Verlag OntoPrax Berlin

Im Strudel des Vergänglichen

Zwischen Erosionsprozess und Bellizismus

Übersicht

  1. Der Machtkampf um „den Rest der Welt“
  2. Das „Ethos der Macht“ und die geopolitische Realität der Gegenwart

Anmerkungen

„Die Wirklichkeit ist oft bunter als die Phantasie.“ Die virtuelle Wirklichkeit unterscheidet sich freilich von der echten nur dadurch, „dass man die eine erlebt und die andere betrachtet.“ Moritz Julius Bonn (1873-1965)1

  1. Der Machtkampf um „den Rest der Welt“

In seinem immer noch lesenswerten, sarkastisch verfassten und 1996 nach seinem Ableben erschienenen Werk „Ketzereien“ schreibt Günther Anders (1902-1992): „Orthodoxie ist stets Ketzerei gegen die Wahrhaftigkeit; und umso ketzerischer, für je wahrer sie ihr Glaubenssystem hält.“1 Dasselbe können wir heute über die westliche bzw. US-amerikanische Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre sagen: Die vom Westen propagierte „werteorientierte Außenpolitik“ ist stets Ketzerei gegen die real existierende Welt; und umso ketzerischer, für je wahrer sie ihr axiologisches Glaubenssystem hält. Diese außenpolitische Orthodoxie macht das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten, indem sie den historisch gewachsenen, faktisch existierenden Wertepluralismus negiert. Das beinahe fanatische Festhalten am einzig wahren außenpolitischen Credo gleicht einem „kategorischen Imperativ“, der da lautet: Handle so, dass wenn der Westen von deinem Handeln Kenntnis hätte, er dieses Handeln billigen würde.

Dieser „kategorische Imperativ“ wird heute vor dem Hintergrund der immer schärfer werdenden Konfrontation zwischen den geopolitischen Rivalen Russland und China einerseits und dem Westen unter der US-Führung andererseits und in Anbetracht des immer selbstbewusster auftretenden sogenannten „Globalen Südens“ zunehmend in Frage gestellt. Macht duldet kein Vakuum. Und so konkurrieren dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erneut zwei feindselig gegenüberstehenden Machtblöcke: der konsolidierte Westen und eine immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen Russland und China, um den Rest der Welt. Bei einer eskalierenden, (noch) überwiegend geoökonomisch geführten Machtrivalität zwischen China und den USA und einer militärischen Konfrontation zwischen Russland und den Nato-Staaten auf ukrainischem Boden stehen die USA mittlerweile vor einem strategischen Dilemma: an zwei Fronten gleichzeitig oder nacheinander gegen Russland und China kämpfen zu müssen.

Die Frage ist nur, ob diese geopolitische und geoökonomische Rivalität den USA überhaupt die Wahl lässt, sich für eine der Alternativen entscheiden zu können. Folgt man Stephen M. Walts Ausführungen in seiner Veröffentlichung „U.S. Foreign Policy Is About to Get Boring“ (Foreign Policy, 4. Mai 2023), so will die Biden-Administration die Rivalität mit China in Grenzen halten.

Der US-Botschafter in China, Nicholas Burns, habe sich zu Gesprächen bereit erklärt und erwarte ein Entgegenkommen von China, berichtet Walt und fügt gleich hinzu: Die Biden-Administration sei sich darüber im Klaren, dass „eine weitreichendere Entkopplung“ (a more far-reaching decoupling) wirtschaftlich schädlich wäre, und es sei das Letzte, was sie sich im bevorstehenden Wahlkampf wünsche.

Walt verschweigt freilich nur, warum der US-Botschafter China zu Gesprächen aufruft. Die chinesische Führung verweigert bereits seit Monaten mit Verweis auf die bestehenden US-Sanktionen gegen den amtierenden chinesischen Verteidigungsminister jeden Kontakt mit der Biden-Administration. Der US-Hegemon wird dadurch von Chinesen düpiert und macht eine ungewohnte Erfahrung, von einer Gegenmacht vorgeführt zu werden, ist er es doch gewohnt, selber stets seine Macht durch Gesprächsverweigerung zu demonstrieren.

Nun wird es ihm mit gleicher Münze heimgezahlt und er ist empört und zugleich ratlos darüber, wie er damit umgehen sollte. Sich dieses geopolitischen Machtschwunds der USA voll bewusst, meint Walt beschwichtigend: „Die Beziehungen zwischen den USA und China werden sich im kommenden Jahr nicht bessern, aber sich auch nicht dramatisch verschlechtern … >Scranton Joe< mag nicht aufregend sein, aber man kann ihm vertrauen, dass er sein Bestes zum Wohle aller Amerikaner gibt. … Wenn Biden und Co. ihren Willen durchsetzen, wird die US-Außenpolitik in den nächsten anderthalb Jahren wahrscheinlich so langweilig wie möglich sein. Alles, was sie brauchen, ist, dass der Rest der Welt (the rest of the world) mitspielt.“

„The rest of the world“ müsse „nur“ mitspielen und dann werde alles, wie immer, gut sein. Eine Beschwörung oder ein frommer Wunsch? Wie auch immer, „langweilig“ wird die US-Außenpolitik allerdings im Zeitalter der ausgebrochenen Großmächterivalität und einer bereits weit fortgeschrittenen Emanzipation des „Globalen Südens“ nicht mehr sein. Zu viel steht für die US-Hegemonie auf dem Spiel. Zu wenig kann sie dagegen unternehmen. Weder „the rest of the world“ noch China noch Russland spielen noch mit. Und keine Beschwörungsformeln helfen dabei.

Es ist lange her, als die sog. „Dritte Welt“, die heute „Globaler Süden“ genannt wird, zwischen den zwei Fronten des „Kalten Krieges“ geriet und zerrieben wurde. Heute sind die Vertreter des „Globalen Südens“ auf einmal gefragte Gesprächspartner und willkommene Gäste bei beinahe jedem westlichen Gipfeltreffen. Um sie wird gebuhlt und sie werden umworben.

Die US-Außenpolitik versucht dabei eine zweigleisige Strategie zu fahren, die einer geopolitischen Quadratur des Kreises gleicht: Ein Werben um den „Globalen Süden“, der zunehmend selbstbewusster auftritt, sich neutral verhält, ohne sich dabei von Russland abwenden zu wollen, und eine geoökonomische Eindämmung Chinas ohne Trumps Entkopplungsstrategie bei einer gleichzeitigen geopolitischen und geoökonomischen Isolierung Russlands.

Fraglich ist nur, ob diese zweigleisige US-Strategie von Erfolg gekrönt sein wird. Die noch von der Trump-Administration eingeleitete Entkopplungsstrategie („decoupling“) ist schon heute weitgehend gescheitert. Und so beschwört auch Walt eindringlich: Es dürfe bloß keine „Entkopplung“ („decoupling“) zwischen China und den USA stattfinden. Denn sie sei das Letzte, was Biden im bevorstehenden Wahlkampf brauche.

Und so ist die transatlantische Machtelite auf der Suche nach einer neuer China-Strategie. Wer sucht, wird bekanntlich fündig. Das neue Zauberwort für die „neue“ China-Strategie heißt „De-Risking“. Das Schlagwort wurde von Ursula von der Leyen erfunden und in die geoökonomische Diskussion über die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Westen und China eingebracht. Es scheint tatsächlich auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein und ist mittlerweile in aller Munde.

Selbst Joe Bidens Sicherheitsberater, Jake Sullivan, hat neuerlich in seiner Grundsatzrede den Begriff bemüht, indem er die globalisierte Weltwirtschaft für gescheitert erklärt und sich statt freier Märkte für Abschottung des amerikanischen Marktes und Subventionierung strategischer Zukunftstechnologien ausgesprochen hat.

„De-Risking“ ist freilich nur das neue Schlagwort für die alte „Decoupling“-Strategie. Sie rechtfertigt zudem die Rückkehr der USA zum traditionellen US-Protektionismus. Immer dann, wenn die US-Wirtschaft nicht konkurrenzfähig wird, greift sie zum altbewährten US-Protektionismus, der heutzutage mit dem willkommenen Schlagwort „De-Risking“ verschleiert wird.

Die „De-Risking“-Strategie zielt laut der Studie von Jami Miscik, Peter Orszag und Theodore Bunzel darauf ab, „drei große Ziele zu erreichen: die Begrenzung der Fähigkeiten Chinas in strategischen Sektoren, welche Auswirkungen auf die nationale Sicherheit haben, wie z. B. im Bereich hochmoderner Halbleiter und anderer fortschrittlicher Technologien; Verringerung des Einflusses Pekings auf den Westen durch Untergrabung der chinesischen Dominanz auf dem Markt für bestimmte wichtige Vorleistungen, einschließlich kritischer Mineralien; und eine breitere Diversifizierung des wirtschaftlichen Engagements der Unternehmen, um die potenziellen Kosten einer plötzlichen Unterbrechung des Handels zwischen China und dem Westen zu senken.“2

Diese geoökonomische und technologische Rivalität zwischen China und dem Westen bzw. den USA betrifft unmittelbar auch „den Rest der Welt“. Und hier stellt sich die Frage: Welche Auswirkung hat die immer bedrohlich werdende Machtrivalität auf die ganze Welt? Wer wird sich durchsetzen können? Und wie verhält sich „der Rest der Welt“ dazu? Auf welche Seite der Konfliktparteien begibt er sich?

Bereits am 13. April 2023 fragte The Economist besorgt: „Kann der Westen (überhaupt) den Rest besiegen?“ (Can the West win over the rest?“). Das Bemerkenswerte an der geopolitischen Entwicklung des 21. Jahrhunderts sei, dass „mindestens 4 Milliarden Menschen oder mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in über 100 Ländern leben, die sich nicht für eine Seite entscheiden wollen“, schreibt The Economist und wirft die Frage auf: „Wer wird sich durchsetzen, wenn China und der Westen um Einfluss auf diese Länder wetteifern?“

Der Machtkampf zwischen China/Russland und dem Westen untereinander und um den „Rest der Welt“ ist voll entbrannt und hat mittlerweile gefährliche Züge angenommen. Es ist nicht allein China und Russland, womit sich der konsolidierte Westen unter der US-Führung konfrontiert sieht. Die beinahe schon pathologische Fokussierung des transatlantischen Machtkartells allein auf China und Russland blendet dessen dramatischen Erosionsprozess im globalen Raum aus und ignoriert die Entstehung und Ausbildung anderer Machtzentren neben China (wie BRICS, Indien, Iran, Nahe Osten usw.). „The rest of the world“ emanzipiert sich vom Westen und befindet sich in einem solchen Umbruch, der seinesgleichen sucht.

Zur Überraschung aller Seiten hat ausgerechnet der Ukrainekonflikt diese Entwicklung, die nicht mehr zu bremsen ist, ausgelöst. Die Zeit war offenbar reif und der Zeitgeist spielt mit dem Westen ein böses Spiel. Das hat sich bereits in den ersten Kriegsmonaten abgezeichnet, als das transatlantische Machtkartell Russland mit einem ökonomischen „Blitzkrieg“ in die Knie zu zwingen versuchte und dabei kläglich gescheitert ist.

Und so schreibt The Spectator resümierend fünfzehn Monate nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine in ihrem Artikel „Why the economic war against Russia has failed“ vom 13. Mai 2023: Der Westen habe den Sanktionskrieg gegen Russland mit einem selbstüberschätzenden Gefühl vom Zaun gebrochen, im Glauben die ganze Welt auf seine Seite ziehen zu können. Der Sanktionskrieg sollte einen finanziellen Schock in einem noch nie dagewesenen Ausmaß auslösen. Mit Sanktionen und Boykotten auf alle Importe und Exporte sollte Russland vom Rest der Welt abgeschnitten werden.

„Putins Russland“ sollte getreu dieser Blitzkriegsintention verarmen und kapitulieren (vgl.: Putin’s Russia, went the theory, would be impoverished into surrender). Kaum jemand im Westen wisse, wie schlecht dieser Sanktionskrieg laufe. Schlimmer noch: „Wie wir festgestellt haben“ – berichtet The Spectator -, „mangelt es den nichtwestlichen Ländern an der Bereitschaft, die Sanktionen gegen Russland … zu verhängen. Die Ergebnisse der Fehleinschätzung sind für alle sichtbar: Im April letzten Jahres prognostizierte der IWF, dass die russische Wirtschaft im Jahr 2022 um 8,5 Prozent und in diesem Jahr um weitere 2,3 Prozent schrumpfen werde. Wie sich jedoch herausstellte, sank das BIP im vergangenen Jahr lediglich um 2,1 Prozent, für dieses Jahr prognostiziert der IWF einen leichten Anstieg von 0,7 Prozent, obwohl der Ukrainekrieg viel schlimmer verläuft, als viele es sich im Februar letzten Jahres vorgestellt haben.“

„Die russische Wirtschaft wurde nicht zerstört“, resümiert The Spectator. „Sie wurde lediglich umkonfiguriert und neu ausgerichtet, sodass sie sich eher nach dem Osten und Süden denn nach dem Westen orientiert“ (The Russian economy has not been destroyed; it has merely been reconfigured, reorientated to look eastwards and southwards rather than westwards).

Die Folge dieser erstaunlichen Entwicklung ist, dass sich „der Rest der Welt“ vom Westen nicht mehr bevormunden lässt. Der globale Raum wird immer komplexer, komplizierter und zugleich fragmentierter und unberechenbar. Nicht immer weiß man so genau, wo die Frontlinienlinien verlaufen und wer mit wem gegen wen kämpft. Es ist die Zeit des Umbruchs und des Übergangs und keiner weiß, wohin das alles noch führen wird. Nur eins weiß unsereiner, dass es nicht so weiter wie bisher gehen kann.

Der um den US-Hegemon konsolidierte Westen kann diese wahrlich geopolitische Revolution weder ausbremsen noch aufhalten. Die zentrifugalen Kräfte dieses nicht mehr aufzuhaltenden Weltprozesses sind so stark geworden, dass sie uns hoffentlich nicht ins Weltchaos stürzen würden.

2.Das „Ethos der Macht“ und die geopolitische Realität der Gegenwart

Die US-Hegemonie duldet kein Machtvakuum. Die Frage ist nur, wie sie dieses Machtvakuum füllt, falls und sobald es entstanden ist. Ein solches Machtvakuum herrschte nach der Auflösung des Warschauer Paktes am 1. Juli 1991 und die USA haben in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre alles getan, um es mittels der Nato-Expansionspolitik zu füllen. War dieser Weg alternativlos? Aus der Sicht der US-Geostrategie war die Nato-Osterweiterung ohne Alternative.3

Infolge des Zusammenbruchs der bipolaren Weltordnung stand den USA keine gleichwertige bzw. gleichstarke Gegenmacht gegenüber, die der einzig verbliebenen Supermacht Parole bieten konnte. Russland schied aus und blieb in den 1990er-Jahren „ein Papiertiger mit Atomzähnen“ (Mao Tse-tung)4. Die Anerkennung der Sowjetunion als einer gleichwertigen Gegenmacht durch die USA war dahin und China war noch nicht soweit.

Unter den Bedingungen eines völlig zerstörten Machtgleichgewichts zwischen den ehemaligen Systemrivalen des „Kalten Krieges“ konnte die US-Außenpolitik die neuen Spielregeln einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung diktieren. Die andere Seite dieser geopolitischen Machtverschiebung war eine unwiderstehliche Sogwirkung des Machtvakuums, die von den weitläufigen Räumen Eurasiens ausging und zur Entscheidung der Clinton-Administration und der nachfolgenden US-Administrationen für die Nato-Osterweiterung ungeachtet der Warnungen seitens namhafter Russlandexperten5 führte.

„Wer das Ethos der Macht (exzessiv) ausleben will, von dem wir uns einreden, es existiere nicht, braucht Gegner, die er sorgsam auf Schlagdistanz halten muss“, glaubte schon Arnold Gehlen (1904-1976) zu wissen. „Diese können aber das Recht auf Dasein als einzige Karte nicht ausspielen, ohne sich in das Naturreich hineinzunivellieren – aber dort schlug es noch immer in das Recht des Stärkeren um.“6

Das „Recht des Stärkeren“ sei – folgt man Gehlens philosophischer Anthropologie – „das Ethos der Macht“ und dieses „Ethos“ kennt in seiner hemmungslosen Konsequenz keine Grenzen der Machtentfaltung und Machtausdehnung. Wer sich wie die USA dessen bemächtigt, glaubt „allmächtig“ zu sein und diese „Allmacht“ für sich allein und für immer beanspruchen zu können.

Auf der Höhe der US-Hegemonie schrieb Benjamin R. Barber zu Beginn des 21. Jahrhunderts 2003: „An der Hegemonie der Vereinigten Staaten besteht kein Zweifel.“7 Und Tim Wiener verkündete 2002 voller Stolz: „Die militärische, wirtschaftliche und politische Macht der Vereinigten Staaten lässt den Rest der Welt wie Liliput aussehen.“8 Die USA seien das einzige Land auf der Welt – fügte Michael Ignatieff ebenfalls 2002 zustimmend hinzu -, „das den Globus durch fünf über ihn verteilte militärische Befehlszentren überwacht, … auf allen Weltmeeren kampfbereite Flugzeugträgerverbände patrouillieren lässt, … die Räder des Welthandels antreibt und mit seinen Träumen und Sehnsüchten die Herzen und Hirne eines ganzen Planeten erfüllt.“9 Die Euphorie und Bewunderung der USA kennen auch bei Walter Russell Mead keine Grenzen. 2002 frohlockte er: Die USA seien „nicht nur die einzige Weltmacht; ihre Werte sind auch dabei, in einen globalen Konsens einzufließen, und sie dominieren in einem nie da gewesenen Grad die Entstehung der ersten wahrhaft globalen Zivilisation, die unser Planet je erlebt hat.“10

Die Euphorie ist inzwischen verflogen und keine zwei Jahrzehnte später gar in Katzenjammer umgeschlagen. „Der Rest der Welt“ ist heute genauso wenig ein „Liliput“, wie Russland und China „ein Papiertiger mit Atomzähnen“ sind. Bereits 2019 widmete sich die Drei-Länder-Tagung der politikwissenschaftlichen Fachverbände Deutschlands, Österreichs und der Schweiz an der ETH Zürich dem Thema „Das Ende des Westens? Liberale Ordnungen unter Druck“.

„Auch wenn der Obertitel noch mit einem Fragezeichen versehen ist“, kommentierte Ulrich Menzel die Tagungsankündigung in seiner Studie „Das Ende des atlantischen Westens: Die >Neue Seidenstraßeninitiative< als Projekt einer eurasischen Weltordnung“, „so reagiert die deutschsprachige akademische Zunft doch mit einiger Verspätung auf einen Prozess, der seit Jahren absehbar ist und unter dem Begriff >Second American Decline<, ablesbar an dem immer größer werdenden Doppeldefizit von Außenhandel und Haushalt, diskutiert wurde.“11

Wie begründet Menzel nun diesen US-amerikanischen „Decline“-Prozess? Die USA stehen seiner Meinung nach „vor dem klassischen Dilemma zwischen Positionsverlust als führende Wirtschaftsmacht und Statusverlust als liberale Ordnungsmacht. Wollen sie ihren Status behaupten und weiter die Fahne des Liberalismus hochhalten, verlieren sie ihre Position als Wirtschaftsmacht und erwirtschaften, gemessen am Aufwand, immer weniger Ressourcen, die notwendig sind, den Status zu exekutieren. Reagieren sie protektionistisch auf den Verdrängungswettbewerb von Seiten asiatischer und europäischer Länder, um die Position als Wirtschaftsmacht zu behaupten, und isolationistisch, um die Kosten für ihre internationalen Verpflichtungen zu reduzieren, verlieren sie den Status als Führungsmacht“ (ebd.).

Und an allem sei Trump schuld, der „das Dilemma im Sinne des America first … in der trügerischen Hoffnung“ aufzulösen sucht. Dieses von Menzel 2018 diagnostizierte US-Dilemma, das Trump mit seiner „America first“-Politik nicht auflösen konnte, hat sich heute verschlimmbessert. Freilich verstellt Menzels reduktionistische Fokussierung des US-Dilemmas allein auf einen ökonomischen bzw. geoökonomischen Erosionsprozess der US-Hegemonie den Blick auf eine bei weitem bedeutendere monetäre und militärische Seite dieses Dilemmas, welche den US-Status als weltweite Führungsmacht in Frage stellt.

Die monetäre und militärische US-Übermacht ist nicht mehr unumstritten und wird sowohl von Russland als auch von China zunehmend und nicht ohne Erfolg angefochten. Im Bereich der Nuklearaufrüstung und Hyperschallgeschwindigkeit ist Russland bereits in mancherlei Hinsicht führend und China übt u. a. – wie eine Analyse des Lowy Institute aus Sydney zeigt, „in Südostasien auf militärischem Feld bereits stärkeren Einfluss aus als die USA“.12

Nicht von ungefähr befasste sich eine Studie der RAND-Corporation bereits im Jahr 2016 mit der Möglichkeit eines amerikanischen Kriegs gegen China. Die Studie knüpft mit ihrem Titel „Krieg mit China: Das Undenkbare denken“ an die Strategiedebatten des Kalten Krieges“ an, die in den 1950er-Jahren maßgeblich vom Chefstrategen der RAND, Herman Kahn, geprägt wurden.

Was im Jahr 2016 noch als abstrakt und undenkbar erschien, könnte heute eine brutale Realität werden. Heute stehen die USA vor noch größeren Herausforderungen als damals. Im Verlauf des Ukrainekrieges traten geopolitische Entwicklungen zum Vorschein, die man sich vor dem Kriegsausbruch und schon gar nicht im Jahr 2016 bzw. 2018 vorstellen konnte:

  • Der westliche Sanktionskrieg gegen Russland hat zwar der russischen Volkswirtschaft Schaden zugefügt, zugleich aber die geoökonomische Ohnmacht des Westens offenbart, Russland ökonomisch „ruinieren“ zu können.
  • Der Ukrainekonflikt hat tiefe Graben zwischen dem Westen und dem Nichtwesten aufgetan und gezeigt, dass sich der Nichtwesten bzw. der sog. „Globale Süden“ oder „die Weltmehrheit“ (wie in Russland neuerdings „der Rest der Welt“ bezeichnet wird) auf dem Wege der Selbstemanzipation vom Westen befindet und nicht mehr bereit und gewillt ist, diesem bedingungslos zu folgen.
  • Die immer enger werdende strategische Partnerschaft zwischen Russland und China.
  • Eine weitere Fortbildung, Vertiefung und Erweiterung der neuentstandenen internationalen Institutionen (allen voran BRICS), die dem Einflussbereich des Westens entzogen wurden.
  • Ein monetärer Erosionsprozess der US-Hegemonie infolge der Schwächung des Dollars als Weltleitwährung.

Den USA geht es längst nicht mehr und nicht einmal in erster Linie um „den Statusverlust als liberale Ordnungsmacht“, sondern allein um die Aufrechterhaltung der US-Hegemonie um jeden Preis als „Geschäftsmodell“13 zur Abschöpfung des Überschusseinkommens der globalisierten Weltwirtschaft. Dieses Geschäftsmodell ist heute akut gefährdet, und zwar nicht nur seitens der rivalisierenden Nuklearmächte Russland und China, sondern auch seitens des sich vom Westen emanzipierenden „Globalen Südens“.

Der Rest der Welt ist nicht mehr bereit, nach den Spielregeln der sog. „regelbasierten Ordnung“ zu spielen, zumal die USA längst keine „liberale Ordnungsmacht“ mehr sind. Hier wird der US-Hegemonismus „liberal“ verklärt und mit „Liberalismus“ in unzulässiger Weise vermengt. Freiheit verträgt sich nicht mit Bevormundung und Hegemonie duldet keine Liberalität.

Den USA geht es heute um das nackte Überleben als Hegemonialmacht. Ohne ihre monetäre und militärische Vormachtstellung, werden sie nicht nur ihren Wohlstand verlieren, sondern auch zu einer Regionalmacht degradiert. Selbst ihre staatliche Einheit ist dann vom Zerfall bedroht. Nicht einmal ist auszuschließen, dass die USA zum „failed state“ werden. Darum werden sie zu allem bereit sein, um ihren „Status als Führungsmacht“ aufrechtzuerhalten.

Im Horizont dieser perspektivlosen Zukunftsaussichten für die US-Hegemonie kennt das „Ethos der Macht“ keine Grenzen und kein Erbarmen. In letzter Konsequenz bedeutet es die Bereitschaft eine potenzielle Machtentfaltung der Gegenmacht mit allen Mitteln selbst auf Kosten der eigenen Selbstgefährdung zu verhindern.

Das große geopolitische Spiel wird vor unseren Augen neu geschrieben. Die US-Weltdominanz droht samt dem konsolidierten Westen geopolitisch und geoökonomisch auf der Strecke zu bleiben. Die BRICS-Länder, die schon heute ein größeres Bruttosozialprodukt als die G7-Staaten erwirtschaften, erweisen sich als eine realistische Bedrohung und Gefährdung der US-Weltmachtstellung.

Und was die militärische Seite der Großmächterivalität angeht, so ist es fraglich, ob die USA samt ihrer Nato-Verbündeten der russisch-chinesischen militärischen Allianz standhalten könnten, sieht man von einer Nuklearoption eines möglichen Konflikts zunächst einmal ab.

Es sieht so aus, als hätte der Westen unter Führung des US-Hegemonen die besten Zeiten hinter sich. Vor diesem Hintergrund stehen wir womöglich vor einer kommenden Epoche der Umwälzungen mit unabsehbaren Folgen. Die US-Amerikaner und die EU-Europäer werden ihre fünfhundertjährige Weltherrschaft weder lautlos noch widerstandslos aufgeben und diese geopolitische Gemengelage birgt in sich eine Gefahr, die wir seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gesehen haben.

Anmerkungen

1. Bonn, M. J., So macht man Geschichte. Bilanz eines Lebens. München 1953, 380.
2. Miscik, J./ Orszag, P./ Bunzel, Th., The U.S.-Chinese Economic Relationship Is Changing – But Not Vanishing. How “De-Risking” Can Preserve Healthy Integration. Foreign Affairs May 24, 2023.
3. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US- amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Der Spruch richtete sich seinerzeit gegen die USA.
5. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. www.ontopraxiologie.de.
6. Gehlen, A., Moral und Hypermoral (1969). 5. Aufl. Wiesbaden 1973, 145 f.
7. Barber, B. R., Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt. München 2003, 18.
8. Wiener, T., Mexico`s Influence in Security Council Decision May Help ist Ties with U. S., The New York Times,
9. Nov. 2002, S. A 11; zitiert nach Barber (wie Anm. 1), 18. 9. Ignatieff, M., The Burden, The New York Times Magazine, 5. Jan. 2002, S. 22; zitiert nach Barber (wie Anm. 3), 18 f.
10. Mead, W. R., American Foreign Policy and How it Changed the World, New York 2002, S. 10; zitiert nach Barber (wie Anm. 3), 19.
11. Menzel, U., Tribut für China: Die neue eurasische Weltordnung, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 63 (2018), 49-60.
12. Till Fähnders, China und die USA buhlen um Südostasien. FAZ, 02.06.2023.
13. Vgl. Silnizki, M., „Globale Dominanz als Selbstzweck“? Zur Frage nach den „Pathologies of Primacy“ in der US-Außenpolitik. 29.März 2023, www.ontopraxiologie.de.

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