Verlag OntoPrax Berlin

Geopolitisches Endgame oder „Diplomatic Endgame“?

Stellungnahme zu „The West Needs a New Strategy in Ukraine“

Übersicht

1. Putins Geopolitik und der Ukrainekonflikt
2. „Diplomatic Endgame“ und Bidens Russlandpolitik

Anmerkungen

„Störe Deinen Feind nie, wenn er gerade Fehler macht.“
(Napoleon Bonaparte)

1. Putins Geopolitik und der Ukrainekonflikt

Zwei namhaften außenpolitischen Vordenker des US-Establishments Richard Haass (Präsident des Council on Foreign Relations) und Charles Kupchan (Prof. f. intern. Beziehungen an der Georgetown University in Washington, D.C.) haben einen umfangreichen Artikel „The West Needs a New Strategy in Ukraine“ in Foreign Affairs am 13. April 2023 veröffentlicht. Darin schlagen sie einen Fahrplan vor, der vom „Schlachtfeld zum Verhandlungstisch“ führen sollte.

Der Vorschlag geht von der These aus, dass „der wahrscheinlichste Ausgang des Konflikts“ ein „blutiges Patt“ (bloody stalemate) sein werde. Ohne seine Prinzipien zu opfern, müsse der Westen darum „eine zweigleisige Strategie“ (two-pronged strategy) verfolgen, die auf einem militärischen Druck ebenso wie auf einer diplomatischen Lösung des Konflikts beruhe. Die Ukraine müsse Russland zunächst eine militärische Niederlage und derart schwere Verluste bei der künftigen Gegenoffensive zufügen, dass es keine andere Wahl habe, als sich auf eine diplomatische Lösung einzulassen.

Auf diese „doppelgleisige Strategie“ bauen die Autoren ihre „New Strategy“ zur Beendigung des Ukrainekonflikts. Dass eine solche Doppelstrategie nichts weiter als ein Sandkastenspiel sein könnte, schließen sie so gut wie aus. Offenbar befinden sie sich so sehr in einer vom Westen selbstgeschaffenen medialen Blase, dass sie eine virtuelle Welt für eine reale halten.

Dazu kommt die Überzeugung, dass für die Ukraine im schlimmsten Falle „eine militärische Pattsituation“ drohe. Und „da die Kosten des Krieges steigen und die Aussicht auf eine militärische Pattsituation droht, lohnt es sich, auf einen dauerhaften Waffenstillstand zu drängen, der einen erneuten Konflikt verhindern und … die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden schaffen könnte“.

Das Plädoyer für einen „dauerhaften Waffenstillstand“ zeigt

  • erstens, wie wenig die Autoren die Vorgeschichte des Konflikts verstanden haben;
  • zweitens weist der Glaube, dass dadurch ein erneuter Konflikt verhindert oder gar „die Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden“ geschaffen werden könnte, auf eine völlige Verkennung der geostrategischen Zielsetzung der russischen Außenpolitik hin.

Zu (1) : Die vergangenen dreißig Jahre spannungsgeladener Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bzw. den USA durchliefen zahlreiche Höhen und Tiefen, an deren Ende der Kriegsausbruch in der Ukraine steht. Der Ukrainekrieg beendete abrupt die postsowjetische Periode der russischen Geschichte. Sie wurde durch das nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums entstandene Machtun gleichgewicht in Europa gekennzeichnet, das die europäische Sicherheitsordnung zu Lasten Russlands und zu Gunsten des Westens maßgeblich geprägt hat.

Der Zusammenbruch der allianzmäßigen Bipolarität des „Kalten Krieges“ führte zu einer derart enormen Machtdisparität zu Gunsten der übermächtig gewordenen USA, dass sich jede sicherheitspolitische Kooperation mit Russland erübrigt hat, von einer möglichen militärischen Integration Russlands in die Nato-Sicherheitsstrukturen ganz zu schweigen, zumal eine solche Integration die US-Hegemonie eher gefährdet als gefördert hätte. Der Übermacht der USA stand keine Gegenmacht gegenüber, welche sie zu irgendwelchem Kompromiss bewegen oder gar zwingen konnte. Weder das ökonomisch und militärisch geschwächte Russland noch das selbstzufriedene, von Friedensdividenden und Wohlstand verwöhnte Europa konnte daran irgendetwas ändern.

Die ersten Risse in den Beziehungen zwischen Russland und den USA bahnten sich bereits um die Mitte der 1990er-Jahre an, als die Clinton-Administration die Nato-Osterweiterung plante, beschloss und dann gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch durchführte.

Mit der sog. „Maidan-Revolution“, der Eingliederung der Halbinsel Krim in die Russländische Föderation und dem ausgebrochenen Bürgerkrieg zwischen der ukrainischen Maidan-Regierung und der ostukrainischen Provinzen Donezk und Luhansk kam sodann ein weiterer Schub in der drastischen Verschlimmbesserung der russisch-amerikanischen Beziehungen hinzu.

Das Minsker Abkommen von 12. Februar 2015, das den Bürgerkrieg beenden sollte, hat den Konflikt um die Regionen Luhansk und Donezk weder beendet noch befriedet, sondern halbwegs eingefroren. Alle Bemühungen, den Konflikt in den nachfolgenden sieben Jahren 2015-2022 einvernehmlich zu lösen, scheiterten.

Die Implementierung des Minsker Abkommens ist nicht zuletzt deswegen gescheitert, weil die EU-Europäer – allen voran Deutschland und Frankreich als Mitunterzeichner des Minsker Abkommens – sich als unfähig und ohnmächtig erwiesen, dem US-Schutzpatron mit seiner Torpedierung der getroffenen und vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Minsker Vereinbarungen standzuhalten1. Die EU-Europäer sind von den USA auf dem eigenen Kontinent vorgeführt und entmachtet worden und bleiben bis auf weiteres nur Mitläufer und US-Befehlsempfänger in diesem blutig ausgetragenen Konflikt.

Deutschland und Frankreich und mit ihnen die gesamte EU stehen heute vor dem Scherbenhaufen ihrer Ukraine- und Russlandpolitik und die Leidtragenden ist vor allem die ukrainische Bevölkerung.

Die Minsker Vereinbarungen lagen nun mal nicht im geostrategischen Interesse der USA. Der Kriegsausbruch war darum weder „unprovoziert“ noch unvermeidbar. Die Biden-Administration hat ihn bewusst in Kauf genommen.

Putins letzter Versuch, mit seinen am 15. Dezember 2021 unterbreiteten Vorschlägen alle sicherheitspolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen ein für alle Mal am Verhandlungstisch zu lösen und einen sicherheitspolitischen Modus Vivendi in Europa zu finden, stießen auf Granit. In den Medien als „Ultimatum“ missdeutet, wurden diese Vorschläge von den USA und der Nato brüsk zurückgewiesen.

Als sich dann die Lage an der Demarkationslinie, welche die ukrainischen Bürgerkriegsparteien trennte, zuspitzte, weil die ukrainische Zentralregierung monatelang große militärischen Verbände zusammengezogen und ab dem 17. Februar 2023 mit massivem Bombardement der abtrünnigen Provinzen begonnen hat, entschloss sich die russische Führung zu der sog. „militärischen Spezialoperation“ (SVO), die immer mehr in einen Proxy-Krieg zwischen Russland und den USA bzw. der Nato ausartete.

Zu (2) : Die Verkennung der russischen Geostrategie führte immer schon zur westlichen bzw. US-amerikanischen Fehleinschätzung der russischen Außen- und Sicherheitspolitik.

Putins Außenpolitik folgt – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – der Tradition der russischen Geopolitik und tritt im Grunde in die Fußstapfen Stalins 2. Als „ein kontinental denkender Politiker“ ist Stalin in seiner geostrategischen Positionierung der traditionellen Moskauer Expansionspolitik treu geblieben und blickte nicht „sehr weit über die geographische Peripherie der Sowjetunion“ hinaus.3

Er beschränkte seine Geopolitik auf den eurasischen Kontinent und erwies sich dadurch als ein umsichtiger Stratege, der die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Sowjetstaates ökonomisch und machtpolitisch richtig einschätzte und nicht überschätzte. „Deswegen lehnte er auch nach 1945 alle Pläne der sowjetischen Marineleitung für ein ehrgeiziges Flottenbauprogramm zum Erwerb hochseefähiger Kampfschiffe für den weltweiten Einsatz oder den Aufbau strategischer Luftstreitkräfte interkontinentaler Reichweite in großem Umfang ab.“4

Mit der Konzentration aller Kräfte allein auf die Kernwaffenentwicklung und den Raketenbau hat Stalin an seiner Kontinentalmachtstrategie 5 bis zu seinem Ableben 1953 festgehalten. Putin ist zu dieser traditionellen, bis auf Stalin mitgetragenen Kontinentalmachtstrategie zurückgekehrt. Russland hat auch und gerade unter Putin der sowjetischen, seit Chruščov eingeleiteten Weltmachtstrategie , die eine nicht unerhebliche Rolle beim Untergang des Sowjetimperiums gespielt hat, abgeschworen und sie endgültig aufgegeben.

Der Ukrainekonflikt hat diese Strategie nur noch untermauert, was im Übrigen nichts mit einer Putin unterstellten Expansionspolitik bzw. seinem sog. „Neoimperialismus“ zu tun hat. Vielmehr ist die Ursache des Konflikts in der bereits von der Clinton-Administration in den 1990er-Jahren eingeleiteten Nato-Osterweiterungspolitik zu sehen, wovor George F. Kennan von Anfang an gewarnt hat.

Die Ukraine wäre als Nato-Mitglied für Russland eine geo- und sicherheitspolitische Katastrophe, da es eine „strategische Tiefe“ – „den Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ – verloren hätte, worauf die US-Denkfabrik Carnegie Endowment schon 2021 zu Recht hingewiesen hat.6

Russland zieht sich nunmehr vor dem Hintergrund des auf Dauer angelegten Sanktionskriegs und des momentan tobenden Proxy-Kriegs zwischen Russland und den USA bzw. der Nato-Allianz auf ukrainischem Boden in seine „Großmachtfestung“ zurück, sucht sich einerseits durch die immer enger werdenden ökonomischen und militärischen Beziehungen zu China abzusichern und versucht andererseits angesichts des feinseligen westlichen Umfeldes autark zu werden.

In Anbetracht dieser geo- und sicherheitspolitischen Gemengelage wäre ein „Waffenstillstand“ für Russland eine Falle, weil er den geo- und sicherheitspolitischen Status quo in Europa nicht nur zementiert, sondern die Eingliederung der Ukraine in die Nato-Strukturen auch unvermeidbar macht, wodurch die geo- und sicherheitspolitische Lage Russlands in ganz Eurasien noch mehr depraviert würde.

Das ist letztlich ein vergiftetes Angebot, das nicht nur Putins Kontinentalmachtstrategie konterkariert, sondern einen innenpolitischen Sprengstoff für Russland birgt. Dass der Waffenstillstand darüber hinaus für die Ukraine eine innenpolitische Zerreisprobe bedeuten und Selenskijs Regime gefährden würde, sei nur am Rande erwähnt.

2. „Diplomatic Endgame“ und Bidens Russlandpolitik

Nun plädieren die Autoren für eine US-Strategie der Eskalation zur Deeskalation und kritisieren zugleich die westliche Konfliktscheu. Denn „die westliche Politik“ sei zwischen den zwei Extremen gefangen: einem „katastrophalen Scheitern“ (catastrophic failure), bei dem die Ukraine von Russland geschluckt werde, und einem „katastrophalen Erfolg“ (catastrophic success), bei dem die Ukraine einen in die Enge getriebenen Putin zu einer nuklearen Eskalation verleiten könnte.

Diese Sorge sei aber völlig übertrieben, beschwichtigen Haass/Kupchan und sprechen verächtlich von der „Selbstabschreckung“ (deterring itself) des Westens. Die Eskalation zur Deeskalation könne vielmehr dazu dienen, Moskau an den Verhandlungstisch zu zwingen. Schließlich seien die russischen Streitkräfte „weitgehend erschöpft“, beteuern sie.

Auch Russlands nuklearer Angriff sei ihrer Meinung nach unwahrscheinlich, da dieser die Nato dazu bewegen würde, direkt in den Krieg einzutreten und russische Stellungen in der gesamten Ukraine zu dezimieren. Diese Kraftmeierei ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch erstaunlich, gehören Haass/Kupchan doch zu jener Generation, die den „Kalten Krieg“ hautnah erlebt und vom „Gleichgewicht des Schreckens“ schon mal gehört haben.

Die Biden-Administration tut freilich alles, um es bloß nicht auf eine nukleare Eskalation des Konflikts ankommen zu lassen, zumal eine nukleare Konfrontation überflüssig wäre, weil sie der geostrategischen Zielsetzung von Bidens Russlandpolitik zuwiderlaufen würde.

Denn das geostrategische Ziel der Biden-Administration war und ist nicht nur einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben, nicht nur einen noch engeren Zusammenhalt zwischen der EU und den USA in ihrem Kampf gegen „die russische Aggression“ zu gewährleisten und nicht nur Russland mit den schwersten monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen aller Zeiten zu belegen und dem geopolitischen Rivalen große Schaden zuzufügen, sondern auch und insbesondere eine Wiederholung des Afghanistan-Effekts.

Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 und der darauffolgende langjährige Afghanistankrieg haben mutmaßlich auch zum Untergang des Sowjetreiches beigetragen. Dass sich die Geschichte nicht ohne weiters wiederholt, bewahrheitet sich anscheinend auch in diesem Konflikt. Denn der Afghanistan-Effekt ist bis jetzt jedenfalls ausgeblieben.

Eine so verstandene geostrategische Zielsetzung bedeutet aber gleichzeitig, dass eine direkte US-Involvierung im Ukrainekonflikt für Biden zu keiner Zeit in Frage kam. Eine nukleare Eskalation liegt zudem weder im russischen noch im US-amerikanischen Interesse. Noch nicht ! Das kann sich aber sehr schnell ändern, sollten manche US-Hardliner auf die Idee kommen, ohne Rücksicht auf Verluste „Chicken Game“ spielen zu wollen.

Was die Autoren uns allerdings mit ihrer „doppelgleisigen Strategie“ tatsächlich offenbaren, ist nicht so sehr ihr Streben nach einer friedlichen bzw. diplomatischen Lösung des Konflikts, als vielmehr ein indirektes Eingeständnis des Scheiterns der Logik des Krieges7 im Ukrainekonflikt.

Der bisherige Kriegsverlauf in der Ukraine hat uns jedenfalls gezeigt, dass die von Biden-Administration ursprünglich verfolgten Ziele nur bedingt erfolgreich waren. Und es stellt sich heute heraus, dass sich die US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik verrechnete. Weder brach die russische Volkswirtschaft infolge der westlichen Sanktionen zusammen noch gelangt es den USA, einen Keil zwischen Russland und dem „Globalen Süden“ bzw. dem Nichtwesten zu treiben.

So stellte etwa Matias Spektor (Prof. f. Intern. Beziehungen und Gründer der School of International Relations an der FGV in São Paulo) gerade in seinem Beitrag „In Defense of the Fence Sitters.What the West Gets Wrong About Hedging“ für Foreign Affairs am 18. April 2023 fest: Während sich die Länder des Globalen Südens weigern, im Ukrainekrieg Partei zu ergreifen, könne der Westen nicht begreifen, warum das so sei. Von Indien bis Indonesien, von Brasilien bis zur Türkei, von Nigeria bis Südafrika, nehmen die Entwicklungsländer eine neutrale Stellung ein und warten ab, um sich alle Optionen offen zu halten, bis die geopolitische Großwetterlage geklärt sei.

Und der britische Ex-Außenminister (2007-2010), David Miliband , schreibt in seinem Beitrag „The World Beyond Ukraine“ für Foreign Affairs am 18. April 2023 ergänzend dazu: „Die Kluft zwischen dem Westen und dem Rest geht über das Recht und Unrecht des Krieges hinaus. Stattdessen ist es das Produkt tiefer Frustration, mehr noch: der Wut über das vom Westen geführte Missmanagement der Globalisierung seit dem Ende des Kalten Krieges.“

Der Westen bleibt, wie man sieht, mit seinem Sanktionskrieg gegen Russland allein unter sich. Das Ziel der Biden-Administration, Russland geoökonomisch und geopolitisch vollumfänglich zu isolieren, ist auf ganzer Linie gescheitert. Offenbar im vollen Bewusstsein dieses Scheiterns und vom Ukrainesieg doch nicht mehr so sicher, empfehlen Haass/Kupchan dem Westen die Unterstützung der Ukraine, die bis dato nach dem Motto: „so lange es dauert“ lief, zu revidieren.

„Die ukrainische Stärke und die Entschlossenheit des Westens haben“ – beteuern sie – „bereits Russlands Bemühungen, die Ukraine zu unterwerfen, abgewendet“, „Moskau eine entscheidende strategische Niederlage zugefügt“ und überhaupt den „anderen potenziellen Revisionisten gezeigt, dass das Streben nach territorialer Eroberung ein kostspieliges und ärgerliches Unterfangen sein kann.“

In einer erneuten völligen Verkennung der russischen Geopolitik erblicken Haass/Kupchan Russlands strategische Ziele in den „territorialen Eroberungen“ und begreifen folgerichtig das aktuelle Kriegsgeschehen in der Ukraine bereits jetzt als dessen „strategische Niederlage“.

Das RF-Strategiepapier vom 15. Dezember 2021 gibt das freilich nicht her. Darin forderte die russische Führung eine Neuordnung der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur und insbesondere das Ende der Nato-Expansionspolitik, sodass der Ukrainekonflikt lediglich ein Teilaspekt des gesamten russischen Forderungskatalogs war, von irgendwelchen „territorialen Eroberungen“ ganz zu schweigen.

Und was die „strategische Niederlage“ angeht, so tritt sie aus russischer Sicht erst dann ein, wenn statt einer Beendigung der Nato-Expansion und einer Neutralisierung der Ukraine als „Anti-Russland“ die Ukraine in die Nato-Allianz aufgenommen wird und Russland damit das Hauptziel des gesamten militärischen Abenteuers – die Wiederherstellung des Machtgleichgewichts in Europa – verfehlt.

Nun plädieren die Autoren in Anbetracht der von ihnen diagnostizierten militärischen Pattsituation für „ein diplomatisches Endspiel“ (a diplomatic endgame) und bestätigen damit eine sich abzeichnende Veränderung in der Wahrnehmung des Ukrainekonflikts, worauf auch der jüngste Artikel von Stephen M. Walt „Ukraine and Russia Need a Great-Power Peace Plan“ (Foreign Policy, 18. April 2023) hindeutet. Darin sinniert Walt darüber, „wie Washington und Peking den Krieg in Europa stoppen könnten“ (How Washington and Beijing could stop the war in Europe).

Was bedeutet dieser plötzliche Bewusstseinswandel eines Teils des US-Establishments? Ist Bidens Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik derart gescheitert, dass Walt über eine situative Allianz zwischen Washington und China betreffend des Ukrainekonflikts nachdenkt und Haass/Kupchan ein„diplomatic endgame“ vorschlagen?

Ihren „Waffenstillstand“-Vorschlag rechtfertigen Haass/Kupchan damit, dass „die bevorstehende Offensive der Ukraine an ihre Grenzen stößt. Im Idealfall würden sowohl die Ukraine als auch Russland ihre Truppen und schweren Waffen von der neuen Kontaktlinie zurückziehen und effektiv eine entmilitarisierte Zone schaffen.“

Auch diese Überlegungen ignorieren beharrlich die Vorgeschichte des Konflikts, der bereits schon einmal nach den Minsker-Vereinbarungen mit einer entmilitarisierten Zone beendet wurde. Diese Vereinbarungen, deren Umsetzung in den Jahren 2015-2021/22 komplett gescheitert sind, was letztlich auch den Ukrainekrieg auslöste, haben dazu geführt, dass Russland jedes Vertrauen in jedwede Vereinbarung mit dem Westen verloren hat. Zudem verkennen Haass/Kupchan zum wiederholten Mal Russlands geopolitische Intentionen in diesem Konflikt.

Alle nachfolgenden Vorschläge und Überlegungen der Autoren (Waffenstillstand, direkte Friedensgespräche, eine Einbeziehung der internationalen Vermittler, ein erneuter „strategischer Dialog mit Russland über Rüstungskontrolle und die breitere europäische Sicherheitsarchitektur“, eine „entmilitarisierte Zone“, „ein gesichtswahrender Ausweg“ für Putin, falls die ukrainische Gegenoffensive erfolgreich verläuft usw. usf.) sind nichts weiter als Ablenkungsmanöver, solange das Grundproblem der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung – die seit dem Ende des Ost-West-Konflikts bestehende hegemoniale Dysbalance in Europa 8 – nicht gelöst wird.

Es geht, wie gesagt, um eine Neuordnung der gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur und die daran geknüpfte ewige Frage der europäischen Friedensordnung: Gleichgewicht oder Hegemonie.

Auch die gesamte Argumentation der Autoren ist inkongruent: Zum einen wird mit einer „Vertiefung der diplomatischen Isolation“ (deepen its diplomatic isolation) gedroht und zum anderen über eine „anhaltende diplomatische Pattsituation“ (a prolonged diplomatic stalemate) sinniert, die angeblich „einen neuen eingefrorenen Konflikt hervorrufen würde. Im Idealfall würde der Waffenstillstand halten und zu einem Status quo führen, wie er auf der koreanischen Halbinsel herrscht, die ohne formellen Friedenspakt seit 70 Jahren weitgehend stabil geblieben ist.“

Dass ein Vergleich mit dem Koreakrieg völlig abwegig ist, merken sie gar nicht. „Selbst wenn ein Waffenstillstand zustande kommt und ein diplomatischer Prozess in Gang kommt, sollten die Nato-Staaten die Ukraine weiter bewaffnen und alle Zweifel in Kiew beseitigen, dass die Einhaltung eines diplomatischen Fahrplans das Ende der militärischen Unterstützung bedeuten würde. Als ein weiterer Anreiz für die Ukraine sollte der Westen einen formalisierten Sicherheitsplan anbieten. Obwohl es unwahrscheinlich ist, dass die Nato der Ukraine eine Mitgliedschaft anbietet – ein Konsens innerhalb des Bündnisses scheint derzeit außer Reichweite – könnte eine Untergruppe von Nato-Mitgliedern, einschließlich der Vereinigten Staaten, ein Sicherheitsabkommen mit der Ukraine abschließen, welches ihr angemessene Mittel zur Selbstverteidigung zusichert,“ schreiben Haass/Kupchan.

Was die „Friedensdiplomaten“ hier empfehlen, ist keine Friedenslösung, sondern ein Krieg in Permanenz . Wer aber wirklich glaubt, den Russen die Friedensbedingungen diktieren zu können, kennt die europäische Geschichte der vergangenen 300 Jahre nicht. Man hat bei der Lektüre des Textes das Gefühl, als würden sich die Auroren für ihre Friedensvorschläge vor dem eigenen Auditorium stets rechtfertigen und entschuldigen.

Wofür eigentlich? Dafür, dass ihr „diplomatisches Endspiel“ (diplomatic endgame) eher zur Fortsetzung des Krieges als zur Friedensschaffung führen würde? Denn dieses „diplomatic endgame“ würde weder von Russland noch der Ukraine akzeptiert. Freilich steht hinter diesem „diplomatic endgame“ mehr, als es auf den ersten Blick erscheinen mag.

Gut ein Jahr nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine stellen Haass/Kupchan – stellvertretend zumindest für einen Teil des US-Establishments – überraschend fest, dass die Ziele der Ukraine mit den „Kriegszielen des Westens“ bzw. „anderen westlichen Interessen in Konflikt geraten“ (because Ukraine’s goals are coming into conflict with other Western interests). Allmählich merkt man im außenpolitischen US-Establishment, dass sich die USA als Global Player verrannt und verzettelt haben und dass es viel wichtigere globale US-Interessen als die Ukraine gibt.

Und genau in diesem Sinne fordern Haass/Kupchan: Als „global power“ müssen die USA anerkennen, dass ihre maßlos überzogenen Kriegsziele in der Ukraine zu einer Politik geführt haben, die zunehmend mit den anderen US-Prioritäten in Konflikt geraten (vgl.: As a global power, the United States must acknowledge that a maximal definition of the interests at stake in the war has produced a policy that increasingly conflicts with other U.S. priorities).

„Deswegen muss Washington einen diplomatischen Weg einschlagen“, um wenigstens „die Sicherheit und Überlebensfähigkeit der Ukraine innerhalb ihrer de facto Grenzen“ zu gewährleisten. Erst im nächsten Schritt müsse man daran arbeiten, „die territoriale Integrität des Landes langfristig wiederherzustellen“.

Man müsse nun mal „das Wünschenswerte mit dem Machbaren verbinden“, resümieren Haass/Kupchan am Ende ihrer Schrift. Als Anti-Russlandpolitik muss sich Bidens Ukrainepolitik in der Tat ändern, ansonsten kommen die globalen US-Interessen unter die Räder, falls sie schon längst nicht darunter gekommen sind.

Und was das „diplomatic endgame“ betrifft, so ist es nicht so sehr ein Appell der Friedensbewegten nach einer friedlichen Lösung des Konflikts, als vielmehr ein Verzweiflungsgeschrei danach: zu retten, was noch zu retten ist. Denn die globale US-Hegemonie erodiert, wodurch die globalen US-Interessen in akute Gefahr geraten sind.

Das „diplomatic endgame“ erweist sich mit anderen Worten als ein verklausuliertes Eingeständnis, dass die USA nicht mehr so allmächtig sind, wie das noch vor wenigen Jahren der Fall war und an mehreren Fronten gleichzeitig ohne weiteres nicht kämpfen können.

Der Erosionsprozess der US-Hegemonie und allen voran der US-Weltleitwährung Dollar hat eine derart rasante Fahrt aufgenommen, dass Phil Rosen (Business Insider) seinen Bericht vom 17. April 2023 erschrocken mit den Worten überschrieb: „Die Dominanz des Dollars als Reservewährung erodierte im vergangenen Jahr zehnmal so schnell wie in den letzten zwei Jahrzehnten“ (The dollar’s dominance as a reserve currency eroded last year at 10 times the pace seen in the past 2 decades).

„Der Wertverlust des Dollars als Reservewährung hat sich insbesondere seit Beginn des Krieges in der Ukraine beschleunigt,“ berichtet Rosen und schreibt weiter: „In einer Notiz vom Montag berechneten die Strategen Joana Freire und Stephen Jen, dass der Greenback im Jahr 2003 etwa zwei Drittel der gesamten globalen Reserven ausmachte, dann 55 % bis 2021 und 47 % im letzten Jahr … Nachdem Russland letztes Jahr in die Ukraine einmarschiert war, schnitten die westlichen Nationen Russland weitgehend vom Weltfinanzsystem ab und froren seine Währungsreserven ein, was den Kreml zwang, sich mehr auf den Yuan zu verlassen.“

Es ist kein Wunder, wenn die chinesische Führung vor diesem Hintergrund immer selbstbewusster und arroganter auftritt. Seit Monaten weigert sie sich beharrlich Telefonate aus Washington entgegenzunehmen.

Und so schreibt die der KP Chinas nahestehende Tageszeitung Global Times in ihrem Artikel „With busy diplomacy, China has no time to receive insincere people“ am 19. April 2023 mit Bezug auf diese Weigerung und Blinkens Absage des geplanten China-Besuchs im Februar ziemlich arrogant: „Chinas Diplomatie ist sehr beschäftigt und kann sich nicht jederzeit an den Zeitplan der USA anpassen. Sie hat keine Zeit, die unaufrichtigen Menschen mit boshaften Absichten zu empfangen.“

Empört fügt Global Times gleich hinzu: „Ein gängiges Sprichwort in der chinesischen Diplomatie lautet >Höre auf ihre Worte und beobachte ihre Taten<.“ Was die gegenwärtige US-Führung angehe, so sei das eine Zeitverschwendung, „auf ihre Worte“ zu hören. Die USA spielen das Spiel nach dem Motto: „das eine zu sagen, aber das andere zu tun“, sodass sie in China genauso, wie in der internationalen Gemeinschaft an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Eine so forsche Belehrung der US-Führung seitens China wäre vor wenigen Jahren unvorstellbar. Der Ukrainekrieg hat das erst möglich gemacht und den Erosionsprozess der US-Hegemonie beschleunigt. Der US-Hegemon hat anscheinend die besten Zeiten hinter sich.

Im „Globalen Süden“ bzw. Nichtwesten scheinen die USA kaum mehr Freunde zu haben, wenn man einem einflussreichen Kolumnisten des Wall Street Journals (WSJ), Walter Russel Mead (Prof. f. Foreign Affairs u. US-Außenpolitik), Glauben schenkt. Mead schreibt in seinen WSJ-Beitrag „Scolding Isn’t a Foreign Policy“ (Schimpfen ist keine Außenpolitik): „Amerika braucht Freunde, und es wird sie nicht gewinnen, indem es ihnen Vorträge hält.“

Mit Verbitterung beklagt er „die ungeordnete Auflösung der von Amerika geführten Weltordnung“ (the disorderly unraveling of the American-led world order), die manche Spinner und Möchtegern-Experten als „einen visionären Triumph einer aufgeklärten Außenpolitik“ (a visionary triumph of enlightened foreign policy) verklären und zitiert dabei entrüstet den ehem. US-Finanzminister Larry Summers .

Summers diagnostiziert „Amerikas zunehmende Einsamkeit auf der Weltbühne“ (America’s increasing loneliness on the world scene) und zitiert seinerseits einen Vertreter eines Entwicklungslandes mit den Worten: „Was wir von China bekommen, ist ein Flughafen. Was wir aus den Vereinigten Staaten bekommen, ist eine Belehrung“ (What we get from China is an airport. What we get from the United States is a lecture).

So desorganisiert die Biden-Administration ja selber mit ihrer „aufgeklärten“ und anmaßenden Außenpolitik die eigene unipolare Weltordnung. Mit „Visionen“, Belehrungen und Beschimpfungen lässt sich heute außenpolitisch kein Blumentopf mehr gewinnen. Der Ukrainekrieg hat offenbar dazu beigetragen, dass sich der Nichtwesten vom Westen bzw. den USA nicht mehr einschüchtern lässt.

Vor diesem Hintergrund wird es auch verständlich, warum sich Haass/Kupchan dringend für „diplomatic endgame“ im Ukrainekonflikt aussprechen. Erst jetzt dringt in das Bewusstsein des US-Establishments ein, dass die USA mit „ihren maßlos überzogenen Kriegszielen in der Ukraine“ eine Außenpolitik betreiben, „die zunehmend mit den anderen US-Prioritäten in Konflikt“ gerät.

Diese Erkenntnis kommt freilich viel zu spät. Der „Globale Süden“ bzw. Nichtwesten emanzipiert sich vom Westen im Eiltempo. Nachdem der selbstbewusst werdende Geist des Nichtwestens aus der vom Westen dominierten geopolitischen „Büchse der Pandora“ entwichen ist, ist es heute kaum möglich, diesen Geist zurück in die westliche „Büchse der Pandora“ zu zwingen.

Darum geht es längst nicht mehr um das „diplomatic endgame“ im Ukrainekonflikt, sondern um ein geopolitisches Endgame der US-Hegemonie.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf /Wien 1981, 413.
4. Ruehl (wie Anm. 3), 413 f.
5. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 2).
6. Rumer, E./Weiss, A. S., Ukraine: Putin`s Unfinished Business. Carnegieendowment.org 12.11.2021.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Gefangen in der Logik des Krieges. Russland und die USA auf Kollisionskurs. 24. Januar 2023, www.ontopraxiologie.de.
8. Dazu Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 30. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.

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