Verlag OntoPrax Berlin

„Russische Kollektivschuld“

Im grellen Licht der Kriegspropaganda

Übersicht

1. Informationskrieg oder Kriegspropaganda?
2. Kriegspropaganda im Spiegel der Geschichte und Gegenwart
3. „Von Rache sprech´ ich, will die Sprache rächen …“

Anmerkungen

„In der Herrschaft durch Sprache ist ein Herrschaftsgrad
von Menschen über Menschen erreicht, demgegenüber
physische Gewalt geradezu harmlos und veraltet ist.“
(Helmut Schelsky)1

1. Informationskrieg oder Kriegspropaganda?

Nichts spiegelt den Wandel eines Zeitgeistes eindringlicher, unmittelbarer und offensichtlicher als die Sprache (λόγος), welche die noch kurz zuvor als unverrückbar und unverzichtbar geglaubten Wertvorstellungen denunziert, destruiert und von heute auf morgen für null und nichtig erklärt. Auf der verzweifelten Suche nach den neuen Wertbezügen rächt sie sich erbarmungslos an den alten, indem sie diese abwertet, umwertet und schließlich neu bewertet. Aus der Neubewertung entsteht aber keine neue Realität, sondern allein veränderte Haltungen und Meinungen über die entwertete Realität, die unsere Urteilfähigkeit maßgeblich prägen und bewegen.

„Commovent homines non res, sed de rebus opiniones.“ (Nicht die Realität bewegen die Menschen, sondern die Meinungen über diese Realität). Und genau dieser Befund betrifft die aktuelle geopolitische Großwetterlage. Sie lässt keinen Zweifel zu: Das Miteinander der geopolitischen Rivalen Russland und der Westen ist zertrümmert, zerrüttet und in regelrechte Hass- und Rachegefühle umgeschlagen. Diese Feststellung ist keine bahnbrechende Erkenntnis, sondern eine Banalität.

Eine geo- und sicherheitspolitische Krise macht sich breit in ganz Europa und keine(r) kennt einen Ausweg. Um diese Ausweglosigkeit zu überspielen, betreiben die verfeindeten Parteien, als gäbe es keinen Morgen mehr, einen hasserfüllten „Informationskrieg“, und zwar nach innen wie nach außen, wobei man heute Innen- und Außenwelt kaum voneinander trennen kann und schon Goethes lehrte:

„Nichts ist drinnen, nichts ist draußen;
Denn was innen, das ist außen.“

Der sogenannte „Informationskrieg“ ist nichts anderes als eine Neuauflage dessen, was wir seit eh und je Propaganda nennen. Die Substituierung des früher gebräuchlichen Wortes „Propaganda“ durch das Wort „Information“ sei „propagandistisch gemeint“. Es handelt sich hier – merkte Hermann Lübbe bereits 1975 an – um eine politisch gewollte und gezielt gesteuerte „sprachliche Entwicklung, die derjenigen genau analog ist, die inzwischen überall in der Welt aus Kriegsministerien Verteidigungsministerien gemacht hat. Man darf sagen, dass Propaganda zwangsläufig sublimer, raffinierter wird, wenn sie >Information< zu sein verbal verpflichtet ist. Es folgt auch, dass die verbal verdrängte Realität sich nun innersprachlich an anderer Stelle Ausdruck verschaffen muss … Jederzeit ist es, wenn angebracht, möglich, das Wort >Information< als propagandistischen Euphemismus für >Propaganda< zu hören.“2

Propaganda ist ein Kunstwort und wird am 22. Juni 2022 genau 400 Jahre alt. Es hat also bereits eine jahrhundertelange Geschichte hinter sich und ist immer noch in seiner >historischen Mission< unterwegs. Entstammt der Bezeichnung für die 1622 kanonisch errichtete Zentrale der römisch-katholischen Mission „Sancta Congregatio de Propaganda Fide“, wurde es, da „dieses konzentrierte Latein mit seinem Ablativ nur umständlich zu übersetzen war, … aus dem Adjektiv das Substantiv >die Propaganda<.“3 Gegründet von Papst Gregor XV. und bestimmt „zur Waffe gegen das Luthertum, mit der Zusatzaufgabe, die Heiden zu missionieren“, wirkt die „Heilige Kongregation zur Verbreitung des katholischen Glaubens“ seit dem 22. Juni 1622 „bis auf den heutigen Tag.“4

Unter dem, was nach den klassischen Regeln der Rhetorik „verbreitet“ bzw. „ausgebreitet“ (propaganda) werden sollte, wurde „die „fides“ (der christliche Glaube) verstanden. „Als vornehmste Aufgabe Unseres Hirtenamts betrachten wir es“, heißt es in der Gründungsbulle Gregors XV., „die elendiglich verirrten Schafe zur Herde Christi zurückzuführen.“ Die Propaganda trat zwar ins Leben von Anfang an „aggressiv, wortgewaltig und aufs Wort mehr als auf Bild und Tat gestützt“ und bekam das Wort die heutige Bedeutung „wohl zuerst in der Publizistik der Französischen Revolution“, die es um 1790 von einem jakobinischen „Club de Propaganda“ dem kirchlichen Ursprung entfremdete. Erst im 20. Jahrhundert kam sie aber „zur vollen Entfaltung ihrer unheimlichen Kraft“ durch die Massenmedien und Massensuggestion.5

Propaganda entwirft eine „Welt“, die realiter nicht vorhanden ist, wohl aber der Realität nahekommt und sie verzerrt. Sie okkupiert unser Bewusstsein, indem sie dieses in Affekt versetzt und damit betäubt und irreführt. Propaganda wirkt auf uns wie eine negative Werbung. Sie erweckt Ressentiment, Rache- und Hassgefühle, denunziert und diffamiert den Gegner, statt „Magie und Macht der Sprache“ (Wolf Schneider) wie in der Werbung zu nützen und nach Ernest Dichters Credo zu verfahren: „Wir kaufen keine Orangen, wir konsumieren Lebenskraft … Wir beklatschen nicht eine sportliche Leistung, wir feiern einen nationalen Triumph …, auch wenn hinter diesen Phrasen nur gähnende Leere herrscht.“6

Im Gegensatz zu der „gähnenden Leere“ der Werbung erweckt Propaganda in uns vor allem in Kriegszeiten niedere Instinkte wie Hass- und Rachegefühle, schürt Gewalt und verherrlicht Gewalt, wirkt auf uns deprimierend, traumatisierend und erzeugt in uns letztlich eine ganz andere – existenzielle Leere – zu Unrecht als Angst missverstanden. Erst in diesem existenziellen Ergriffensein merken wir – mit Max Scheler gesprochen – wie „schwer es ist, ein Mensch zu sein,“7 und wie vergeblich und sinnlos unsere eigene Existenz sein kann. Oder in die Wörter des Dichters gefasst, stürzt uns diese existenzielle Leere in die Tiefe des Selbstzweifelns und der Selbstverzweiflung:

„Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
was alles erblühte, verblich,
es gibt nur zwei Dinge: die Leere
und das gezeichnete Ich.“8

Diese existenzielle Leere zieht uns den Boden unter den Füssen weg und macht uns sprach- und machtlos und vor allem wehrlos gegenüber der um uns tobenden Propagandaschlacht mit ihrer „Sinngebung des Sinnlosen“.9 Zu allen Kriegs- und Krisenzeiten diente Propaganda als Instrument zur Massenmobilisierung durch Massenmanipulation.

Nach Orwells Diktum: „Krieg ist Frieden; Freiheit ist Sklaverei; Unwissenheit ist Stärke“ wird propagandistisch jede Lüge zur Wahrheit, die Dichtung zur Wirklichkeit erklärt, jedes Gerücht und jede Falschmeldung als glaubhafte Informationsquelle propagiert und jede Verleumdung und Verunglimpfung des Gegners zur hohen Sprachkunst geadelt. „Wenn man eine große Lüge erzählt und sie oft genug wiederholt, dann werden die Leute sie am Ende glauben“, wusste schon Joseph Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda.

Nein, was wir seit dem 24. Februar 2022 erleben, ist kein Informationskrieg, sondern eine brutal geführte Kriegspropaganda.

2. Kriegspropaganda im Spiegel der Geschichte und Gegenwart

Als „das Mutterland der Massenpresse“ hatte England die Führungsrolle in der Kriegspropaganda während des Ersten Weltkrieges. Bereits 1914 entwarf Lord Northeliffe (der Gründer der „Daily Mail“ und des „Daily Mirror“) in seinen Zeitungen „das Bild der kinderschändenden deutschen Bestie“. Nach dem Urteil der Encyclopaedia Britannica war die alliierte Kriegspropaganda eine der drei Säulen des Krieges – die anderen der Landkrieg und die Seeblockade.

„Blockade und Propaganda“ – schrieb Ludendorff kurz nach dem Krieg 1919 – „begannen nach und nach unsere geistige Kriegsfähigkeit ins Wanken zu bringen … Auf die feindliche Propaganda starrten wir wie das Kaninchen auf die Schlange … Sie war sich bewusst, wie die Worte Verständigungsfrieden, Abrüstung nach dem Kriege, Völkerbund und dergleichen mehr auf das deutsche Volk … in seiner großen Not wirken würden … Endlich kam das Schlagwort von dem Selbstbestimmungsrecht der Nationen.“10 „Dieses Schlagwort“ war nach Schneiders Überzeugung (ebd.) „einer der brisanten Beiträge, die der wortmächtige Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson mit Wörtern zum Sieg der Alliierten leistete.“

Damit zeigte sich bereits im Ersten Weltkrieg die Bedeutung und Funktion der Sprache nicht nur für die Kriegspropaganda, sondern auch für den gesamten Kriegsverlauf. Propaganda beruht auf einem kombinierten Zusammenwirken von Indoktrination, Autoritätshörigkeit und Manipulation vermittels verzerrter Berichterstattung, gezielt verfälschten Informationen oder einfach infolge einer Informationsunterschlagung. Dazu gehört aber auch und insbesondere die Gräuelpropaganda. Hitler bescheinigte 1925 der alliierten Kriegspropaganda „unerhörte Geschicklichkeit und wahrhaft geniale Berechnung“. Er selbst habe daraus „unendlich gelernt“. „Das Zeichen für die glänzende Kenntnis der Primitivität der Empfindungen der breiten Masse lag in der diesem Zustande angepassten Gräuelpropaganda … Sie war im Anfang scheinbar verrückt in der Frechheit ihrer Behauptungen, wurde später unangenehm und ward endlich geglaubt.“11

Mit anderen Worten: Je schlimmer die Lüge umso glaubhafter wird sie. Gegen die Sprache der Gewalt und Gewalt der Sprache gibt es im Grunde kein Gegengift. Lenin hatte es lange vor Hitler verstanden und vorgemacht. „Die russische Erde von allem Ungeziefer zu säubern“, sei jetzt das oberste Ziel, verkündete Lenin zwei Monate nach der Oktoberrevolution. Die Intellektuellen – nach Lenin eine Zwischenschicht – hießen alsbald „Zwischenschicht-Insekten“ und wurden ausgemerzt. Gegen wen gar nichts vorlag, dessen Verhaftung rechtfertigte sich mit dem Zauberwort „soziale Prophylaxe“. Denn stets war es nötig – so Lenin schon 1897 – „unter der Arbeiterschaft die richtigen Begriffe zu verbreiten“.12

Diese Sprache der Gewalt führt und hat auch in ihrer letzten Konsequenz zur Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“ geführt.

Man könnte von Propaganda als von einer vorweggenommenen physischen Gewalt sprechen, die erst dann in eine gewalterzeugende Aktion tritt, sobald sich die Massen davon beeinflussen lassen und/oder derart ergriffen werden, dass sie sich zu jeder Form von Gewalt hinreißen lassen. Bereit Karl Marx (Dt.-Franz. Jahrbücher 1844) hat die Beobachtung machen müssen, dass eine „Theorie … zur materiellen Gewalt (wird), sobald sie die Massen ergreift.“

Sie sei „fähig“ – fügte Marx hinzu – „die Massen zu ergreifen, sobald sie ad hominem demonstriert, und sie demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“

Was Marx hier kurz umreißt, ist nichts anderes als eine Theorie der Manipulation durch Propaganda, die dazu befähigt, die Massen „an der Wurzel“ zu radikalisieren und zur Gewalt zu verleiten. Propaganda erzeugt Rache, Hass und Gewalt und wird ihrerseits von Rache, Hass und Gewalt inspiriert. Sie befruchten sich gegenseitig. Propaganda ist darum ein gefährliches Instrument sowohl der Massenmanipulation als auch der Selbstmanipulation, sobald das Selbst davon ergriffen wird.

Und genau diese Entwicklung beobachten wir auch heute im Kriegsjahr 2022. Die bedrückenden Bilder des Krieges sollen uns wohl eine bestimmte „Realität“ vermitteln, die uns dazu verleiten sollte, diese mediale „Realität“ im Sinne der Meinungsmacher zu deuten, damit wir so denken und urteilen, wie sie denken und urteilen, und genauso verurteilen, wie es uns suggeriert wird, zu verurteilen. Eine gewünschte Sinndeutung des Geschehens und der Glaube daran spielt hier wohl die entscheidende Rolle. Eine solche Berichterstattung erfüllt eine dreifache Funktion:

1. Sie dient zur Mobilisierung der eigenen Bevölkerung in Zeiten des Krieges, die dazu verleiten sollte, sich zum einen hinter der Regierungspolitik in Zeiten der Not zu scharen bzw. die Außenpolitik kritik- und bedingungslos zu akzeptieren und zum anderen in „schicksalshaften“ Zeiten der Nation zu Opfern und Entbehrungen bereit und gewillt zu sein. Denn die eingeleitete Sanktionspolitik gegen den „Aggressor“ verlangt ja von uns eine „freiwillige“ Opferbereitschaft und die damit verbundenen Entbehrungen und Selbstverzicht, aber auch Inkaufnahme selbst einer wirtschaftlichen Rezession – wenn nicht gar – Depression, die auf uns zukommen könnte.

2. Der Medienkrieg dient ferner dazu, die geschlossenen Reihen des geopolitischen Rivalen zu sprengen und Aufruhr in dessen Innenraum der Macht zu provozieren bzw. auszulösen.

3. Schlussendlich bezweckt der Informations- und Medienkrieg die Weltöffentlichkeit zu mobilisieren und gegen den „Aggressor“ in Stellung zu bringen, damit seine Vorgehensweise geopolitisch und geomoralisch delegitimiert und er zur Umkehr bewegt wird.

Jede geopolitische Konfrontation schafft sich selbst ihre eigene Sprache der Gewalt und ihre eigenen Feindbilder, welche in der Öffentlichkeit medial verbreitet und stets reproduziert werden, bis sie in der öffentlichen Meinung fest verankert werden – so fest, dass keine andere Sprache, keine andere Begrifflichkeit gesprochen und kein anderes Bild mehr vorgestellt werden können. Die Sprache und das Feindbild entwickeln dabei eine besonders virulente Form der Aggressivität, die jedwede Kompromisse ausschließt. Der geopolitische Rivale müsse vielmehr moralisch an den Pranger und ökonomisch unter Quarantäne gestellt werden, bis das Aggressionsvirus, das er in sich trägt, ausgerottet ist.

Dem Aggressor wird dabei wie selbstverständlich jede Grausamkeit und jede verabscheuungswürdige Schandtat unterstellt, die anhand der zugespielten grausamen Fernsehbilder und in einer Gewaltsprache derart „evident“ zurechtgemacht werden, dass sie keines weiteren Beweises mehr bedürfen. Da sind alle Informations- und Medienkrieger unserer Zeit in ihrem Element und jedes Mittel ist ihnen recht in einem anscheinend nie enden wollenden Kampf um „Recht“ und „Gerechtigkeit“, in welchem die Meinungsmacher und Bilderdeuter die stattgefundenen Ereignisse im Sinne des Mainstreams derart deuten und auslegen, dass der geopolitische Rivale moralisch entmenschlicht, außenpolitisch an den Pranger gestellt und weltpolitisch delegitimiert wird.

In einem solchen propagandistischen Lebens- und Machtumfeld regiert nicht so sehr ein gesunder Menschenverstand als vielmehr geopolitisch motivierte Inszenierungen, begleitet von Vorurteilen und Vorverurteilungen, die unseren Geist vernebeln, uns geistig verwirren und unser Denkvermögen allein auf ein Tagesereignis reduzieren, dessen Erkenntnisgewinn nicht über einen Tag hinaus reicht, ohne dass wir uns unserer Ahnungslosigkeit bewusst sind. Damit steigt aber automatisch die Neigung zur psychologisierenden, moralisierenden, selbstgerechten und simplifizierenden Sprachakrobatik, die eher Geistesverwirrung stiften als eine Geisteshaltung fördern.

Propaganda fördert durch Massenmedien unterstützt ein manipuliertes Bewusstsein und macht ein system- und medienkonformes Denken unausweichlich. Sie soll uns allein und ausschließlich dazu befähigen, im Sinne der Kriegspropaganda die uns zurechtgemachten Informationen kritiklos und unhinterfragt zu adoptieren.

3. „Von Rache sprech´ ich, will die Sprache rächen …“

Wie zu allen Kriegs- und Krisenzeiten tobt auch im Kriegsjahr 2022 die von allen Seiten inszenierte Propagandaschlacht. Jede Kriegspartei inszeniert sich als Überbringerin „der einzig wahren Botschaften“ und denunziert die Berichterstattung der Gegenpartei als „pure Propaganda“, sobald diese mit ihrer eigenen Propaganda nicht übereistimmt.

Ist die eigene Propaganda nichts anders als eine „wahrheitsgetreue“ Wiedergabe der „Realität“ bzw. die „einzig wahre“ Deutung über das Ereignete am Ort des Kriegsgeschehens, so werden die Berichte der Gegenseite stets als Propaganda denunziert, deren verstellte Realitätsschilderung nur dazu genutzt wird, den Gegner zu verunglimpfen, zu verleumden und ihn moralisch zu delegitimieren. Man bedient sich der eigenen Vorurteile, um die eigenen Reihen nach innen zu schließen, sich der eigenen Wahrhaftigkeit und Sinnhaftigkeit zu vergewissern und nach außen den Gegner zu verunsichern, zu destabilisieren und zu demoralisieren.

Propaganda nach innen als ein Prozess der Selbstvergewisserung und nach außen als ein Versuch den Gegner zu entzaubern? Schon möglich! Wie auch immer, Propaganda ist als Phänomen der Massenbeeinflussung und Massendisziplinierung stets unsere Lebensbegleiterin nicht nur in Kriegs-, sondern auch in Friedenszeiten. Sie bedient stets unsere Vorurteile, formt unser Bewusstsein und prägt unsere Geisteshaltung, die wir wie selbstverständlich für das Maß aller Dinge halten.

Jedem von uns wird schon mit seiner Geburt aufgegeben, wie er zu denken, zu sein und zu leben hat, und dem ist meistens kein Entrinnen mehr. Stets verbleiben wir in den Niederungen medial verzerrter Realität – erst recht in Kriegszeiten – und wühlen nervös im medialen Abfall der uns aufgetragenen und aufgezwungenen Scheinwirklichkeit, bilden uns zugleich ein, das Andere, uns Fremde, wie das Eigene, genau zu „kennen“, ohne allerdings diese scheinbare „Kenntnis“ des Anderen und auch des Eigenen zu hinterfragen.

Wir sind nicht einmal dessen bewusst, wie sehr wir immer und immer wieder diszipliniert und anpassungsfähig gemacht werden. Statt „Paideia“13 werden wir horribile dictu „sozialisiert“ und so durch unser „soziales“ Lebensumfeld geprägt, dass wir uns unserer eigenen Indoktrination nicht einmal bewusst sind. Da möchte man mit Goethe der „sozialisierten“ Menge zurufen:

„Du hast wohl recht: ich finde nicht die Spur
Von einem Geist, und alles ist Dressur.“

Und so befinden wir uns stets in einer Propagandafalle, deren Manipulation wir macht- und hilflos ausgesetzt sind, weil wir vor dem Hintergrund unseren „sozialisierten“, d. h. angepassten Bewusstseins und dressierten Geistes auch nicht anderes können, als dem zu folgen, was uns vorgedacht und vorgegeben wird. Damit ist der Kern des Problems offengelegt. Wir können eben nicht anderes denken und urteilen, als wir hier und heute denken und urteilen. Und so urteilen wir auch im Kriegsjahr 2022, wie wir urteilen müssen und urteilen dürfen.

Die Aufbruchstimmung, die mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus Anfang der 1990er-Jahre so vielversprechend begann, ist längst verflogen. Im Kriegsjahr 2022 erlebt das Kontinentaleuropa eine gezielt geschürte Angst vor „der russischen Gefahr“14 und in dieser Situation fällt uns nichts anderes und nichts Besseres ein als den geopolitischen Rivalen mit hasserfüllter Propaganda zu überziehen.

Die Geschichte wiederholt sich offenbar doch und unsereiner wusste mit Karl Kraus immer schon, dass wir lediglich Epigonen des längst Gedachten, Geschriebenen und Ausgesprochenen sind.

„Ich bin nur einer von den Epigonen,
die in dem alten Haus der Sprache wohnen …
Komm´ ich auch nach den alten Meistern, später,
so räch´ ich blutig das Geschick der Väter.
Von Rache sprech´ ich, will die Sprache rächen
an allen jenen, die die Sprache sprechen.“

Und so möchten wir heute für all die Demütigungen, die wir seit der Teilung Deutschlands und ganz Europas während des „Kalten Krieges“ bis zu Ende der sowjetischen Besatzung erlebt und durchgemacht haben, uns an Russen rächen und epigonenhaft auch „die Sprache rächen“, womit wir Jahre und Jahrzehnte so schändlich traktiert wurden.

In einem Bericht über seine im Jahre 1984 unternommene Reise in die Sowjetunion entrüstete sich der Soziologe Walter Hildebrandt (1912-2007) über die Sowjetpropaganda, die er hautnah erlebt hat. Als er nun wenige Monate später – nach Deutschland zurückgekehrt – mitten im Sommer 1984 in den westdeutschen Zeitungen „Berichte über eine außergewöhnlich scharfe, ja aufpeitschende Agitationswelle der Sowjetführung“ vorfand, zitiert er mit Genugtuung die „nicht eines >primitiven Antikommunismus< verdächtigte“ Zeitschrift „Die Zeit“: „So bösartig hat Moskau die Deutschen seit Jahrzehnten nicht mehr gezeichnet. In der vergangenen Woche erinnerte der Rote Stern an einen Siegesmarsch, bei dem Stalin deutsche Kriegsgefangene über den Roten Platz führen ließ. Das sowjetische Armeeblatt nannte sie – vierzig Jahre später – >faschistische Tiere<, >Gewürm<, >braune Horden<, <unersättliche Heuschrecken.“

Und weiter lesen wir: „Die Propagandawellen, die der Kreml seit Monaten gegen den neuentdeckten Bonner Revanchismus und Imperialismus aufpeitschen lässt, schäumen immer höher, – von Woche zu Woche, von Häme zu Hass.“15

Und heute? Im Kriegsjahr 2022? Wiederholt sich die Geschichte – diesmal nur in eine umgekehrte Richtung? Schäumen wir „von Woche zu Woche, von Häme zu Hass“ gegen alles, was russisch ist? Sind wir heute mit unseren Beschimpfungen und Pöbeleien an die Adresse der russischen Führung (Kriegsverbrecher, Schlächter, Mörder, Völkerrechtsbrecher usw.) besser als die Sowjetpropagandisten des Jahres 1984? Man findet im Jahre 2022 genau dasselbe in den deutschen Zeitschriften und der deutschen Öffentlichkeit, was Walter Hildebrandt im Moskau des Jahres 1984 vorfand – diesmal allerdings nur gegen Russland gerichtet.

So militant, militaristisch und rachesüchtig hat man die Sprache der Berichterstatter in den deutschen Gazetten und in den Äußerungen der deutschen Amts- und Funktionsträger seit Jahrzehnten – im Grunde seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr erlebt. Was ist denn los in deutschen Stuben?

Trommeln wir wieder zum Krieg gegen „die slawischen Untermenschen“? Warnen wir erneut vor „der russischen Gefahr,“16 die unser „deutsches Haus“17 bedroht?

Die russische Führung – hört man allerseits und allerorts – wird als „Kriegsverbrecher“ und „Schlächter“ angeprangert. Russland begehe „Genozid“ in der Ukraine, führe einen grauenhaften „Vernichtungskrieg“. Russischer „Imperialismus“ sei zurückgekehrt, Putin wolle die Wiederherstellung des Sowjetimperiums, strebe mit seinen „imperialen Fantasien“ die Rückkehr zur imperialer Größe Russlands usw. usf. Russische Ökonomie müsse daher ruiniert, ja vernichtet und Russland eine Lehre erteilt werden, damit es nie mehr wage, einen neuen Krieg anzuzetteln.

Mehr noch: Russische Sportler und Sportlerinnen werden von allen europäischen Wettbewerben verbannt, nur weil sie Russen sind. Russischen Künstlern werden in ganz Europa laufende Verträge gekündigt, nur weil sie Russen sind. Das ist die Logik der Rache, die Sprache des Affekts, nicht die der Vernunft. Beinahe alle Geschäftsbeziehungen zwischen Russland und dem Westen werden seitens des Westens gekappt, viele Investitionen rückabgewickelt, der totale Wirtschaftskrieg vom Westen mit zunehmender Intensität ins Leben gerufen. Wo sind denn die hochgepriesenen „westlichen Werte“ geblieben? Was ist mit den Menschenrechten? Was ist mit der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes? Gelten sie für Russen nicht mehr?

Schlimmer noch: Wir zwingen prominente Russen überall in ganz Europa, sich öffentlich gegen die russische Führung zu distanzieren, als hätten wir die Gesinnungspolizei in unserem so hochgepriesenen liberalen Rechts- und Verfassungsstaat nicht längst abgeschafft! Haften alle Russen jetzt auf einmal für alles, was die russische Führung tut? Haben wir unsere eigene Geschichte längst vergessen? Haben wir in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht etwa die sog. „Kollektivschuld“ immer und immer wieder empört zurückgewiesen? Haben wir nicht immer und immer wieder – als es unsere eigene Geschichte betraf – darauf bestanden: Es gebe keine Kollektivschuld, nur kollektive Scham?

Auf einmal verschwand selbst diese Diskussion. Keine(r) spricht heute weder von „Kollektivschuld“ noch von „kollektiver Scham“ der Deutschen, als hätten diese Diskussionen nie stattgefunden. Ganz im Gegenteil: Heute fühlen wir uns als Nachfahren der Täter berechtigt, ja geradezu verpflichtet, den Nachfahren der Opfer „Nie wieder Krieg!“ zuzurufen, als hätten diese sich genauso wie wir an einem noch nie dagewesenen Menschheitsverbrechen aller Zeiten schuldig gemacht!

Stellen wir etwa nicht in verbrämter Weise – uns unbewusst oder gar gewollt – den Ukrainekrieg auf eine Stufe mit dem Vernichtungskrieg Nazideutschlands? Verharmlosen und bagatellisieren wir damit nicht die eigene deutsche Geschichte mit ihrer Nazibarbarei? Selbstverständlich tun wir das im Eifer des Gefechts, indem wir die Nachfahren der Opfer an den Pranger stellen, ihnen „Kriegsverbrechen“ und sogar „Genozid“ vorwerfen, im Glauben nun endlich auf der richtigen Seite der Geschichte zu sein. Ist das so?

Wissen wir überhaupt, wie verheerend diese Verunglimpfungen und Geschichtsklitterungen auf die russische Öffentlichkeit wirken? Oder ist das uns sowieso egal?

„Endlich“, würde unsereiner zustimmend zunicken. „Endlich“ sind wir „frei“ zu sagen: Kuck mal, Russen – die „Kriegsverbrecher“ – sie seien doch nicht besser als wir. Nein, sie seien sogar schlimmer als wir! Und das im 21. Jahrhundert?

Jawohl im 21. Jahrhundert! Haben wir etwa unsere eigenen Schandtaten in den vergangenen zwanzig Jahren des 21. Jahrhundert vergessen? Hunderttausende Opfer sind in Afghanistan, im Irakkrieg, in der Libyen-Intervention usw. zu beklagen. Alles vergessen und vergeben? Sind wir etwa nicht längst Opfer unserer eigenen Propaganda? Oder wollen wir endlich Rache nehmen und „die Sprache rächen an all jenen“, die uns jahrzehntelang mit ihrer Sprache der Rache so schändlich traktiert und behandelt haben?

All den Rächenden möchte man mit Nietzsche zurufen: „Im Grunde“ seien Sie nur „die Schlechtweggekommenen, deren unterster Instinkt Rache ist.“18

Anmerkungen

1. Schelsky, H., Der selbständige und der betreute Mensch. Stuttgart 1976, 116.
2. Lübbe, H., Der Streit um Worte. Sprache und Politik, in: Kaltenbrunner, G.-K. (Hg.), Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter. Freiburg/Basel/Wien 1975, 87-111 (89).
3. Umminger, J., Wenn die Propaganda schweigt, in: Kaltenbrunner, G.-K. (Hrsg.), Weltkrieg der Propagandisten. Verdummung durch Wort, Bild und Werbung. München 1985, 20-25 (21).
4. Schneider, W., Wörter machen Leute. Magie und Macht der Sprache. München 1976, 120.
5. Vgl. Schneider (wie Anm. 4), 121; Umminger (wie Anm. 3), 21.
6. Zitiert nach Schlapp, M., Wider die Herrschaft von Begriffsdämonen, in: Kaltenbrunner, G.-K. (Hg.), Weltkrieg der Propagandisten. Verdummung durch Wort, Bild und Werbung. München 1985, 138-145 (140).
7. Leonardy, H., „Es ist schwer, ein Mensch zu sein“. Zur Anthropologie des späten Scheler, in: Studien zur Philosophie von Max Scheler 29 (19949, 70-93.
8. Benn, G., Nur zwei Dinge. 1953.
9. Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. 1919.
10. Ludendorff, E., Meine Kriegserinnerungen. Berlin 1919, 285 f.; zitiert nach Schneider (wie Anm. 4), 122.
11. Hitler, A., Mein Kampf, I, 6; zitiert nach Schneider (wie Anm. 4), 123 f.
12. Lenin, V., Die Aufgaben der russischen Sozialdemokraten (1897); zitiert nach Schneider (wie Anm. 4), 133.
13. Jaeger, W., Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Berlin 2017.
14. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Hildebrandt, W., Agitprop zwischen Überzeugungsarbeit und Monumentalpropaganda, in: Kaltenbrunner, G.- K. (Hrsg.), Weltkrieg der Propagandisten. Verdummung durch Wort, Bild und Werbung. München 1985, 87-101 (89).
16. Siehe Silnizki (wie Anm. 14).
17. Haller, J., Die russische Gefahr im deutschen Hause, in: Rohrbach, P. (Hrsg.), Die russische Gefahr. Beiträge und Urkunden zur Zeitgeschichte. Stuttgart 1917.
18. Nietzsche, F., Ecce Homo, in: Gesammelte Werke, hrsg. v. Wolfgang Denninger. Bindlach 2005, 1190.

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