatlantischen Machtkartells – sozusagen ein erweitertes Europa unter der Führung der USA als der europäischen Ordnungsmacht -, so macht auch dieses so verstandene Machtgebilde keineswegs ein „Empire“ aus. 

Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts errichte der Westen eine transatlantische Hegemonialordnung in Europa und im globalen Raum, die man gewöhnlich eine „unipolare Weltordnung“ unter der Führung des US-Hegemonen zu bezeichnen pflegt. Will Ash allerdings unter Europas „postimperial Empire“ Macrons „strategische Autonomie“2 verstanden wissen, so ist ein solches „Imperium“ nichts weiter als eine Fata Morgana, die keine Chance auf Realisierung hat, solange die USA die europäische Ordnungsmacht bleiben. 

Nur als ein integrierter Bestandteil der transatlantischen Hegemonie, die vom US-Hegemon geo- und sicherheitspolitisch angeführt wird, kann sich die EU nach außen – falls überhaupt – behaupten. 

Die von Ash genannten drei Bedingungen charakterisieren nicht so sehr eine künftige EU als 

„postimperiales Imperium“ als vielmehr ein Ist-Zustand der transatlantischen Gemeinschaft, die vom US-Hegemon als der „zentralen Autorität“ (central authority) geo- und sicherheitspolitisch „geeint“ (unity) und entscheidungsfähig angeführt wird. 

Was die beiden Teile dieses transatlantischen Machtkartells in seiner geo- und sicherheitspolitischen Zielsetzung eint und antreibt, ist die unbändige Expansionspolitik. Die transatlantische Expansion fand nach dem Ende des „Kalten Krieges“ in doppelter Art und Weise als EU- und als Nato-Osterweiterung statt, mit der Ambition im ganz Eurasien expandieren zu wollen. Das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. 

Es gab freilich nur ein „einziges“ Problem und dieses Problem heißt Russland. Russland stand und steht heute vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts erst recht dieser transatlantischen Expansionspolitik im Wege. Die seit dem Ende des „Kalten Krieges“ fortdauernde westliche Expansion gen Osten ist im Grunde nichts anderes als die Neuauflage bzw. Reanimierung des „altehrwürdigen“ europäischen Imperialismus unter anderen Vorzeichen. 

Der aus dem Kolonialismus hervorgegangene Imperialismus der europäischen Großmächte setzte ihre Kolonialpolitik mit „der Expansion um der Expansion willen“ fort. Diese weltweite Expansionspolitik unterschied sich von den innereuropäischen Eroberungskriegen ebenso wie „von dem klassischen Aufbau eines Imperiums“.3 

Expansion war seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das neue Prinzip des „europäischen Jahrhunderts,“4 in dessen Namen sich „die europäische Zivilisation“ über die ganze Welt ausgedehnt hat. Allein der britische Kolonialbesitz hat sich „in zwanzig Jahren um 41/2 Millionen Quadratmeilen mit 66 Millionen Einwohnern, der französische um 31/2 Millionen mit 26 Millionen Eingeborenen, der deutsche um eine Million Quadratmeilen und 13 Millionen Menschen und der belgische König höchst persönlich um 900 000 Quadratmeilen Landes und etwa 8 Millionen Untertanen vergrößert.“5 

Getreu dem bekannten Spruch von Cecil Rhodes: „Expansion is everything. I would annex the planets if I could“ feierten die europäischen Groß- und Kolonialmächte ihren Siegeszug über die ganze Welt bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges. So wie die Expansion des europäischen Imperialismus mit dem Kriegsausbruch 1914 ihr Ende fand, so scheint die EU- und Nato-Osterweiterung mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ihre Grenze erreicht zu haben. 

Die transatlantische Expansionspolitik war der zentrale Stolperstein der gesamteuropäischen Sicherheits- und Friedensordnung. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch die dreißig Jahre andauernden Spannungen zwischen dem russischen Rumpfimperium und dem Westen nach dem Ende des „Kalten Krieges“. 

Das Ziel der US-Geostrategie war die Ausdehnung der US-Machtprojektion auf ganz Eurasien und zugleich Russlands sicherheitspolitische Neutralisierung auf dem europäischen Kontinent. Dabei stellte sich sehr bald heraus, dass zwar das geschwächte Russland der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre der Nato-Osterweiterung kaum etwas entgegensetzen konnte. Kraft des immer noch reichlich vorhandenen Nuklearpotentials und der Modernisierung der eigenen Streitkräfte in den vergangenen fünfzehn Jahren (seit 2008) konnte es aber militär- und sicherheitspolitisch nicht ohne weiteres neutralisiert und schon gar nicht aus der Ukraine verdrängt werden. 

Die transatlantische Expansionspolitik bedeutet dabei weder eine territoriale Annexion der 

„eroberten“ Gebiete noch eine Assimilation der „beherrschten“ Völker. Sie ist einer viel subtileren Natur. Denn Ziel der Expansion ist weder Annexion noch Unterwerfung, sondern eine ökonomische, ideologische und machtpolitische Domestizierung der unter ihre Kontrolle und ihren Einfluss gebrachten Territorien bzw. Machträume. 

Die EU kann aus zweierlei Gründen weder ein Imperium gründen noch ein „Empire“ werden. Zum einen kann sie geo- und sicherheitspolitisch ohne den US-Hegemon keine Machtprojektion entfalten. Zum anderen ist das EU-Verfassungsverständnis seiner Natur nach antiimperial, weil die EU auf einer supranationalen Vereinigung der nationalstaatlich verfassten Gesellschaften beruht, deren Verfassungsverständnis sich ihrerseits auf die Nation als eine historische Einheit von Territorium, Volk und Staat gründet. 

Im Falle der Annexion der eroberten Gebiete wird aber dieses Verfassungsverständnis dahingehend nivelliert, dass dem besetzten Land eine fremde Verfassungskultur aufoktroyiert wird, die im krassen Gegensatz  zu  den  historisch-gewachsenen  Lebens-  und  Machtstrukturen  der  unterworfenen 

Bevölkerung steht und von dieser nicht kraft eigenen Volkswillens bestimmt wird, wodurch die historische Einheit von Territorium, Volk und Macht gesprengt wird. In diesem Falle besteht „stets die Gefahr der Tyrranis“.6 

Es ist im Übrigen auch der wesentliche Grund dafür, warum die US-Interventionen im Irak und in Afghanistan kläglich gescheitert sind. Weder die EU noch die transatlantische Hegemonialordnung kann darum Imperium sein oder werden. 

Statt einem Imperium entsteht vielmehr nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine „liberal“ verklärte postimperiale Hegemonie, die im Gegensatz zum Empire eben nicht nach Annexion bzw. einer territorialen Gebietsabtrennung, trachtet, um es in ihr Staatsgebiet einzugliedern bzw. ihrer Raumhoheit zu unterstellen. Die unter ihre Kontrolle gebrachten fremden Machträume werden vielmehr domestiziert. Der territoriale Status der domestizierten Machträume wird freilich nicht dahingehend verändert, dass diese Räume ein völkerrechtlich unteilbarer Bestandteil des domestizierenden Hegemonen werden. Sie werden entweder in die vom US-Hegemon geo- und sicherheitspolitisch gelenkten EU- und Nato- Einrichtungen eingegliedert oder von außen mittels monetärer, ökonomischer und/oder ideologischer 

Beeinflussung gelenkt. 

Das bedeutet aber, dass die äußere territoriale Souveränität des domestizierten Machtraumes zwar unangetastet bleibt, die innere sozio-ökonomische, machtpolitische und ideologische Ausformung dieser äußeren Souveränität durch die geoökonomischen und geopolitischen Machtinteressen des kontrollierenden Hegemonen maßgeblich geprägt und definiert wird. Genau das ist im Falle der Ukraine geschehen. 

Die Folge dieser inneren ukrainischen Souveränitätsaushöhlung war, dass nicht nur die sozio- ökonomischen Strukturen, sondern auch das mentale, kulturelle und selbst historische Bewusstsein der Bevölkerung verändert werden7. Der lenkende US-Hegemon hat hier jederzeit das Recht aus welchen Gründen auch immer in die innen- und außenpolitischen Entscheidungsprozesse eingreifen bzw. intervenieren zu können. Sein Interventionsrecht wird durch die diplomatische, militärische und ökonomische Hilfeleistung legitimiert. 

Das ist eine moderne Art der postimperialen Hegemonie, die es dem US-Hegemon ermöglicht, die Vormachtstellung in der Welt (noch) global wie regional zu sichern und/oder auszubauen. Sie bedarf keines Imperiums, wohl aber eines Interventionsrechts, keiner Annexion, wohl aber einer nie enden wollenden Expansion zwecks Sicherung und Absicherung der eigenen immer und immer wieder zu verteidigenden geoökonomischen und geopolitischen Machtinteressen. 

Ein Machtraum, dessen Handlungs- und Entscheidungsfreiheit dem Interventionsrecht einer Hegemonialmacht unterliegt, ist „etwas anderes als ein Staat, dessen territoriale Souveränität darin besteht, kraft eigener souveräner Dezision … frei zu entscheden“8 bzw. über den eigenen Machtwillen zu verfügen. Darum kann die EU genauso wenig ein „postimperiales Imperium“ werden, wie die Ukraine ein kraft eigener souveräner Dezision bestehendes Staatsgebilde sein, solange die beiden Machträume vom US-Hegemon geo- und sicherheitspolitisch domestiziert werden. 

Von der Idee fixe einer imperialen EU besessen, unternimmt Ash dessen ungeachtet alle möglichen Definitionsversuche, um die EU doch noch in ein künftiges imperiales Korsett zu pressen. Zwar stimmt er der Auffassung zu, dass die EU insofern „kein Imperium“ (not an empire) sei, weil „Empire“ im Gegensatz zur EU eine „direkte Kontrolle über das Territorium anderer Völker durch einen einzelnen Kolonialstaat“ (direct control over other people’s territory by a single colonial state) bedeutet. 

Mit Verweis auf einen Yale-Historiker, Arne Westad, stellt Ash aber zugleich klar, dass diese 

„Empire“-Definition viel zu eng gefasst ist. Wenn eines der bestimmenden Merkmale des Imperiums 

„die supranationale Autorität, Recht und Macht“ (supranational authority, law, and power) sei, dann habe die EU laut Ash „bereits einige wichtige Merkmale des Imperiums“. Und zur Bestätigung seiner These von der EU als „Empire“ verweist er auf das Werk von Anu Bradford unter dem (wie er selbst zugibt) „aufschlussreichen, wenn auch etwas übertriebenen“ Untertitel „Wie die Europäische Union die Welt regiert“ (How the European Union Rules the World). 

Ash unterliegt hier einem Missverständnis. Die nach dem Ende des „Kalten Krieges“ um die ostmitteleuropäischen Staaten erweiterte EU ist und wird kein „postimperiales Imperium“. Die EU ist ein supranationales europäisches Einigungs- und Integrationsprojekt, das unter dem militärischen Schutzschirm der USA stattgefunden hat. 

Mit einer weitgehenden militärischen, politischen und ökonomischen Westintegration der ehem. sowjetischen Satellitenstaaten in die Nato- und EU-Strukturen fand zugleich deren geo- und 

sicherheitspolitischer Souveränitätsverzicht bzw. die Souveränitätsübertragung auf die supranationalen europäischen Institutionen statt. 

Die von Ash angesprochene „supranationale Autorität“ der EU ist darum allein einer innereuropäischen Natur, die keine welt- bzw. geopolitische Bedeutung beanspruchen kann9. Man sollte vielmehr diese Entwicklung nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung mit Werner Link als „die Fortsetzung der europäischen Integration und ihre geographische Ausdehnung nach Osten“ sowie „als Versicherung gegen die Wiederkehr der Geschichte“ ansehen und innereuropäisch „als Gegentypus zu Hegemonie und Gleichgewicht“ charakterisieren.10 

Folgt man dieser Deutung von der EU seitens Werner Link, so ist diese weder ein Imperium noch eine Hegemonie, sondern ein integrierter west- und ostmitteleuropäischer Teil der gesamten transatlantischen Hegemonialordnung, die unter der geo- und sicherheitspolitischen Ägide des US-Hegemonen steht. Nicht mehr, aber auch nicht weniger! Ob diese EU-Konstruktion von Dauer bleiben wird, ist freilich eine ganz andere Frage. 

  1. Die Dreierbeziehung: Russland, die USA und die EU 

Stiftet Ashs äquivoker Begriffsgebrauch mehr Verwirrung als Klarheit, so reiht sich seine Darstellung der Ursachen und Ziele der russischen Ukraineinvasion entweder in die übliche mediale Kriegspropaganda ein oder sie entspricht nichtssagenden Allgemeinplätzen. Moskau bemühe sich die Kontrolle über die einigen verlorenen Kolonialgebiete wiederzuerlangen und dränge „in Richtung der neuen Ostgrenzen des Westens“, beteuert Ash und fügt gleich hinzu: „Jeder, der die Geschichte der Imperien studiert hat, hätte wissen müssen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht das Ende der Geschichte sein würde. Imperien geben in der Regel nicht kampflos auf …“. 

Dieser pauschale Verweis auf „die Geschichte der Imperien“ sagt nichts über die Vorgeschichte und Hintergründe des Ukrainekonflikts aus. Mit derartigen Auslassungen befindet sich Ash zwar in guter Gesellschaft und stimmt voll und ganz mit den westlichen Mainstream-Medien überein, ignoriert aber wie diese nicht nur einen brutal und gnadenlos stattgefundenen Transformationsprozess im postsowjetischen Raum, sondern verkennt auch vollkommen die geo- und sicherheitspolitischen Intensionen der russischen Außenpolitik im Allgemeinen und der russischen Ukrainepolitik im Besonderen, von der US-Russlandpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte ganz zu schweigen. 

Das hängt damit zusammen, dass Ash im Schlepptau der westlichen Mainstream-Propaganda Russland neoimperiale und neokoloniale Ambitionen unterstellt. Wie das gesamte westliche außenpolitische Establishment ignoriert auch er dreierlei: 

  1. die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen dem postsowjetischen Russland und dem Westen in den vergangenen dreißig Jahren; 
  1. die EU- und Nato-Expansionspolitik und 
  1. die Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 

Diese drei komplexen Konfliktebenen werden einfach ausgeblendet und auf eine propagandistische Schlagzeile reduziert: Russland sei „unprovoziert“ in die Ukraine einmarschiert. „Unprovoziert“? Die Ignorierung der komplexen, miteinander zusammenhängenden und voneinander untrennbaren Sachverhalte führt letztlich dazu, dass Ash auf die selbstgestellte Frage: „Wie geht es weiter mit Russland“ (What about Russia?) während seiner ganzen Studie keine brauchbare Antwort gefunden hat. Das Einzige, was ihm einfiel, ist eine hilflose Feststellung: Es sei schwierig, die Frage zu beantworten, ohne zu wissen, wie ein Russland nach Putin aussehen werde (It is difficult to address the … question without knowing what a post-Putin Russia will look like). 

Nun ja, wenn man nicht weiß, wie Russland vor Putin aussah und mit Putin aussieht, wie will man denn wissen, wie das Land nach Putin aussehen würde? Und so bleibt Ash nichts anderes übrig, als am Ende seiner Studie eine – wie er es nennt – „überraschende Perspektive“ (the surprising prospect) zu verkünden, welche der Ukrainekrieg angeblich offenbare: „die EU als postimperiales Imperium in strategischer Partnerschaft mit einem amerikanischen postimperialen Imperium, um das Comeback eines untergehenden russischen Imperiums zu verhindern und ein aufstrebendes chinesisches (Imperium) einzudämmen (the EU as a postimperial empire, in strategic partnership with an American 

postimperial empire, to prevent the comeback of a declining Russian empire and constrain a rising Chinese one). 

Diese Wortspielerei bestätigt nur Ashs Fehleinschätzung des innerwestlichen Charakters der transatlantischen Machtbeziehungen ebenso wie seine Unkenntnis der russischen Außen- und Geopolitik sowie der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in den vergangenen drei Jahrzehnten. 

Denn die EU und die USA sind weder ein „postimperiales Imperium“ noch besteht eine „strategische Partnerschaft“ zwischen zwei gleichen Partnern. Vielmehr herrscht in der transatlantischen Allianz ein Vasallitätsverhältnis zwischen den EU-Europäern und dem US-Hegemon. 

Wie der European Council on Foreign Relations (ECFR) in seiner jüngsten Analyse zu Recht konstatiert, hat der Ukrainekrieg die US-Dominanz gegenüber der EU schlagartig vergrößert. Alle 

„strategischen Entscheidungen“, so heißt es in der ECFR-Analyse, würden gleichfalls „in Washington getroffen“. Da die EU militärisch ebenso, wie geo- und sicherheitspolitisch, vom US-Hegemon völlig abhängig sei, fehle ihr jegliche „strategische Autonomie“. Zu Recht diagnostiziert der ECFR folgerichtig eine zunehmende „Vasallisierung Europas“.11 

„Die Frage der Vasallität und der Hegemonie“ – merkte Lothar Ruehl (ehem. Staatssekretär im Bundesministerium der Verteidigung, 1982-1989) einst an – ist „mit der Allianz unlöslich verbunden, sobald es sich nicht um ein Bündnis zwischen vollkommen Gleichen handelt“.12 Und was die Verhinderung des sog. „Comebacks eines untergehenden russischen Imperiums“ angeht, so wurde dieser „Untergang“ ausgerechnet mit der russischen Ukraineinvasion gestoppt. Diese hat nämlich nicht so sehr den Untergang des „russischen Imperiums“ eingeleitet, als vielmehr das Ende des postsowjetischen Russlands besiegelt. 

Die in der westlichen Öffentlichkeit oft zuhörende Behauptung: Russland betreibe mit seiner Ukraineinvasion eine neoimperiale Revision der nach dem Ende des „Kalten Krieges“ neu entstandenen europäischen Staatenwelt, bezeugt entweder eine bösartige Verfälschung der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts oder blendet bewusst die langandauernden Spannungen zwischen Russland und den USA als Folge der seit der Mitte der 1990er- Jahre eingeleiteten Nato-Expansionspolitik gen Osten aus, welche die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands und dessen Warnungen komplett ignorierte. 

Russlands Außenpolitik war und ist immer auch Welt- und Geopolitik. Sie geht über den europäischen Horizont weit hinaus. Zu provinziell erscheint Russland heute Europa aus geo- und weltpolitischer Sicht. Russland, das sich über die gigantische eurasische Festlandmasse von Europa bis zum Fernen Osten, von der Arktis bis Mittel- und Ostasien erstreckt, hat einen ganz anderen geostrategischen Blick auf die Welt als Europa und ganz andere geopolitischen Interessen als die Europäische Union. 

Das bemerkenswerte Charakteristikum der russischen Geschichte bestehe nach Auffassung des ehem. Direktors des Carnegie Moscow Center, Dmitrij Trenin, darin, dass jede neue Etappe der russischen Staatlichkeit zwar die vorangegangene in vielerlei Hinsicht negiert, sie bleibt aber dessen ungeachtet der russischen Herrschaftstradition verhaftet, sodass der (radikale) Wandel (сменяемость) und zugleich die Kontinuität (преемсвеннсть) der russischen Staatlichkeit zwei Konstanten der russischen Geschichte sind und bleiben. 

Eine andere Besonderheit der russischen Geschichte sei die Überlebensfähigkeit des russischen Volkes. Das dürfte wohl daran liegen – merkt Trenin an -, dass die russische Kultur verschiedene Ethnien, fremde Kulturen und Religionen zu absorbieren in der Lage sei und kraft der geographischen Lage des Landes, seiner „geokulturellen Identität“ (геокультурная идентичность) und nationalen Interessen dazu verdammt sei, Toleranz zu praktizieren.13 

Mit Bezug auf die imperiale Tradition Russlands stellt Trenin klar, dass es eine Illusion wäre, das Imperium in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen zu wollen. Allein wegen des grassierenden Nationalismus im postsowjetischen Raum wäre dieses Abenteuer unmöglich. Russland selber habe ja nicht nur aufgehört, ein Imperium zu sein, sondern befinde sich längst in einem postimperialen Zustand (постимперское состояние).14 

Diese von Trenin noch vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine 2021 geäußerte Überzeugung gilt zwar immer noch. Ergänzend zu Trenins Äußerung muss man aber hinzufügen, dass Russland von heute seinem Selbstverständnis nach auch nicht antiimperial ist. 

Geht man nun allein von der Zielsetzung der sog. „speziellen Militäroperation“ (SVO) in der Ukraine aus, die bereits längst in einen Proxy-Krieg zwischen Russland und den USA ausartete, so ging es der russischen Führung nach dem Scheitern des Minsker Abkommens15 nicht so sehr um die Annexion des ukrainischen Territoriums, als vielmehr um die Zerstörung der Ukraine als eines Anti-Russland-Projekts 

(die sog. „Entnazifizierung“) und die Beendigung der damit einhergehenden und nach wie vor ungebrochen bestehenden Nato-Expansion (die sog. „Entmilitarisierung“). 

Das anfänglich entstandene sicherheitspolitische Machtvakuum zwischen einem russischen Rumpfimperium und dem Westen wurde nach dem Ende des Ost-West-Konflikts peu à peu mit der Nato- Osterweiterung gefüllt. Diese legte wiederum mit der Entstehung einer hegemonialen Dysbalance16 in Europa die Grundlagen für die Fortsetzung des „Kalten Krieges“ unter anderen Vorzeichen. Eine Alternative zu einer anderen europäischen Sicherheits- und Friedensordnung konnte sich damit nicht mehr durchsetzen. 

Die Verdrängung Russlands aus Ostmitteleuropa war in gewissem Sinne eine Art Revanche für die frühere russische Expansion auf Kosten der europäischen Großmächte. Das kleiner gewordene Rumpfimperium, das seine Kontrolle selbst im unmittelbaren postsowjetischen Raum verloren hat, steht heute wie „ein Torso“ (Trenin) allein da. Russlands Geschichte sei nach Trenins Überzeugung (ebd., 40) 

„in seiner imperialen Variante endgültig zu Ende gegangen“. 

Die Russländische Föderation wurde ungeachtet dessen, was viele in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre gehofft und erwartet haben, nicht Teil des politischen Europas und in Asien hielt man Russland sowieso als nicht dazu gehörig. Russland sei, anders formuliert, weder Osten noch Westen, weder Europa noch Asien, weder Imperium noch Nichtimperium. Was ist Russland dann? 

Als „Globalen Norden“ (мировой Север) bezeichnet Trenin das heutige Russland. Wie auch immer, Russland reihe sich seiner Meinung nach in keine der geopolitischen „Makrokonstruktionen“ ein. Russland sei – geopolitisch betrachtet – eine selbständige, aber einsame Entität im globalen Raum. Es sei zwar infolge des Verlustes an Einfluss und der Verkleinerung seines gigantischen Staatsgebietes einsam geworden, das ermögliche ihm aber, sich von der erdrückenden Last der imperialen Verantwortung zu befreien, ohne freilich – sollte man hinzufügen – seiner „imperialen Tradition“ (Reinhard Wittram)17 abzuschwören. 

Diese „imperiale Tradition“, die (in den Worten von Reinhard Wittram gefasst) immer schon „den verschiedenen Nötigungen der Stunde folgte, gesättigt mit Tradition und frei bis zur Willkür,“18 könnte durchaus zurückkehren, sollte sie auch heute den „Nötigungen der Stunde“ folgen. An die Wand gedrückt, könnte Russland alle zur Verfügung stehenden Kräfte freisetzen und alles, was ihm im Wege steht, in den Abgrund reißen. 

Das transatlantische Machtkartell sollte darum seine Eskalationsdominanz nicht überreizen und bis auf die Spitze treiben. Es wird weder ihm noch Russland noch der Welt gut bekommen. Nicht die imperialen Phantasien eines Timothy Garton Ash, sondern die geostrategischen Verhandlungen zwischen Russland und den USA über einen sicherheitspolitischen Modus Vivendi auf dem europäischen Kontinent, wozu insbesondere die klare Absage der Nato an ihre „open door policy“ gehört, ist heute das Gebot der Stunde. 

Denn die wesentliche Ursache für den Kriegsausbruch in der Ukraine war die transatlantische Expansionspolitik und nicht Putins „Neoimperialismus“. Davor haben zahlreiche Russlandexperten bereits vor einem Vierteljahrhundert gewarnt.19 

Hätten sich die US-Geostrategen nicht von Brzezinskis „imperiale Geostrategie“20 leiten lassen und auf eine echte und nicht nur dem Namen nach bestehende „strategische Partnerschaft“ mit Russland eingelassen, so hätten die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen nach dem Ende des Ost- West-Konflikts anders aussehen können. 

Die seit dem Untergang des Sowjetreiches immer noch bestehenden geoökonomischen und geopolitischen Machtasymmetrien zwischen Russland und der transatlantischen Hegemonialordnung ließen aber eine solche gleichwertige und gleichberechtigte „Partnerschaft“ gar nicht zu. Zu sehr war der Westen vom Siegesrausch über den Systemrivalen im „Kalten Krieg“ ergriffen und dachte nicht einmal im Traum daran, irgendwelche Konzessionen an den in den 1990er-Jahren am Boden liegenden Rivalen machen zu müssen. Heute rächt sich diese kurzsichtige westliche Russlandpolitik umso mehr. 

Anmerkungen 

  1. Arendt, H., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1986, 228. 
  2. Näheres dazu Silnizki, M., Europas geopolitische Ohnmacht. Zum Problem der „strategischen Autonomie“ Europas. 17. April 2023, www.ontopraxiologie.de. 
  3. Vgl. Arendt (wie Anm. 1), 209. 
  4. Lüthy, H., Das europäische Jahrhundert, in: ders., In Gegenwart der Geschichte. Köln/Berlin 1967, 245-264.
  5. Zitiert nach Arendt (wie Anm. 1), 219. 
  6. Vgl. Arendt (wie Anm. 1), 221. 
  7. Näheres dazu Silnizki, M., Ist die Ukraine ein Failed State? Eine verfassungshistorische und geopolitische Betrachtung, 7. September 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  8. Schmitt, C., Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum. Köln 1950, 226. 
  9. Näheres dazu Silnizki, M., Europas geopolitische Ohnmacht. Zum Problem der „strategischen Autonomie“ Europas. 17. April 2023, www.ontopraxiologie.de. 
  10. Link, W., Deutschland im multipolaren Gleichgewicht der großen Mächte und Regionen, in: Die Neuordnung der Weltpolitik. Grundprobleme globaler Politik an der Schwelle zum 21. Jahrhunderts. 2. Aufl. München 1999. 
  11. Jeremy Shapiro, Jana Puglierin: The art of vassalisation: How Russia’s war on Ukraine has transformed transatlantic relations. European Council on Foreign Relations: Policy Brief. April 2023; siehe dazu auch Die Vasallisierung Europas“, german-foreign-policy.com. 11. Mai 2023. 
  12. Ruehl, L., Macht und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 99. 
  13. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021, 36 f. 
  14. Trenin (wie Anm. 13), 39. 
  15. Näheres dazu Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US- Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  16. Dazu Silnizki, M., Auf dem Weg zu einem posthegemonialen Zeitalter? Zur Krise der unipolaren Weltordnung. 1. November 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  17. Wittram, R., Tradition und Geschichte, in: des., Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses. Göttingen 1958, 95-110 (105). 
  18. Wittram (wie Anm. 15), 105. 
  19. Näheres dazu Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022, www.ontopraxiologie; Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7 Februar 2023, www.ontopraxiologie.de. 
  20. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US- amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de. 
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