Zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Übersicht
1. Im Zeitalter der Furchtlosen?
2. Geopolitik ist unser Fluch
3. Kontinentalmacht- versus Weltmachtstrategie
Anmerkungen
„Холодная война длилась сорок лет … Наиболее
важным достижением холодной войны было
то, что она осталась холодной.“
(Der Kalte Krieg dauerte 40 Jahre … Die wichtigste
Errungenschaft des Kalten Krieges war, dass er kalt
geblieben ist.)
(Dmitrij Trenin)1
1. Im Zeitalter der Furchtlosen?
Besorgt um den angeschlagenen gesundheitlichen Zustand des sowjetischen Generalsekretärs Leonid Brežnev sagte der US-Außenminister Alexander M. Haig 1981: Er bete für seine Gesundheit. Nun, es ist nicht überliefert, dass die Reagan-Administration, als deren prominentester Vertreter Außenminister Haig war, eine Bewunderung für das Sowjetsystem oder gar für den amtierenden Sowjetführer empfunden hat. Ganz im Gegenteil: Reagan war einer der erbitterten Gegner des Sowjetkommunismus. Der Grund für Haigs Besorgnis war vielmehr sicherheitspolitischer Natur. Haig fürchtete, dass die nächste Generation der Sowjetführer aus Männern bestehen würde, „die einen Krieg nie kennengelernt haben und für die Stalingrad ein Filmtitel ist“2 und dass eine solche personalpolitische Konstellation die Sowjets zu forschen und halsbrecherischen Entscheidungen mit unkalkulierbaren Folgen für den Weltfrieden verleiten könnte.
In Zeiten des „Kalten Krieges“ war die Angst vor dem Dritten Weltkrieg selbst in der Spätphase der Sowjetherrschaft auf beiden Seiten der ideologischen Barrikade präsent und weit verbreitet. Noch im Herbst 1983 – nur wenige Jahre vor dem Zusammenbruch des Sowjetsystems – war während eines NATO-Manövers die Angst vor einem westlichen Überfall in Moskau so groß, dass der Kreml einen Teil seiner Nuklearstreitkräfte in Alarmbereitschaft versetzte. „Neben der Kubakrise von 1962 gelten die ersten Novembertage 1983 inzwischen mit als gefährlichste Episode in der Geschichte des Ost-West-Konflikts.“3
Nun kam es bekanntlich ganz anderes. Das Sowjetsystem ist nur wenige Jahre später untergegangen, der „Kalte Krieg“ war zu Ende und der Dritte Weltkrieg hat nicht stattgefunden.
Haigs Befürchtung aus dem Jahr 1981 ist aber dessen ungeachtet nicht aus der Welt und bleibt selbst gut vierzig Jahre danach bestehen. Die Frage ist nur, ob die jüngere Generation der westlichen Politiker und der Russlandexperten aus den sog. „Denkfabriken“ diesseits und jenseits des Atlantiks, die keinen Krieg mehr persönlich erlebt, wohl aber den Triumpf der Vätergeneration über die „siegreiche“ Beendigung des Ost-West-Konflikts verinnerlicht haben, nunmehr jedwede Angst vor einem großen europäischen Krieg verloren haben, übermutig werden und ihrerseits den Weltfrieden mit ihren unüberlegten Urteilen, Entscheidungen und Handlungen gefährden könnten.
Haben wir heute vor dem Hintergrund des immer noch vorherrschenden westlichen Triumphalismus eine Politiker- und Politikberatergeneration der Furchtlosen oder Verantwortungslosen? Im Kriegsjahr 2022 kann man sich des Eindruckes nicht erwehren, dass vor allem die EU-europäische Machtelite eher aus der Selbstüberschätzung und Übermut heraus furchtlos, weil verantwortungslos, agiert: Furchtlos, weil sie bedenkenlos für eine Aufrüstung der NATO trommelt, für massive Waffenlieferungen in die Ukraine plädiert und nicht zuletzt beinahe einen totalen Wirtschaftskrieg gegen Russland führt. Verantwortungslos, weil sie offenbar die Tragweite einer von ihnen in Gang gesetzten Eskalation des Konflikts zwischen Russland und dem Westen, der außer Kontrolle geraten könnte, nicht nur ignoriert und die Gefahr einer Ausweitung des Ukrainekrieges auf ganz Europa völlig unterschätzt, sondern auch und insbesondere die verheerenden Auswirkungen ihrer Waffenlieferungen auf die ukrainische Infrastruktur und Lebensgrundlagen infolge der daraufhin verschärften Kriegshandlungen Russlands gar nicht versteht. In ihrem pathologischen Streben, Russland um jeden Preis zu bestrafen und ihm Schaden zuzufügen, schadet sie in erster Linie der Ukraine selbst.
Heute sieht es so aus, als würde man das Bonmot des französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau ergänzen müssen: Der Krieg sei eine zu ernsthafte Sache, als dass man ihn nur den Generälen und – sollte man wohl hinzufügen – den furchtlosen Politikern überlassen dürfe. Die militante Rhetorik der EU-europäischen wie der nationalstaatlichen Machteliten Europas ist beängstigend und derart zügellos geworden, dass man zu fragen beginnt, ob das noch verantwortbar ist.
Zwar haben sich die Spannungen zwischen Russland und dem Westen schon seit dem Ausbruch der sog. „Ukrainekrise“ (2014) hochgeschaukelt und der NATO-Oberbefehlshaber Philip Breedlove sich bereits 2015 zu der Äußerung hinreißen lassen: Russland sei eine „existenzielle Bedrohung“. Auch der polnische Außenminister Witold Waszczykowski bliess ins gleiche Horn, als er 2016 behauptete, Russland sei für Europa eine größere Gefahr als der IS. Dem stimmte der dänische NATO-Offizier und Kommandeur der neuen NATO-Vorposten in Litauen Jakob Larsen uneingeschränkt zu und forderte Anfang Juni 2016 öffentlich: „Wir müssen wieder lernen, den totalen Krieg zu führen.“4
Dass aber der höchste EU-Diplomat Josef Borrell die EU-Staaten am 9. April 2022 aufforderte: „Legt den Schwerpunkt auf Waffenlieferungen“, ist mehr als irritierend. „Der Krieg“ – fügte Borrell hinzu – werde „in der Schlacht um den Donbass entschieden.“ Sollte etwa für den höchsten EU-Diplomaten der Krieg in der Ukraine nicht an der diplomatischen Front, sondern am Kriegsschauplatz entschieden und so Diplomatie durch Krieg substituiert werden? Wozu benötigt man dann – fragt unsereiner unbefangen – überhaupt eine EU-Diplomatie? Sollte man das Amt des „EU-Außenministers“ nicht gleich abschaffen und an dessen Stelle das Amt eines EU-Kriegsministers einführen?
Anscheinend lässt sich die EU-Machtelite selbst im Kriegsjahr 2022 nicht in Furcht und Schrecken versetzen. Offenbar hat sie längst die Angst vor einem großen europäischen Krieg verloren, weil sie keinen Krieg mehr persönlich erlebt hat und darüber nur aus Fernsehbildern erfährt. Sind die EU-Funktionäre wirklich so selbstsicher, dass sie an einen Krieg in ganz Europa nicht glauben, von der Gefahr eines atomaren Infernos ganz zu schweigen?
Liegt diese Furchtlosigkeit der EU-Europäer und ihres US-amerikanischen Patrons womöglich an einer maßlosen Selbstüberschätzung der eigenen militärischen, ökonomischen und monetären Potenz? Die Selbsteinschätzung und Selbstüberschätzung verstellen oft den Blick auf die real bestehenden Kräfteverhältnisse im globalen Raum und machen die furcht- und hemmungslosen Entscheidungen umso gefährlicher, je mehr diese sich von einer ungebremsten Eskalation leiten lassen, deren Folgen unkalkulierbar und deren Gefahren unvorhersehbar sind.
Die Furchtlosen müssen allerdings aufpassen, nicht in eine Lage zu geraten, in der sie mit Horaz zum eigenen Entsetzen feststellen müssten: „… impavidum ferient ruinae“ (Furchtlos steht er, umgeben von Trümmern).
2. Geopolitik ist unser Fluch
„Politik ist Schicksal“, soll Napoleon zu Goethe 1808 gesagt haben.5 „Außenpolitik ist unser Schicksal“, wandelte Ekkehart Krippendorff Napoleons Äußerung ab.6 Das Kriegsjahr 2022 zeigt uns aber, dass Geopolitik unser Fluch ist. Statt Diplomatie setzen die geopolitischen Rivalen nunmehr wie seit eh und je auf Konfrontation, Sanktionen und Drohungen und zeigen damit ihr Unvermögen oder ihren Unwillen, die Argumente der Gegenseite nicht nur ernst zu nehmen, sondern auch nur anhören zu wollen.
Das ist gelinde gesagt eine ideologisch verklärte Ignoranz und moralische Selbstüberhöhung. Die bewusste Substituierung der Außenpolitik bzw. Diplomatie durch Außenideologie7 und militante Rhetorik ähnelt dem, >was die Französen einen dialogue des sourds nennen, eine Unterhaltung zwischen Taubstummen oder, richtiger gesagt, zwischen Partnern, von denen der eine das Gesagte falsch versteht und der andere nur mit halbem Ohr hinhört<8.“
Im Kriegsjahr 2022 kann eine solche „Unterhaltung“ zwischen den „Taubstummen“, die auf eine außenideologisch verklärte Machtarroganz und die Ausblendung der Argumente des geopolitischen Gegenparts zurückzuführen ist, zu einem gefährlichen und nicht voraussehbaren Handicap werden.
Immerhin ist ein gewisser Wandel in den sog. „Denkfabriken“9 und Machtstrukturen zu beobachten, auch wenn in den westlichen Korridoren der Macht nach wie vor die fundamentalen Kenntnisse der russischen außen- und sicherheitspolitischen Tradition fehlen.
Dass es an solchen Kenntnissen mangelt, wird am folgenden Interview deutlich: Auf die Frage, ob „Deutschland Fehler gemacht“ hat und „wir zu naiv im Umgang mit Moskau (waren)“ antwortete der ehem. Verteidigungsattaché an der Botschaft in Moskau und Brigadegeneral a. D. Reiner Schwab in einem Handelsblatt-Interview vom 16. Mai 2022 u. a. mit einer unverbindlichen, nicht desto weniger aber bemerkenswerter Floskel: „Auch der Kreml war noch Anfang der 2010er-Jahre auf Kooperationskurs … Letztlich ist Putin aber einen anderen Weg gegangen, primär, weil er sich von der Nato bedroht sah – militärisch von außen, destabilisierend von innen. Das russische Narrativ folgt da einer eigenen Logik.“
Schwab ging dabei nicht darauf ein, was er unter der „eigenen Logik“ verstanden haben will. Genau das ist aber die Schlusselfrage des Konflikts zwischen Russland und dem Westen. Wenn nicht der „eigenen“, wessen „Logik“ sollte denn „Russland“ dann folgen? War diese Äußerung ein Vorwurf oder eine Tatsachenfeststellung? Schwabs Antwort folgte gleich auf dem Fuße: „Während wir dachten, wir schaffen mit der Eingliederung etwa der baltischen Staaten in die Nato Stabilität zum Vorteil aller, sah Russland eine neue Bedrohung aufziehen.“
„Stabilität zum Vorteil aller“? Diese Selbstzentrierung des westlichen sicherheitspolitischen Denkens nach dem Motto: >Was für uns gut ist, muss auch für Russen gut sein< ist bereits seit dreißig Jahren das Hauptproblem der westlichen Russlandpolitik. Es verkennt völlig die „eigene Logik“ der russischen Außen- und Sicherheitspolitik, welcher der Primat der Geopolitik zugrunderliegt.
Und wenn selbst der ehem. Verteidigungsattaché an der Botschaft in Moskau dazu noch eine derart abstruse Behauptung macht, wie die folgende: Russlands „Drohung“ mit Nuklearwaffen richte sich „nicht gegen die Nato, sondern gegen die Ukraine“, dann verkennt er nicht nur Russlands geo- und sicherheitspolitische Intentionen, sondern versteht auch nicht, welcher Krieg in der Ukraine überhaupt geführt wird. Diese absurde Behauptung, „Putin“ werde Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen, „wenn er es für vorteilhaft hält“, wiederholte neuerlich der US-amerikanische Vier-Sterne-General i. R. Wesley Clark in einem Interview (Handelsblatt vom 20./22. Mai 2022, S. 16 f.).
Auch eine penetrante Fokussierung auf die Person Putin, als würde er allein in einem Bunker sitzend irgendwelche einsamen Entscheidungen treffen, zeigt nur eines: Die westlichen militärischen und politischen Machteliten setzen sich nicht so sehr mit der russischen Außen- und Sicherheitspolitik als vielmehr mit einem selbstgemalten Bild von Russland auseinander, indem sie es karikieren, parodieren und persiflieren, um der eigenen Propaganda gerecht zu werden bzw. die Kriegspropaganda zu bedienen.
Sie verkennen nicht nur die Tradition des russischen außenpolitischen Denkens, sondern auch den Charakter des Krieges in der Ukraine. Hätte Schwab sie gekannt, dann hätte er von der „Stabilität zum Vorteil aller“ weder sprechen noch träumen können. Dann hätte er auch wissen müssen, dass die von ihm angesprochene „eigene Logik“ die Logik der Geopolitik – die geopolitische Logik – ist. Als Traditionalist steht Putin mit beiden Füssen fest verankert in der Tradition der russischen Geopolitik.
Bereits die Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation folgte einer geopolitischen Logik, die da lautet: Im globalen Raum existiert weder ein geostrategisches Niemandsland noch ein geopolitisches Vakuum. Die Geopolitik duldet kein Vakuum. Man mag diese Tatsache beklagen, ändern lässt sie sich nicht. Ist es – warum auch immer – entstanden, wird es sicherheitspolitisch früher oder später beseitigt. Schon die bloße Gefahr einer weiteren Expansion der raumfremden Mächte erfordert dessen Beseitigung. „Abwarten und Tee trinken“ garantieren nicht nur keine Sicherheit, sondern reizen zum Angriff. Die NATO-Osterweiterung nach der Auflösung des Warschauer Paktes war der beste Beweis dafür. Die USA und ihre Verbündeten haben nach dem Ende des Kalten Krieges alles getan, um ihre Einflusssphären nicht nur friedlich, etwa über die Erweiterung der EU, sondern auch „mit einer globalen Ausweitung des Stützpunktsystems, der Entwicklung von Generationen hochmoderner Waffen und einer Reihe von völkerrechtswidrigen Kriegen, von Kosovo über den Irak bis Libyen“, auszudehnen. „Der militärisch gestützte Regimewechsel ist seit 1995 zu einem Kennzeichen westlichen Außenpolitik geworden. Möglich war das nur aufgrund der großen wirtschaftlichen und militärischen Übermacht des Westens.“10
Als die russische Führung 2014 verstand, dass sie in der Ukraine eine schwere geostrategische Niederlage erlitten hat, handelte sie nicht zuletzt aus der Erfahrung mit der NATO-Osterweiterung umgehend, um das entstandene geopolitische Vakuum nicht schon wieder seinem geopolitischen Rivalen zu überlassen. Die von Jeffrey Goldberg („The Obama Doctrine“, in: The Atlantic, April 2016) kolportierte Äußerung Obamas, der „Moskaus Verhalten in der Ukraine-Krise“ als „eine improvisierte Reaktion auf den bevorstehenden Ausbruch eines Klientelstaates aus dem Einflussbereich Russlands“ diagnostizierte, scheint vor diesem Hintergrund zwar plausibel, aber nur teilweise zutreffend zu sein. Zutreffender ist da schon Henry Kissingers Feststellung, Sicherheit habe für Russland „immer auch eine geopolitische Grundlage“.11
Und was den Krieg in der Ukraine und Russlands „Drohung“ mit Nuklearwaffen betrifft, so richtet sich diese Drohung gegen die NATO und nicht gegen die Ukraine. Das zu verkennen, bedeutet den Charakter des Krieges in der Ukraine völlig zu missdeuten. Der Krieg in der Ukraine ist in seiner Komplexität ein Mehr-Ebenen-Krieg: ein zwischenstaatlicher Krieg, ein innerslawischer Bürgerkrieg und ein geopolitischer Kampf zwischen Russland und den NATO-Staaten.12
Zwar findet eine direkte militärische Konfrontation zwischen zwei völkerrechtlich anerkannten souveränen Staaten statt und – so gesehen – ist dieser Krieg zweifelsohne ein Zwischenstaatenkrieg, ein Krieg zwischen zwei unterschiedlich starken Gegnern – der nuklearen Großmacht Russland und der in den vergangenen acht Jahren seit dem Ausbruch der Ukrainekrise (2014) von der NATO militärisch ausgebildeten und mit Waffen massiv aufgerüsteten Ukraine.
Der Ukrainekrieg ist aber in noch höherem Maße – was im Westen völlig ignoriert bzw. totgeschwiegen wird – ein Bürgerkrieg zwischen den zwei ostslawischen Brüdervölkern. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Und selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein Brüdermord aus ideologischen und geopolitischen Gründen statt. Russland führt einen erbitterten ideologischen Krieg gegen den ukrainischen Ethnonationalismus, wohingegen die seit 2014 in der Ukraine an die Macht gekommene, angeblich „westlich“ orientierte, aber ethnonationalistisch geprägte Machtelite Front gegen alles Russische bzw. Russländische macht und einen Kulturkampf führt, der längst in einen regelrechten Glaubenskrieg ausartete.13 Hier prallen das übernationale Prinzip der russischen Staatlichkeit und der ukrainische Ethnonationalismus als ideologisches Fundament der neuen Ukraine nach 2014 unversöhnlich und knallhart aufeinander. Jedwede Versöhnung ist von vornherein ausgeschlossen.
Wie die Weißgardisten von den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges im russischen Bürgerkrieg gegen die Rotarmisten unterstützt wurden, so unterstützt der Westen heute in diesem innerslawischen Kultur- und Glaubenskrieg nicht etwa die „westlichen Werte“, wie er naiverweise glaubt oder zu glauben vorgibt, sondern einen brachialen Ethnonationalismus ukrainischer Herkunft, den das Europa der Nachkriegszeit längst überwunden glaubte. Und dieser Kultur- und Glaubenskrieg wird „bis zum letzten Ukrainer“ geführt, wie manche Zyniker diesseits und jenseits der geopolitischen Barrikade behaupten.
Wo der Westen hinkommt, bringt er gewöhnlich sein eigenes Wertesystem mit; dieses löste aber im Falle der Ukraine in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht etwa einen axiologischen Transformationsprozess, sondern einen ideologischen Kulturkampf innerhalb der Ukraine aus und verschärfte dadurch erst recht neben einer geo- und sicherheitspolitischen auch noch eine kulturelle und religiöse Konfrontation innerhalb des ostslawischen Vielvölkerstaates.14
Was dann seit 2014 passierte, war eine innerslawische bzw. russisch-ukrainische Tragödie: Die Ukraine befand sich unterschwellig stets in einer politischen, sozialen und ideologischen Krise und geriet dadurch immer mehr in eine kultur-, verfassungs- und geopolitische Sackgasse, von den dauerhaften Kriegshandlungen im Donbass und Lugansk ganz zu schweigen. Bereits in meinem Aufsatz „Kampf um die Ukraine“ vom 18. Oktober 2021 stellte ich ernüchternd fest: „Es ist keine Lösung in Sicht, es sei denn, es kommt entweder zum Krieg oder zur Auflösung der Ukraine, oder zu beidem.“15
Genau das ist im Kriegsjahr 2022 eingetreten.
3. Kontinentalmacht- versus Weltmachtstrategie
Der Aufstieg Russlands (als Sowjetimperium) zunächst zur „Kontinentalhegemonie“ (Lothar Ruehl) und dann zur Welt- bzw. Supermacht nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden durch zwei aufeinanderfolgende, nicht desto weniger aber völlig unterschiedliche geostrategische Entscheidungen geprägt. Indem Stalin als „ein kontinental denkender Politiker“ in seiner geostrategischen Positionierung der traditionellen Moskauer Expansionspolitik treu geblieben ist und nicht „sehr weit über die geographische Peripherie der Sowjetunion“ hinausblickte16, beschränkte er seine Geopolitik auf den eurasischen Kontinent und erwies sich dadurch als ein umsichtiger Stratege, der die Möglichkeiten und
Fähigkeiten des Sowjetstaates ökonomisch und machtpolitisch richtig einschätzte und nicht überschätzte.
„Deswegen lehnte er auch nach 1945 alle Pläne der sowjetischen Marineleitung für ein ehrgeiziges Flottenbauprogramm zum Erwerb hochseefähiger Kampfschiffe für den weltweiten Einsatz oder den Aufbau strategischer Luftstreitkräfte interkontinentaler Reichweite in großem Umfang ab.“17 Mit der Konzentration aller Kräfte allein auf die Kernwaffenentwicklung und den Raketenbau hat Stalin an seiner Kontinentalmachtstrategie bis zu seinem Ableben 1953 festgehalten.
Die geostrategische Positionierung der Sowjetunion änderte sich schlagartig mit dem Aufstieg Nikita Chruščovs zum Machthaber ganz Russlands. Mit ihrer „außerordentlich gesteigerten weltpolitischen Aktivität“ hat die Sowjetunion unter Chruščov „die dem Expansionskonzept Stalins eigentümliche Beschränkung fallen“ gelassen, „wonach die kommunistischen Machtergreifungen nur in der räumlichen Nachbarschaft der Sowjetunion und mit der direkten oder indirekten Unterstützung der Roten Armee aussichtsreich und daher unterstützungswürdig seien.“18
Erst Nikita Chruščov leitete also den Übergang von „der klassischen Kontinentalhegemonie der Stalinschen Epoche“ zur Weltmacht- bzw. Supermachtstrategie ein. Er war der erste Herrscher Russlands, „der versuchte, Weltpolitik zu machen,“ auch wenn er zunächst scheiterte, „weil die Mittel (noch) nicht ausreichten und weil er dabei die Sowjetunion ohne Deckung in Gefahr brachte. Seine dynamische Offensive gegen die amerikanische Weltmacht hatte Erfolge in Indien, im Nahen Osten und in Berlin, stellte aber in Kuba die Schwächen der Sowjetunion mit Eklat bloß.“19
Zwar betrachtete Chruščov seine Weltmachtpolitik als eine „defensive“ Strategie zur Abwehr der US-amerikanischen Bedrohung. Doch die eingesetzten Mittel dieser Strategie waren alles andere als „defensiv“ und bedrohten zwangsläufig auch die andere Seite. Damit wurde diese „offensive Defensive“ zu einer „auf die Beherrschung der Lage gerichteten Machtpolitik klassischen Vorbilds, allerdings getragen von einem erneuerten revolutionären Schwung und rhetorisch verkündet mit einem weltrevolutionären Pathos, das man in Moskau nach der Machtergreifung Stalins seit Jahren nicht mehr gehört hatte.“20
Diese von der Sowjetideologie ebenso wie vom persönlichen Machtstreben geleitete Zäsur in der (sowjetischen) Geostrategie, welche die traditionelle, seit Jahrhunderten praktizierte kontinentale Geopolitik samt Stalins vorsichtiger „Kontinentalhegemonie“ über Bord warf, hatte eine das System ökonomisch, technologisch und militärisch völlig überfordernde Überdehnung der sowjetischen Hegemonialpolitik mit verheerenden Folgen für die Existenz des Imperiums zur Folge.
Chruščov traf damit eine fatale geostrategische Entscheidung, die dem Sowjetimperium samt seiner kommunistischen Ideologie letztlich zum Verhängnis wurde. Manche Sowjetnostalgiker haben bis heute die ganze Tragweite dieser auf Chruščov zurückzuführenden geostrategischen Entscheidung der sowjetischen Führung nicht verstanden und träumen immer noch von der Wiederherstellung der „glorreichen“ imperialen Vergangenheit.
Das Sowjetimperium hat sich nämlich infolge seiner hegemonialen Überdehnung ökonomisch und ideologisch übernommen; es ist sodann kollabiert und anschließend zerfallen. Vor dem Kollaps und Zerfall lagen aber dreißig lange Jahre der sowjetischen Expansions- und Weltmachtpolitik. Denn nach Chruščovs Abdanken war ein „Rückzug Russlands auf sich selber, eingeschlossen in der Großmachtfestung, die Stalin gebaut hatte, … nicht mehr möglich.“21 „Im Aufstieg zur Weltmacht war der Niedergang schon beschlossen.“22
Dieser Weltmachtstrategie der sowjetischen Führung lag der Gedanke zugrunde, eine Weltmacht erster Klasse zu werden, Konflikte gefahr- und risikolos entscheiden und in Krisensituationen das letzte Wort haben zu können. Solange dieses Ziel nicht erreicht wäre, müsste das Sowjetimperium nach dieser Lesart eine Weltmacht zweiter Klasse bleiben.
Diesen sowjetischen Traum von Welthegemonie hat allerdings die USA nach dem Untergang des Sowjetimperiums und dem Ende der Ost-West-Konfrontation verwirklicht. Es stellt sich allerdings die Frage, ob die US-Hegemonie womöglich das gleiche Schicksal wie das Sowjetimperium vor dreißig Jahren widerfahren wird. Einiges spricht dafür! Auch die US-Hegemonie läuft Gefahr überdehnt zu werden und anschließend zu zerfallen.
Als Hegemonialmacht beherrschen die USA heute die Weltmeere und Kontinente, sind im Besitz von Vernichtungswaffen aller Gattungen ebenso wie einer Militärmacht, die bei Bedarf dazu benutzt und mittels einer Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten auch selbstlegitimiert wird, unliebsame Regierungen jederzeit zu stürzen und neue zu installieren. Diese hegemoniale „Allmacht“
führt jetzt schon zur Überdehnung des US-Imperiums und in deren Folge zu dessen geoökonomischen Schwächung womöglich als Vorbote eines Erosionsprozesses, der wie im Falle des Sowjetimperiums bereits längst den Niedergang der US-Hegemonie eingeleitet hat. Allein auf Militärmacht kann sich allerdings keine Hegemonie stützen. „Militärmacht ist nicht ein Attribut der imperialen Größe, sondern ihre Natur.“23
Im Kontrast dazu hat das gegenwärtige Russland die eigene imperiale Vergangenheit hinter sich gelassen und hat nicht zuletzt in Anbetracht seiner geoökonomischen Schwäche keine hegemonialen bzw. imperialen Ambitionen mehr. Russland hat auch und gerade unter Putin der sowjetischen Weltmachtstrategie ungeachtet des hier und heute stattfindenden Ukrainekrieges im Grundsatz abgeschworen und sie endgültig aufgegeben. Der Ukrainekrieg hat ihre Ursachen eben nicht in der Putin unterstellten Expansionspolitik bzw. seinem Streben nach der Wiederherstellung der Sowjetunion24, sondern in der NATO-Osterweiterung und insbesondere in dem nach dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandenen „Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip“25 der europäischen Sicherheitsarchitektur.
Die Ukraine wäre als NATO-Mitglied für Russland eine geostrategische Katastrophe, da es eine „strategische Tiefe“ – „den Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ – verloren hätte, worauf die US-Denkfabrik Carnegie Endowment unlängst hingewiesen hat.26
Das gegenwärtige Russland zieht sich ungeachtet des Krieges in der Ukraine letztendlich in seine „Großmachtfestung“ zurück, sucht sich einerseits durch die immer enger und immer intensiver werdenden freundschaftlichen Beziehungen zu China abzusichern und versucht andererseits angesichts des feinseligen westlichen Umfeldes autark zu werden. Das Streben nach einer Autarkie zwingt Russland alle innen- und außenpolitischen Ressourcen zu dem einen Zweck einzurichten, sich geopolitisch souverän zu behaupten und seine geopolitische Existenz zu sichern.
Russland positioniert sich heute laut Dmitrij Trenin (Direktor des Carnegie Moscow Center) als ein „Globaler Norden“ (мировой Север). „Das kleiner gewordene Russland“ – schreibt Trenin in seinem neuen Buch „Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия“27 -, „das seine Kontrolle selbst im unmittelbaren geopolitischen Umfeld verloren hat, steht allein wie ein Torso (особняком) da.“ Russlands Geschichte sei in seiner imperialen Weltmachtvariante endgültig zu Ende gegangen. Mit dem Krieg in der Ukraine kehrt es heute zur traditionellen Kontinentalmachtstrategie zurück. Das Ziel ist nicht so sehr die Unterwerfung der Ukraine als vielmehr die Wiederherstellung des Machtgleichgewichts als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheit.
Vor dem Hintergrund der schwächelnden US-Hegemonie, der russischen Besinnung auf seine traditionelle Kontinentalmachtstrategie, die ihrem Selbstverständnis nach letztlich auf eine Revision der von den USA dominierten europäischen Sicherheitsordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hinausläuft, und in Anbetracht eines fulminanten Aufstiegs Chinas zur geoökonomischen Supermacht besteht heute eine einmalige und einzigartige Großmächtekonstellation, die eine neue Sicherheitsarchitektur auf dem europäischen Kontinent möglich und erforderlich macht. Mit Recht weist Trenin darauf hin, dass „eine Reform der europäischen Sicherheitsarchitektur“ von „zwei Säulen – einer westlichen und einer russischen -“28 getragen werden muss und dass diese Sicherheitsarchitektur einen dauerhaften Frieden ohne Miteinbeziehung und Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen unmöglich gewährleistet werden kann.
Anmerkungen
1. Тренин, Д., Смягчение конфликта в условиях гибридной войны, Московский центр Карнеги, 25.01.2018.
2. Zitiert nach Lewis, F., Wenn Europa an Krieg denkt, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der Atomkrieg rückt näher. Hamburg 1981, 199-201 (199).
3. Wiegrefe, K., „Lernen, den totalen Krieg zu führen“, in: Der Spiegel 28 (2016).
4. Zitiert nach Wiegrefe (wie Anm. 3).
5. Goethe, Autobiographische Schriften. Hamburger Ausgabe, Bd. 10, 546; zitiert nach Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 11.
6. Krippendorff, E., Ist Außenpolitik Außenpolitik? In: Politische Vierteljahresschrift IV (1963), 243-266 (43).
7. Dazu Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der Außenpolitik, 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
8. Craig, G. A./George, A. L., Zwischen Krieg und Frieden. Konfliktlösung in Geschichte und Gegenwart. München 1984, 102.
9. Siehe dazu Stiens, T., Das neue Nato-Bollwerk, Handelsblatt vom 17. Mai 2022, S. 14.
10. Pradetto, A., Die Krim, die bösen Russen und der empörte Westen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5 (2014), 71-78 (71).
11. Henry Kissinger in einer Rede in Moskau (abgedruckt in: The National Interest, 4.2.2016). Zitiert nach Peter Rudolf, Amerikanische Russland-Politik und europäische Sicherheitsordnung. SWP-Studie, September 2016, 1-28 (28).
12. Näheres dazu Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
13. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Im Strudel von Kulturkampf und Glaubenskrieg. Zur Verschränkung Geopolitik und Geomoral. 21. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine (wie Anm. 13).
16. Vgl. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf /Wien 1981, 413.
17. Ruehl (wie Anm. 16), 413 f.
18. Grewe, W. G., Spiel der Kräfte in der Weltpolitik. Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Düsseldorf Wien 1970, 224 f.
19. Ruehl (wie Anm. 16), 416.
20. Ruehl (wie Anm. 16), 417.
21. Ruehl (wie Anm. 16), 439.
22. Ruehl (wie Anm.16), 539.
23. Ruehl (wie Anm. 16), 459.
24. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands Dilemma, EU-Ohnmacht und die USA. Zu den bevorstehenden russisch-amerikanischen Verhandlungen. 3. Januar 2022, www.ontopraxiologie.de.
25. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
26. Rumer, E./Weiss, A. S., Ukraine: Putin`s Unfinished Business. Carnegieendowment.org 12.11.2021.
27. Näheres dazu Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
28. Trenin, D., Arms accords between Russia and the west stand a chance despite treat of conflict.ft.com 18.02.2022.