Verlag OntoPrax Berlin

Posthegemoniale Dysbalance

Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht

Übersicht

1. „Rote Linien“
2. Gleichgewicht und/oder Hegemonie?
3. Neue geopolitische „Weltgeometrie“?
(a) Die Russland-Sanktionen und ihre Folgen
(b) Sicherheitspolitische „Weltgeometrie“

Anmerkungen

„Wen der Gott verderben will, den schlägt er
mit Blindheit.“
(Sophokles, Antigone)

1. „Rote Linien“

Wir schreiben das Jahr 2008. Es findet ein Krieg zwischen Georgien und Russland statt. „Krieg bringt Dinge ans Licht, die sonst verborgen bleiben“, sinnierte Michael Stürmer 2008 über den „kleinen Krieg … Georgien gegen Russland.“ „Russland“ hat – schreibt er weiter – „eine rote Linie gezogen und verlangt Respekt.“ In der „NATO-Mitgliedschaft … für Ukraine oder Georgien“ sehen die „Herrscher Russlands …, so im Herbst 2008 wörtlich, die >existenzielle Bedrohung<, die Krieg nach sich ziehen kann. Vielleicht ist das nur Warnung, vielleicht nur Bluff. Doch vieles spricht dafür, dass die Russen meinen, was sie sagen. Der Westen, der seit 1990 so viele rote Linien missachtete, wird gut beraten sein, noch einmal nachzudenken.“1

Wir schreiben das Jahr 2022. Vierzehn Jahre danach! Es tobt ein Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Der Ukrainekrieg hat den Westen (insbesondere die EU-Europäer) genauso, wie in den Jahren 2008 und 2014, kalt erwischt. Der Westen ist dem Rat von Michael Stürmer (und nicht nur von ihm) 2008 nicht gefolgt, Russlands rote Linien nicht zu missachten. Der Westen hat Russlands Warnungen vierzehn Jahre lang aus Hochmut komplett ignoriert, seine Drohungen als Bluff belächelt und alle roten Linien aus Machtarroganz missachtet.

Diejenigen, die heute vierzehn Jahre danach behaupten, Putin habe den Krieg in der Ukraine „unprovoziert“ vom Zaun gebrochen, sind entweder ahnungslos oder führen die Öffentlichkeit wider besseres Wissen bewusst in die Irre. Wer wissen wollte, konnte es seit 2008 und erst echt seit 2014 wissen. Die US-Geostrategen wussten es und nahmen einen möglichen Ukrainekrieg billigend in Kauf.2

Im Kriegsjahr 2022 hat sich Stürmers Warnung an den Westen aus dem Jahr 2008, die eigenen (geographischen) Grenzen der Macht in Europa nicht zu überschreiten, bewahrheitet. Insofern hat Stürmer recht, wenn er darauf hinweist, dass Russland „Außenpolitik nach Art des 19. Jahrhunderts (betreibt)“.3 Russlands Außenpolitik folgt in der Tat traditionell seiner geopolitischen Logik4, die in Carl Schmitts Worten gefasst lautet: Russische Raummacht richte sich nach dem Grundgedanken der „Unzulässigkeit von Interventionen raumfremder Mächte in einen von einem Ordnungsprinzip beherrschten Großraum.“5

Mit anderen Worten: Die Einmischung der raumfremden Mächte in den traditionell von Russland beherrschten oder beanspruchten Machtraum lehnt es kategorisch ab. Hier stehen das russische Großraumprinzip und das westliche, alle Grenzen überschreitende Universalprinzip unversöhnlich, ja feindselig gegenüber. Im Zeitalter der US-Hegemonialstellung und der NATO-Sicherheitsordnung in Europa erscheint ein wie auch immer gearteter Kompromiss zwischen den beiden Grundprinzipien praktisch ausgeschlossen, es sei denn auf dem Wege einer militärischen Konfrontation. Das war nicht immer so in der Geschichte Europas.

2. Gleichgewicht und/oder Hegemonie?

Spätestens seit dem im imperialen Frankreich von Napoleon Bonaparte erfundenen Mythos von „der russischen Gefahr“6 ist Russland aus der Geschichte Europas nicht mehr wegzudenken. Das Verhältnis zwischen Russland und Europa auf dem europäischen Kontinent war nicht immer und nicht nur spannungsgeladen. Es schwankte stets zwischen der „Unentbehrlichkeit“ und der „Unerträglichkeit“ Russlands in Europa – der Unentbehrlichkeit als Europas Verteidiger gegen die Hegemonie Frankreichs Anfang des 19. Jahrhunderts oder gegen die Unterwerfung Europas durch Nazideutschland während des Zweiten Weltkrieges und der unerträglichen Präsenz Russlands in Ost- und Mitteleuropa nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges.

Diese Schwankung zwischen „Unentbehrlichkeit“ und „Unerträglichkeit“ Russlands in Europa vollzog sich in den vergangenen 200 Jahren stets im Bann der antagonistischen Machtinteressen zwischen dem Hegemoniestreben einer europäischen Großmacht und dem Beharren auf das Gleichgewicht der übrigen europäischen Großmächte. Zur Bekämpfung einer solchen Hegemonie in Europa wurde Russland gebraucht. Es war unentbehrlich. Als diese Bekämpfung zu Ende war, war die Anwesenheit Russlands in Europa unerwünscht und darum unerträglich.

„Russland hatte man gebraucht, um die Macht der napoleonischen Armeen zu vernichten, aber schon in Waterloo 1815 … waren die Russen nicht mehr dabei gewesen. Frankreich wurde nach Napoleon gebraucht, Russland wieder an die Weichsel zu drängen.“7 Denn Russland wurde nicht mehr gebraucht; es war entbehrlich und sollte endlich gehen, ja aus Europa verschwinden. Für die Beseitigung der Hegemonie einer europäischen Großmacht in Europa war Russland also unentbehrlich, für das Gleichgewicht als Ordnungsprinzip gegen jedwede Hegemonie ist es aber überflüssig, störend und unerträglich? Diese ereignisreiche Hassliebe-Beziehung (mehr Hass als Liebe) zwischen Russland und Europa setzt sich bis zum heutigen Tag fort.

Warum eigentlich? Die vom Wiener Kongress von 1814/15 ins Leben gerufene europäische Friedensordnung bescherte Europa einen auf dem sog. „europäischen Machtkonzert“ ruhenden hundertjährigen Frieden, den Henry Kissinger auf einen ebenso griffigen wie fragwürdigen Nenner brachte: „Das Gleichgewicht der Macht verhindert den Umsturz der internationalen Ordnung; gemeinsame Werte verhindern das Bestreben, die internationale Ordnung umzustürzen.“8

Dass das Machtgleichgewicht die europäische Staatenwelt des 19. Jahrhunderts von Umwälzungen verschonte, ist ein historisches Faktum. Dass aber „gemeinsame Werte“ dafür verantwortlich waren, ist eine gewagte These. Das Denken in Begriffen von Wert und Unwert ist das Denken des 20. Jahrhunderts – eines Jahrhunderts der Ideologien und nicht des Machtstaatsdenkens des19. Jahrhunderts.

Kein Wunder ist es daher, dass eine Weltordnung in europäischen Kategorien des Machtgleichgewichts vom US-Amerikaner Woodrow Wilson als unmoralisch bekämpft und abgelehnt wurde. Nicht die „gemeinsamen Werte“, sondern die gemeinsamen Machtinteressen verhinderten das Bestreben, die europäische Machtstaatsordnung des langen 19. Jahrhunderts „umzustürzen“. Wie sollte sonst das autokratisch regierte Zarenreich, das auf „das monarchische Prinzip“ gegründete Deutsche Kaiserreich und der englische Konstitutionalismus auf einen gemeinsamen axiologischen Nenner gebracht werden?

Die europäische Staatenwelt des 19. Jahrhunderts war im Grunde eine Staatenordnung, der Gleichgewicht und Hegemonie gleichermaßen zugrunde lag: „Gleichgewicht zu Lande, Hegemonie zur See“, bezeichnete Michael Stürmer diese vom British Empire dominierte Staatenwelt des 19. Jahrhunderts. „Wenn dies ein Widerspruch war“ – meinte Stürmer verlegen -, „so lag darin doch die Voraussetzung der europäischen Stabilität.“9 Das war aber kein Widerspruch, wenn man bedenkt, dass das Machtgleichgewicht in Europa von Zeitgenossen immer schon angezweifelt und für eine Fiktion gehalten wurde. Nicht von ungefähr sprach Johann Heinrich Gottlob von Justi bereits 1759 von der „Chimäre des Gleichgewichts“.

Stürmer hat insofern recht, als er „das europäische Gleichgewicht“ als „eine Hegemonialordnung“ charakterisiert, „definiert aus dem Interesse der britischen See- und Handelsmacht“.10 Genau genommen, müssen wir von einer hegemonialen Machtgleichgewichtsordnung des 19. Jahrhunderts sprechen. Denn weder Gleichgewicht noch Hegemonie gab es in Reinkultur unter Herrschaft des europäischen Machtkonzerts. „Es ging um Sicherheit durch Gleichgewicht und stillschweigende englische Hegemonie … oder, wie Kissinger das Ganze zusammengefasst hat: >Ein Krieg gegen Eroberungen, nicht gegen eine Revolution<.“11 Es ging also primär um Geopolitik, nicht um Ideologie oder Axiologie.

Was wir allerdings seit dem Ende des „Kalten Krieges“ beobachten, ist ein Novum in der Geschichte der europäischen Staatenwelt, nämlich die Herausbildung eines europäischen Ordnungsprinzips, das man mit der Formel zusammenfassen könnte: US-Hegemonie zu Lande und zur See. Es entstand, anderes formuliert, ein hegemoniales Machtungleichgewicht bzw. eine hegemoniale Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung.

Diese hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent ist allein dem Umstand geschuldet, dass die USA sich nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als die gesamteuropäische Ordnungsmacht etablierten und zur Hegemonialmacht zu Lande und zur See in Europa aufgestiegen sind. Im Gegensatz zu den USA war das British Empire des 19. Jahrhunderts nicht an der Beherrschung des europäischen Kontinents zu Lande interessiert. „Großbritanniens Hegemonie war von jener Art, die sich mit dem Gleichgewicht des Kontinents vertrug, ja es voraussetzte,“12 wohingegen die US-Hegemonie von jener Art ist, die sich „mit dem Gleichgewicht des Kontinents“ nicht verträgt und eine hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent zur Voraussetzung hat.

Betrachtet man hingegen den globalen Raum der Gegenwart, so begegnet man einer völlig anderen Großmächtekonstellation, der weder Gleichgewicht noch Hegemonie noch hegemoniale Dysbalance, sondern eine posthegemoniale Dysbalance zugrunde liegt. Wir haben heute eine geo- und sicherheitspolitisch gespaltene Welt, in welcher die hegemoniale Dysbalance (in Europa) und die posthegemoniale Dysbalance (im globalen Raum) die zwei systembildenden Strukturen der globalen Sicherheits- und Friedensordnung sind, in deren Zentrum drei rivalisierende, bis an die Zähne bewaffnete Groß- und Supermächte stehen: die USA, China und Russland.

Eine solche der geopolitischen Großmächterivalität gleichzeitig zugrunde liegende hegemoniale und posthegemoniale Dysbalance verträgt sich nicht mit dem Machtgleichgewicht, erzeugt eine Instabilität der gesamten Weltordnung, kann auf Dauer unmöglich bestehen, birgt in sich die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation bis zu deren Entladung in einen globalen militärischen Konflikt und gefährdet darum den Weltfrieden.

Der tobende Krieg in der Ukraine ist womöglich nur der Anfang einer sich anbahnenden langen Großmächtekonfrontation. Er bestätigt nur noch eine Entwicklung, welche schon jetzt die seit dreißig Jahren bestehende hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent in Frage stellt. Falls der Waffengang aus russischer Sicht „erfolgreich“ (in welchem Sinne auch immer) verläuft, wird dieses europäische Machtungleichgewicht gesprengt. Falls er scheitert, kommt es zur Vertiefung der hegemonialen Dysbalance in Europa und zu einer weiteren Destabilisierung des europäischen Kontinents mit unabsehbaren Folgen.

Und sollte China mit den USA in einen geopolitisch und geoökonomisch motivierten Konflikt verwickelt und in dessen Folge selbst die posthegemoniale Dysbalance zur Disposition gestellt werden, dann wird die bestehende Weltordnung endgültig implodieren. Was dann an deren Stelle treten wird, steht in den Sternen.

3. Neue geopolitische „Weltgeometrie“?

(a) Die Russland-Sanktionen und ihre Folgen

Im Kriegsjahr 2022 begann eine neue Zeitrechnung. Es ist womöglich der Beginn der Überwindung der hegemonialen Dysbalance in Europa. Das Ende des „Kalten Krieges“ hat die USA ganz nach oben gespült. Sie sind von der einzig verbliebenen Supermacht zum Welthegemon aufgestiegen, deren Hegemonialmacht keine Grenzen und keine Hindernisse kannte. Dreißig Jahre danach sieht die Weltlage ganz anderes aus. Indem die USA sich in zahl- und sinnlosen und vor allem sündhaft teuren Kriegen verstrickten, sind sie an sich selbst gescheitert. Und nun fordert Russland die USA als die hegemoniale Ordnungsmacht in Europa geopolitisch und China die US-Hegemonie im globalen Raum geoökonomisch heraus. Es entsteht eine „Weltgeometrie“ (Michael Stürmer)13, deren Konturen zwar noch undeutlich sind. Sie deuten aber auf eine Entwicklung hin, welche eine posthegemoniale Dysbalance auch auf dem europäischen Kontinent eingeläutet hat.

Der alte Gegenspieler des „Kalten Krieges“ akzeptiert geopolitisch nicht mehr die von den USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts etablierten Spielregeln der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung. Und der neue Gegenspieler fordert die US-Hegemonialordnung geoökonomisch vehement heraus.

Gegenwärtig kann noch niemand sagen, wohin diese Entwicklung führt, auch wenn die Zeichen auf Konfrontation und Eskalation stehen und schon lange vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine nicht zu übersehen waren. Die aktuelle geopolitische Rivalität in Europa gebar aus sich ein Paradoxon: Je mehr Russlands Stellung in Europa für Russland infolge des ausgebrochenen Wirtschaftskrieges an Bedeutung verliert, umso mehr gewinnt sie an Bedeutung für Europa trotz oder gerade wegen des Versuchs der EU-Europäer, sich von Russland abzukoppeln.

Indem die EU-Europäer mit einer tatkräftigen Unterstützung der US-Amerikaner alles tun, um Russland von der ganzen Welt zu isolieren, bewirken sie genau das Gegenteil: Der „allmächtige“ Westen isoliert zuallererst sich selbst. Paradoxon? Wohl kaum!

Zum einen schließen sich die meisten Staaten den westlichen Wirtschaftssanktionen nicht an und denken im Traum nicht daran, sich von Russland isolieren zu lassen. Vielmehr ziehen sie für sich eher Vorteile daraus, was nebenbei gesagt auf einen dramatischen Verlust des Westens an Einfluss auf die außerwestlichen Kulturräume hindeutet.

Zum zweiten erleidet der kollektive Westen selbst (insbesondere die EU und noch mehr Deutschland) großen Schaden durch die eigenen Wirtschaftssanktionen, die wie ein Bumerang auf ihn zurückfällen. Viele Familienunternehmen, die ihr operatives Geschäft in Russland einstellen, berichten laut Rainer Kirchdörfer, Vorstand der Stiftung Familienunternehmen (Handelsblatt, 23. Mai 2022, S. 48), „dass die Regale in russischen Läden teilweise innerhalb von wenigen Tagen mit chinesischen Produkten aufgefüllt sind. China springt wie so oft in die Bresche.“ Hatte der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Anfang des Jahres mit einer erneuten Exportzunahme von gut sechs Prozent gerechnet, so heißt es nun, es werde 2022 „nicht viel mehr geben für die deutsche Exportwirtschaft als hoffentlich eine schwarze Null“: „Der Aufschwung im internationalen Geschäft wird jäh abgewürgt“, hielt DIHK-Außenwirtschaftschef Volker Treier kürzlich fest.14

„Als wichtigste Ursachen gelten neben den Folgen der aktuellen Lockdowns in China und fortdauernden Problemen bei der Versorgung mit unverzichtbaren Vorprodukten, etwa mit Halbleitern, der Ukraine-Krieg und die westlichen Russland-Sanktionen. Allein nach Russland exportierten deutsche Unternehmen im vergangenen Jahr noch Waren im Wert von fast 27 Milliarden Euro … Vor allem die Chemie- und die Metallbranche sind in hohem Maß etwa auf Erdgas angewiesen – nicht nur als Energieträger, sondern auch als Grundstoff – und leiden deshalb erheblich unter der Teuerung. >Wenn wir Produkte nicht mehr zu einem bestimmten Preis produzieren können, aber jemand im Ausland kann das leisten, dann wird sich der Markt dorthin verschieben<, konstatiert ein Vertreter des Verbands der Chemischen Industrie NRW.“15 Selbst strukturelle Schäden bis hin zu einem Verlust der ganzen Kernbranchen schließen manche Fachleute nicht mehr aus.

Zum dritten kann sich Russland im Gegensatz zu Europa im Zweifel autark entwickeln und den westlichen Sanktionen trotz der Schwächung der eigenen Wirtschaft Stand halten. Mit seinem „unverminderten imperialen Instinkt“16 und seiner strategischen Tiefe kann Russland geopolitisch und geoökonomisch eher als die EU überleben.

Bereits 2006 stellte Michael Stürmer zukunftweisend fest: Die USA seien „aus imperialer Hybris längst in imperial overstretch geglitten … Das Europa der Europäischen Union ist für den Ernstfall nicht gerüstet. Ohne Mitte, ohne Grenzen, ohne strategische Solidarität, sei es im Militärischen, sei es in der Energie, lernt es, dass soft power keine Sicherheit garantiert.“17 Bis heute hat sich daran kaum etwas geändert, obschon sich die Welt um Europa herum dramatisch verändert hat. Europa stagniert, tritt geopolitisch auf der Stelle, verweilt in einer sozialstaatlichen Selbstzufriedenheit und belehrt die ganze Welt mit seinem größten „Exportschlager“ Universalideologie über Demokratie und Menschenrechte, wohingegen Asien sich geopolitisch und geoökonomisch auf dem Vormarsch und auf der Überholspur befindet.

China ist zu einer geoökonomischen Supermacht aufgestiegen, Indien wird zur zweiten Großmacht in Asien und selbst die ASEAN-Mitgliedsstaaten sind tendenziell und potenziell auf der Überholspur, von Japan und Südkorea ganz zu schweigen. Geopolitische und geoökonomische Asymmetrien bauen sich zu Lasten Europas auf. Und was tun die EU-Europäer? Sie zetteln einen totalen Wirtschaftskrieg gegen Russland an und versuchen es von Europa wirtschafts-, handels- und finanzpolitisch zu isolieren, um Russland damit um jeden Preis selbst zum eigenen Schaden „ruinieren“ zu können. Das ist keine Außenpolitik, sondern „eine Obsession“ (George W. Ball), zumal die EU-Europäer daraus keinen geopolitischen oder geoökonomischen Surplus erzielen werden. Allein der US-Hegemon wird davon profitieren, und zwar auf Kosten einer geoökonomischen Schwächung der Europäischen Union.

  1. (b) Sicherheitspolitische „Weltgeometrie“

Der Westen hat offenbar aus den eigenen Fehlern nichts gelernt. Jahre und Jahrzehnte suchte er mit seiner NATO-Expansionspolitik erfolglos Russland sicherheitspolitisch zu marginalisieren. Das Ergebnis war aber das Gegenteil dessen, was man beabsichtigt hat.

„Was wir mit unserer dummen Politik in Osteuropa getan haben“ – entrüstete sich der US-Politologe John J. Mearsheimer eine Woche nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine -, „ist, die Russen in die Arme der Chinesen zu treiben … Das verstößt gegen das kleine Einmaleins der Politik des Machtgleichgewichts.“18 John Mearsheimers Entrüstung ist deswegen so bemerkenswert, weil der US-Amerikaner bereits in seinem aufsehenerregenden Aufsatz „Why We Will Soon Miss The Cold War“ aus dem Jahr 1990 treffsicher prophezeite, dass wir eines Tages bedauern werden, die Ordnung, welche dank dem Kalten Krieg an die Stelle des Chaos in den internationalen Beziehungen getreten sei, verloren zu haben.19 Ins gleiche Horn blies auch Michael Stürmer, als er 2001 darauf hinwies, „dass das System des nuklearen Friedens eine außerordentlich disziplinierende Kraft ausübte, die seitdem nur noch notdürftig aufrechterhalten wird.“20

Wie berechtigt John Mearsheimers Empörung und Michael Stürmers Feststellung ist, zeigt sich mittlerweile an den immer harscher und schriller werdenden Äußerungen seitens der geopolitischen Kontrahenten. Auf die Forderung der britischen Außenministerin Liz Truss, Taipeh militärisch zu un-terstützen, reagierte Wang Wenbin, Sprecher des chinesischen Außenministeriums, Ende April mit dem Hinweis, es sei sehr hilfreich, „über die Auswirkung der NATO-Osterweiterung auf den langfristigen Frieden und die Stabilität in Europa nachzudenken“. „Die NATO hat Europa in Unordnung gebracht“, fügte Wang hinzu und fragte dann empört: „Versucht sie nun, auch die Asien-Pazifik-Region und die ganze Welt in Unordnung zu bringen?“21

Stehen wir vor einem „neuen“ Kalten Krieg, der nicht mehr kalt bleiben wird? >Ins Chaos gestürzt< und >in Unordnung gebracht<, bewegt sich die US-Hegemonialordnung anscheinend auf eine gefährliche posthegemoniale Klippe zu, an der sie zerschellen kann.

Die Weltordnung des „Kalten Krieges“ war „global, bipolar und nuklear“, wie Raymond Aron und ihm folgend Michael Stürmer zu wissen glauben.22 Dem ist zu entgegnen: Globalität verträgt keine Bipolarität, wohl aber Hegemonialität. Diese setzt wiederum One World voraus, wovon die US-Amerikaner bereits während des Zweiten Weltkrieges zu träumen begannen.23 Die bipolare Weltordnung hat diese US-Träume zerschlagen und die Welt in zwei Teilen geteilt, die voneinander politisch, ökonomisch und militärisch abgeschottet waren.

War also die Weltordnung des „Kalten Krieges“ nuklear und bipolar, so kann die Weltordnung der vergangenen drei Jahrzehnte als nuklear und hegemonial charakterisiert werden, wobei diese Hegemonialität hier allein geoökonomischer und nicht geopolitischer Natur ist. Und genau darin besteht das Hauptproblem der US-Hegemonialordnung. Ihr ist es nicht gelungen, die ideologische Bipolarität in eine ideologische und geopolitische Unipolarität zu transformieren.

Die US-amerikanische „unipolare Weltordnung“ nach dem Ende des „Kalten Krieges“ war – ideologisch und geopolitisch gesehen – von Anfang an eine Fiktion. Indem es dem US-Hegemon nicht gelungen ist, die Welt ideologisch zu uniformieren, und das heißt: dem Diktat der westlichen Menschenrechtsideologie zu unterwerfen, wurde sie – je länger sie dauerte – instabil und dysfunktional.

Diese ideologische Dysfunktionalität ist zum Verhängnis der globalisierten Weltwirtschaft und der geopolitischen Vormachtstellung der USA im globalen Raum geworden. Heute stellen wir einen Erosions- bzw. Zerfallsprozess der ökonomischen Globalisierung fest und das nahende Ende der westlichen geoökonomischen Vormachtstellung im globalen Raum nicht zuletzt als Folge einer wachsenden Priorisierung des Ideologischen und Geopolitischen vor Geoökonomischem, die zu deglobalisierenden Tendenzen in der Weltwirtschaft geführt hat.

Diese ideologische und geopolitische Determinierung der westlichen Geoökonomie macht die globalisierte Weltwirtschaftsordnung zunehmend dysfunktional und ist der wesentliche Grund für die grassierende Großmächterivalität. Das Problem der westlichen Geopolitik im Zeitalter der US-Hegemonie (1991-2021) bestand darin, dass sie das Unmögliche möglich zu machen versuchte.

Drei Grundvoraussetzungen haben die Weltordnung des „Kalten Krieges“ zusammengehalten: (a) der stillschweigende Verzicht auf die gegenseitige Vernichtung infolge des nuklearen Patts; (b) der ideologische Glaube an die eigene Systemüberlegenheit, die sich langfristig durchsetzen wird, und schließlich (c) das gegenseitige Interesse der Supermächte an der Aufrechterhaltung des nuklearen Monopols.

Weil nun aber das nukleare Untergangsszenario infolge der Beendigung des Ost-West-Konflikts nicht stattgefunden hat und die eine der Supermächte von der Bühne der Weltgeschichte verschwunden, die andere zum Welthegemonen aufgestiegen ist, verloren die „nuklearen Waffen nicht nur ihre strukturbildende Funktion. Es ist auch das grobe Gleichgewicht der rough balance der beiden Supermächte mehr und mehr verloren. Die apokalyptische Dimension fächert sich auf und zerfasert“, sodass die auf dem nuklearen Frieden ruhende Weltordnung des „Kalten Krieges“, die auf die Systemrivalität eine selbstdisziplinierende Wirkung ausübte, „seitdem nur noch notdürftig aufrechterhalten wird“.24

Mehr noch: Selbst diese Notdürftigkeit unterliegt zunehmend der Schwindsucht, da der Westen sich mit seinem Streben, die Welt uniformieren zu wollen, ideologisch verrannt hat. Die Axiome der nicht hinterfragbaren westlichen Wert- und Ordnungsvorstellungen erzeugen ein „Syndrom eingebauter Blindheiten“25, das den Westen dazu verleitet, die nur die eigene im Kern starre, weil auf sich bezogene, inflexibel gewordene politische Denk- und Entscheidungsstruktur stets selbstbestätigend zu legitimieren, „die ihrerseits in besonders hohem Maße internalisiert ist und sakrosankt gilt“.26

Das etablierte auf den Kalten Krieg zurückgehende Denk- und Machtsystem erlaubt, kurz gesagt, allein nur die Denk- und Entscheidungsprozesse, die von den festgefahrenen Machtstrukturen längst festgelegt und vorgegeben sind.

Dieser ideologische Uniformierungswahn kann nur – zu Ende gedacht – in einem nuklearen Desaster enden. Die dreißig Jahre andauernde US-Hegemonie geht mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine beinahe nahtlos über in eine neue posthegemoniale Phase der Großmächterivalität, die geopolitisch und geoökonomisch zunehmend militant wird. Im Gegensatz zum „Kalten Krieg“ steht im Vordergrund kein ideologischer Systemwettbewerb, sondern eine geopolitische Rivalität, die (noch) mit den Mitteln des Geo-Bellizismus27 ausgetragen und als ideologischer Kampf zwischen „Demokratien und Autokratien“ (Joe Biden) verklärt wird.

Das bipolare „Doppelsystem von Abschreckung und Entspannung“28 wurde vom hegemonialen System von bellizistischer Selbstermächtigung und geoökonomischem Bellizismus abgelöst, das sich mittlerweile ebenfalls in Auflösung befindet. Die US-Hegemonialordnung, welche die US-amerikanischen Eliten seit eh und je in einem geoökonomisch-militärischen Bezugssystem definieren, funktioniert nicht mehr, weil es eine mächtige militärische und geoökonomische Konkurrenz bekommen hat. Ohne das funktionierende geoökonomisch-militärische Bezugssystem ist aber die US-Hegemonie auf Dauer nicht überlebensfähig.

Die Weltordnung artet – so gesehen – zunehmend in ein posthegemoniales Dysbalance-System mit gravierenden Folgen für den Weltfrieden aus. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums stiegen die USA zum weltweiten Alleinherrscher auf – zur Hegemonialmacht, die sich nicht nur als eine „Weltmacht ohne Gegner“29 positionierte, sondern auch und vor allem als eine Macht, die es sich leisten konnte, die erfolglosen und verlustreichen Kriege führen zu können, ohne daran zugrunde gehen zu müssen. Diese Zeiten sind unwiderruflich vorbei. Die geo- und sicherheitspolitische Weltgeometrie ändert sich buchstäblich vor unseren Augen und der beste Beweis hierfür ist der Krieg in der Ukraine.

Anmerkungen

1. Stürmer, M., Russland. Das Land, das aus der Kälte kommt. Hamburg 2008, 321.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands Dilemma, EU-Ohnmacht und die USA. Zu den bevorstehenden russisch-amerikanischen Verhandlungen. 3. Januar 2022, www.ontopraxiologie.de; Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Stürmer (wie Anm. 1), 325.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands Geopolitik. Zwischen Vergangenheit und Gegenwart. 23. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Schmitt, C., Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte, in: des., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916-1969, hrsg. v. Günter Maschke. Berlin 1995, 269-371 (283).
6. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Stürmer, M., Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte. München 2001, 36.
8. Zitiert nach Stürmer (wie Anm. 7), 40.
9. Stürmer (wie Anm. 7), 24.
10. Stürmer (wie Anm. 7), 40.
11. Stürmer (wie Anm. 7), 27.
12. Stürmer (wie Anm. 7), 35.
13. Stürmer (wie Anm. 7), 111.
14. DIHK: Deutsche Exportindustrie wird 2022 bestenfalls stagnieren. handelsblatt.com 12.05.2022, zitiert nach „Die Sanktionen schlagen zurück“, german-foreign-policy.com 27.05.2022.
15. Zitiert nach „Die Sanktionen schlagen zurück“ (wie Anm. 14).
16. Stürmer (wie Anm. 7), 9.
17. Stürmer, M., Welt ohne Weltordnung. Wer wird die Erde erben? Hamburg 2006, 11.
18. Zitiert nach Isaac Chotiner, Why John Mearsheimer Blames the U.S. fort he Crisis in Ukraine. Newyorker.com 01.03.2022.
19. Näheres dazu Silnizki, M., Europäische Sicherheitsarchitektur ohne Russland? Zum Problem der westlichen Sicherheitsstrategie. 17. Januar 2022, www.ontopraxiologie.de.
20. Stürmer (wie Anm. 7), 103.
21. Foreign Ministry Spokesperson Wang Wenbin`s Regular Press Conference on April 28, 2022. Fmprc.gov.cn 28.04.2022; zitiert nach german-foreign-pocy.com. 18. Mai 2022.
22. Vgl. Stürmer (wie Anm. 7), 102, 118.
23. Silnizki, M., „One World“. Utopie oder Zukunftsvision? 3. Januar 2022, www.ontopraxiologie.de.
24. Stürmer (wie Anm. 20).
25. Krippendorff, E., Pax Americana, in: Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozesse und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Suhrkamp Verlag 1970, 439-484 (446).
26. Krippendorff (wie Anm. 25), 449.
27. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA, 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
28. Stürmer (wie Anm. 7), 111.
29. Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000.

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