Verlag OntoPrax Berlin

Ein bestelltes Pamphlet?

Eugene Rumers Polemik gegen „Putins Krieg“

Übersicht

1.Der polemische Rundumschlag

2.Rumer versus Rumer: 2019 versus 2023

Anmerkungen

„Управлять Россией несложно, но совершенно бесполезно.“ (Es ist nicht schwer, Russland zu regieren; es ist bloß (nur) völlig nutzlos.) Alexander II. (1818-1881)

1. Der polemische Rundumschlag

Die unipolare Weltordnung tritt ins Endstadium ihrer Existenz. Diese Feststellung überrascht keinen mehr. Zu offenkündig sind die geopolitischen Machtverschiebungen seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine und ungeachtet der Tatsache, dass es dem (noch) amtierenden US-Hegemon gelungen ist, den Westen zu konsolidieren, hinter sich zu scharen und die westliche Einheitsfront gegen Russland in Stellung zu bringen. Der Zusammenbruch der amerikazentrischen Weltordnung ist unausweichlich. Die internationale Neuverteilung der Macht steht uns bevor und der Kampf um sie ist im vollen Gange. Es erstaunt keinen mehr, mit welcher ideologischen und propagandistischen Vehemenz und Gehässigkeit dieser Machtkampf ausgetragen wird. Erstaunlicher ist vielmehr jene geistige Metamorphose, welche manche Repräsentanten der sog. „Denkfabriken“ vollziehen. Die ideologischen Beharrungskräfte sind in unsereinem derart tief verankert, dass es beinahe unmöglich ist, sich davon zu befreien.

Noch vor wenigen Jahren veröffentlichten Eugene Rumer und Richard Sokolsky (senior fellows des Carnegie Endowment for International Peace) eine anspruchsvolle und nachdenkliche Studie „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“1, welche die berechtigte Frage aufwarf: Wie kann der Teufelskreis in den russisch-amerikanischen Beziehungen durchbrochen werden?

Und heute? Heute legt Eugene Rumer eine Schrift vor, die eine nüchterne und sachliche Analyse der erwähnten Studie vermissen lässt. Die in der Zeitschrift Foreign Affairs am 9. Juni 2023 veröffentlichte Schrift „How Putin’s War Became Russia’s War“ ist im Geiste von Hass, Ressentiment und Selbstgerechtigkeit geschrieben. Das ist keine wissenschaftliche Analyse der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts, keine wissenschaftliche Abhandlung und kein nüchternes Abwägen vom Sinn und Widersinn des Kriegsgeschehens, der westlichen Sanktionen, der westlichen militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine usw.

Nein, das ist eine hasserfüllte Abrechnung mit dem „Kriegsverbrecher“ Putin und „Putins Russland“. Ein Pamphlet! Ein bestelltes Pamphlet? Wer so schreibt, will Rache nehmen und bestrafen. Wer so vehement die Kriegsverbrechen der anderen anprangert, will die Kriegsverbrechen des eigenen Landes vergessen lassen. Wer sich so empört, will Selbstentlastung und Selbstgerechtigkeit.

Vergessen sind anscheinend längst die gut zwanzig Jahre andauernden US-Interventions- und Invasionskriege (1999-2021). Vergessen sind offenbar Hunderttausende namenloser Opfer dieser sog. „humanitären Interventionen“, die im Namen von Demokratie und Menschenrechte geführt wurden. Selbst manche Neocons gestehen mittlerweile ein, dass etwa der Irakkrieg ein „Fehler“ war2, auch wenn dieses Eingeständnis ziemlich euphemistisch klingt.

Gleich zu Beginn seiner Ausführungen formuliert Rumer zwei Kernthesen des Pamphlets:

  • „Russlands Präsident wird für immer als Kriegsverbrecher gelten“ (Russia’s president will forever be considered a war criminal). Die Kriegsfolgen seien noch weitreichender: Putin habe die Elite des Landes, sogar den vermeintlich liberalen Flügel, kooptiert und sie in Russlands Verbrechen in der Ukraine verwickelt.
  • Putin habe die Beziehungen Russlands zum Westen auf eine Weise vergiftet, die jeder Nachfolger nur schwer rückgängig machen kann.

Das sind erstaunliche Thesen, wenn man bedenkt, dass sie aus dem Munde eines US-Amerikaners stammen, dessen Land in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche brutalste völkerrechtswidrige Angriffskriege mit Hunderttausenden – wenn nicht gar mehreren Millionen – Opfern durchgeführt hat.3

Noch erstaunlicher ist, dass Rumer als ein durch und durch ausgewiesener Russlandkenner wider besseres Wissen Behauptungen aufstellt, die er in seinen ganzen Ausführungen nicht einmal nötig hatte, ein einziges Mal zu belegen.

Erst recht erstaunlich ist zu allerletzt die Tatsache, dass ausgerechnet Rumer in seinen früheren Veröffentlichungen auch den USA Mitschuld an den zerrütteten Beziehungen zwischen Russland und dem Westen gegeben hat.

Bereits 2019 hat Rumer mit seinem Co-Autor Richard Sokolsky in der eben erwähnten Studie die entstandenen Spannungen zwischen Russland und den USA zutreffend analysiert und damit erklärt, dass sich in den USA „the post–Cold War consensus“ herausgebildet und dass dieser Konsens dreierlei postuliert habe:

  • die US-Vormachtstellung in der unipolaren Weltordnung;
  • die Ablehnung jedweder Einflusssphären und schließlich
  • „commitment to democracy promotion“.

Um aus der entstandenen Sackgasse herauszukommen, hat Rumer folgende Vorschläge unterbreitet:

  • Die USA müssen Prioritäten setzen und sich in ihrer Beziehung zu Russland im Wesentlichen auf zwei Themen konzentrieren: „the nuclear relationship and strategic stability“;
  • Man sollte Russlands innenpolitische Angelegenheiten den Russen überlassen,
  • Man sollte die Nato-Osterweiterung anhalten und zur ureigenen Aufgabe der Allianz – „mission of collective defense“ – zurückkehren;
  • Man müsse der Ukraine und Georgien zu verstehen geben, dass sie ihre Außenpolitik nicht auf den Nato-Eintritt gründen sollten.
  • Eine Sanktionspolitik gegen Russland solle überdacht werden.4

Die Vorschläge wurden komplett ignoriert und sind nie in Erfüllung gegangen. Und was tut Rumer heute – vier Jahre danach? Er will davon nichts mehr wissen. Vielmehr reitet er auf der Welle der antirussischen Kriegspropaganda und ignoriert die eigene zutreffende Analyse der US-Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre.

Nun spricht Rumer in seinem Pamphlet von Putins „Schreckensherrschaft im eigenen Land, wie sie Russland seit den Tagen Josef Stalins nicht mehr erlebt hat“ (a reign of terror at home, the likes of which Russia has not seen since the days of Joseph Stalin), ohne dafür irgendwelche Beweise vorzulegen.

Dabei scheut er sich nicht nur nicht davor, Putin auf eine Stufe mit Stalin zu stellen, womit er zugleich Stalins Terror verharmlost, sondern zitiert in diesem Zusammenhang zustimmend auch Joe Biden, der bei seinem Besuch in Polen kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine ausrief: „Um Gottes Willen, dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben.“ (For God’s sake, this man cannot remain in power).

Ausgerechnet Joe Biden? Sollte ausgerechnet Biden als „Friedensapostel“ herangezogen werden, damit Rumer seine theatrale Empörung über eine vermeintliche „Schreckensherrschaft“ Putins artikuliert?

In seiner Zeit als Senator von Delaware plädierte der „friedensliebende“ Biden 1999 vehement für einen Krieg gegen Serbien und forderte die Hauptstadt Belgrad in Schutt und Asche zu legen. Ebenso unterstützte er als Hardliner unter den Demokraten die militärischen Interventionen in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) und galt als ein „vehementer Verfechter“ einer Militarisierung der US-Außenpolitik.

Weiß Rumer davon nichts? Wohl kaum! Als wäre das nicht genug, verklärt er die Wirtschaftsreformen der 1990er-Jahre als „liberal“5, beschimpft wüst die sog. „Systemliberalen“ (system liberals) als Komplizen von „Putins Regime“ in diesem „verbrecherischen Krieg“ und greift frontal die Chefin der russischen Zentralbank, Elvira Nabiullina, an.

Sie ermögliche heute – empört sich Rumer – „Putins Krieg, indem sie Russland von den Auswirkungen der westlichen Sanktionen zu isolieren versucht. In Zukunft wird sie wahrscheinlich mit Hitlers Lieblingsarchitekt, Albert Speer, verglichen werden, der dazu beitrug, die Nazi-Kriegsmaschinerie am Laufen zu halten.“

Was für eine Entgleisung! Zunächst wird Putin mit Stalin gleichgesetzt, dann mit Hitler verglichen und sein „Regime“ als „Schreckensherrschaft“ denunziert, womit im gleichem Atem Stalins Terror und Hitlers Barbarei verharmlost werden, sodann wird die russische Zentralbankchefin mit „Hitlers Lieblingsarchitekt“ identifiziert.

Die einen „Liberalen“ seien nach Rumer wie Sergej Kirijenko „die eifrigen Vollstrecker von Putins imperialer Vision“ geworden. Die anderen bleiben auf ihren Posten, weil sie angeblich „befürchten, verhaftet und als Verräter gebrandmarkt zu werden, oder weil sie behaupten, dass sie einer noch zerstörerischen Politik im Wege stehen“ usw. usf.

Rumers Verunglimpfung und Verleumdung kennen nicht nur keine Grenzen, sondern er blendet damit auch ganz bewusst die eigene sachliche und kenntnisreiche Analyse des Jahres 2019 aus und wird dadurch selber zum Komplizen der Biden-Administration und der vorangegangenen US-Administrationen, die den innerslawischen Konflikt zwischen Russen und Ukrainer geschürt und tatkräftig angefeuert haben.6

„Das Ausmaß von Putins Verbrechen übersteigt alles“, was die russischen Eliten (Russian elite) „sich hätten vorstellen können. Sie müssen wissen, dass Putin in den Augen der Welt nicht der alleinige Täter dieser Verbrechen ist. Sie sind auch direkt in sie verwickelt,“ schreibt Rumer, ohne auch hier irgendwelche Beweise vorzulegen.

Es stellen sich freilich zwei Gegenfragen: (1) Von welchen „Augen der Welt“ ist hier überhaupt die Rede? Meint Rumer unter „der Welt“ den Westen, so unterliegt diese Welt einer massivsten antirussischen Kriegspropaganda seitens der westlichen Mainstream-Medien, die ihresgleichen sucht. Die nichtwestliche Welt ist da schon ganz anderer Meinung, die Rumer allerdings nicht sonderlich interessiert.

(2) Die bei weitem wichtigere Frage stellt Rumer aber gar nicht: Übersteigen „Putins Kriegsverbrechen“ auch die US-Kriegsverbrechen in Serbien, Afghanistan, Irak usw.?

Mit dem Kosovo-Krieg etablierte der US-Hegemon eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Was aber die „Friedensbewegten“ wie Rumer betrifft, so empören sie sich weniger über die eigenen Kriegsverbrecher als vielmehr über die Schandtaten der geopolitischen Rivalen zwecks Befriedigung ihres pseudomoralischen Gewissens.

Mit dem Kosovo-Krieg wurde das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte unipolare Weltordnung übertragen. Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).6

Die Folgen der Systemtransformation der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ sind zahlreiche militärische Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt ein fortwährender Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit in den vergangenen zwanzig Jahren. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 wurden offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Manche Untersuchungen beziffern sie aber auf mehrere Millionen.

Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“7 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“ (ebd., 141). In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies die Opferzahl „bis zum Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.

Mit seinen Schimpftiraden und einer ihm völlig entgleisten substanzlosen Polemik ist Rumer freilich bei weitem nicht am Ende. Nun betreibt er auch eine Geschichtsklitterung. „Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, hat die russische Führung“ – beteuert Rumer – nie prinzipiell dafür plädiert, das Imperium des Landes aufzugeben. Stattdessen instrumentalisierte sie die Vorstellung von Russland als Opfer seiner imperialen Besitzungen für ihre eigenen politischen Ziele. Dieser Trick war der sicherste Weg zur Macht für Boris Jelzin … Aber nachdem Jelzins Unterstützer diesen Wettstreit gewonnen haben, machten sie sich wieder die Idee des Imperiums zu eigen.“

Nichts an diesen Auslassungen entspricht der historischen Wahrheit. Es reicht allein die Äußerung vom ersten Premierminister des postsowjetischen Russlands, Jegor Gajdar, in Erinnerung zu rufen, um Rumers Behauptung zu entlarven: „Пытаться вновь сделать Россию империей – значит поставить под вопрос её существование“ (Der Versuch, aus Russland erneut ein Imperium zu machen, bedeutet seine Existenz in Frage zu stellen).8

Überliefert ist auch die berühmte Äußerung von Boris Jelzin, der bei seinem Auftreten in Kasan am 6. August 1990 dazu aufrief: „Берите столько суверенитета, сколько сможете проглотить“ (Nehmen Sie so viel Souveränität, wie Sie schlucken können). Zwar wird Putins Äußerung: Die Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ oft dazu missbraucht, ihm eine restaurative bzw. revisionistische und neoimperiale Außenpolitik vorzuwerfen und der westlichen Öffentlichkeit zu suggerieren, dass er von einer Wiederherstellung des Sowjetreiches träume.

Dieser Suggestion fehlt aber jegliche geopolitische Substanz. Zum einen unterschlägt man eine andere, von Putin noch 2010 vertretene Auffassung: „Wer den Untergang der UdSSR nicht bedauert, hat kein Herz. Wer aber die UdSSR wiederherstellen will, hat keinen Verstand.“ Zum anderen würde sich Russland national- und geoökonomisch übernehmen, würde es das imperiale Abenteuer anstreben wollen.

Die Wiederherstellung des Imperiums in den Grenzen des untergegangenen Sowjetreiches wäre zum dritten allein schon deswegen unmöglich, weil der Nationalismus jeder Couleur im postsowjetischen Raum gedeiht und floriert. Nachdem der Geist des Nationalismus aus der postsowjetischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, ist es heute praktisch unmöglich, diesen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen, es sei denn mit brutalster Gewalt.

Im Schlepptau dieser Mainstream-Propaganda sucht Rumer gegen Ende seines Pamphlets Russen eine „Kollektivschuld“-These unterzujubeln und setzt damit auf subtilster Weise „Putins Krieg“ mit dem totalen Vernichtungskrieg Nazideutschlands gleich: „Putins Krieg“ sei nämlich „zum Krieg aller Russen geworden. Sein Vermächtnis wird Teil ihres Vermächtnisses bleiben, und es wird weiterhin schwer auf ihren inneren Angelegenheiten und den Beziehungen des Landes zum Rest der Welt lasten“ (Putin’s war has become the war of all Russians. His legacy will remain part of their legacy, and it will continue to weigh heavily on their domestic affairs and the country’s relationship with the rest of the world).

Spricht hier einer im Namen „des Restes der Welt“ oder identifiziert er den Westen mit dem „Rest der Welt“? Nein, Rumer tritt heute im Jahr 2023 nicht mehr als ein ausgewiesener Russlandkenner auf und auch nicht als außenpolitischer Experte des Jahres 2019.

Sein Ziel ist weder die Analyse der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts noch eine sachliche Darstellung des Kriegsgeschehens. Hier tritt vielmehr ein Propagandist und Pamphletist des Jahres 2023 auf, dessen Ziel mehr als durchsichtig ist: Russland solle vom „Rest der Welt“ isoliert, als Paria der Weltgemeinschaft an den Pranger gestellt und als ein ständiges Mitglied des Weltsicherheitsrates delegitimiert werden.

Versteht Rumer überhaupt, was er da propagiert? Und glaubt er wirklich, dass der Nichtwesten dem Westen folgen wird? Mit der Beantwortung dieser Fragen steht und fällt die Zukunft des Weltfriedens. Nicht mehr, aber auch nicht weniger!

2.Rumer versus Rumer: 2019 versus 2023

Geht man nun von Rumers und seines Co-Autors aufgestellten zwei Postulaten der Studie aus dem Jahr 2019 aus, dass nämlich (a) die Nato-Expansion „the principal instrument of U.S. security policy in Europe and Eurasia“ und (b) die Nato an und für sich „the vehicle of the continent’s post–Cold War transformation“ sei, so muss die nachfolgende Feststellung, dass „NATO’s expansion has not necessarily been directed against Russia,“ umso mehr irritieren.

Wozu braucht man dann die Nato als eine militärische Allianz, wenn sie nicht als „principal instrument“ und „vehicle“ zur Eindämmung („containment“) und Abschreckung eines potentiellen geopolitischen Rivalen dienen sollte? Heute wissen wir es.

Dass ein solcher potentieller geopolitischer Rivale nur Russland auf dem eurasischen Kontinent sein könnte, hat Paul D. Wolfowitz bekanntlich bereits im Jahr 1992 vorausgeahnt. In seinem 1992 konzipierten Präventivstrategiepapier „Defense Planning Guidance“ setzte Wolfowitz der US- amerikanischen Geopolitik zum Ziel, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“9

Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist die US-Eurasien-Strategie. Sie zielte darauf ab, Russland sicherheitspolitisch in ganz Europa zu neutralisieren und im postsowjetischen Raum zu marginalisieren.

Heute sehen wir die ganze Tragik dieser US-Russlandpolitik. Denn weder Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ noch die ideologisch geleitete Nato-Expansionspolitik waren zielführend. Der „imperialen Geostrategie“ ist es nicht gelungen, das „Bündnis“ der „Barbarenvölker“ (Brzezinski) zu verhindern. Und die ideologisch fundierte Nato-Expansion konterkarierte wiederum Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ und brachte die US-geostrategische Offensive in Eurasien zum Fall.10

Bis heute orientiert sich die US-Russlandpolitik ungeachtet des tobenden Ukrainekrieges an dieser verfehlten Strategie, ohne deren Scheitern zu analysieren, geschweige zu begreifen. Denn indem die Ideologie die Geopolitik wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts priorisiert, unterminiert sie automatisch zumindest Brzezinskis dritte „große Imperative imperialer Geostrategie“, nämlich die Bündnisverhinderung der „Barbarenvölker“. Kissinger hat uns Anfang der 1970er-Jahre gezeigt, dass es auch anderes gehen kann.

Offenbar blendet Rumer samt dem gesamten außenpolitischen US-Establishment die eigene erfolgsreiche Geschichte der US-Außenpolitik aus Übermut und/oder Ignoranz aus. Der Auslöser dieser ideologisch fundierten US-Russlandpolitik war Clinton. In seiner 1994 gehaltenen Rede „State of the Union“ formulierte er das ideologische Motto seiner Außen- und Sicherheitspolitik: „democracies do not attack each other.“11

Daraus wurde der Schluss gezogen, dass die Demokratisierung der neuen Nato-Mitglieder die Sicherheit in Europa stärken würde. Und so wurde die Nato – schlussfolgerten Rumer/Sokolsky – „zum Instrument der Förderung der Demokratie“ (NATO became an instrument of democracy promotion).

Dass diese ideologische Leitidee: „democracies do not attack each other“ nicht nur Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ konterkarierte, sondern auch die US-Außenpolitik militarisierte bzw. „die Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) auslöste, will die US-Außen- und Geopolitik bis heute nicht wahrhaben.

Es war ein tiefsinniger, aber viel zu früh verstorbener deutscher Gelehrter, Herbert Dittgen (1956-2007), der bereits im Jahr 1996 geradezu prophetisch darauf hingewiesen hat, dass die „Gefahr von militärischen Kreuzzügen im Namen der Demokratie unübersehbar“ sei,12 sollte der Westen seine ideologischen Postulate von Demokratie und Menschenrechten gegenüber den nichtwestlichen Kultur- und Machträumen kompromisslos durchsetzen wollen. Und so ist es, wie Dittgen vorausgesehen hat, auch gekommen.

Die Nato-Expansion und die Verbreitung der Demokratie in Russland waren nach Rumers/Sokolskys Auffassung „the quintessential manifestation of the broader U.S. global strategy since the end of World War II.“ und sie haben die US-Russlandpolitik wesentlich geprägt. Diese US-Russlandpolitik würde selbst dann fortgesetzt, als mit der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation im Jahr 2014 „the end of the post–Cold War era“ besiegelt wurde.

In der trügerischen Ruhe und Sicherheit verweilend, glaubten die EU-Europäer Russlands Widerstand gegen die Nato-Osterweiterung aus Machtarroganz ignorieren zu können. Der schwelende Konflikt hat sich in den vergangenen drei Jahrzehnten derart hochgeschaukelt, dass er zum explosiven Gemisch von Drohung und Gegendrohung, Provokation und Gegenreaktion, Expansion und Eskalation geworden ist, bis er sich nun am 24. Februar 2022 in einem blutigen Ukrainekonflikt entlud

„Unprovoziert“ nennt der Westen heute den Kriegsausbruch in der Ukraine, wohl wissend, dass er selber derjenige war, der Russlands Sicherheitsinteressen stets ignorierte, die Konfrontation billigend in Kauf nahm und eine Eskalation kaltblütig provozierte. Offenbar haben die EU-Europäer ihre zwar „glorreiche“, nicht desto weniger aber gescheiterte Geschichte des „europäischen Imperialismus“ längst vergessen, sonst hätten sie die Folgewirkung der Nato-Expansionspolitik ernstgenommen.

Zu Recht wiesen Rumer/Sokolsky daher im Jahr 2019 darauf hin, dass es ein Fehler wäre zu glauben, dass Imperialismus und Revanchismus die einzigen Beweggründe der russischen Außenpolitik seien. Man darf auch die anderen Faktoren nicht ignorieren (It would be a mistake, however, to focus solely on imperialism and revanchism as the drivers of Russian foreign policy to the exclusion of other factors).

Davon will Rumer heute nichts mehr wissen und nichts hören.

Aus der Kreml-Perspektive bedeute nämlich der Zerfall des Imperiums nicht nur ein Verlust an Status und Prestige, sondern auch und vor allem „der Verlust der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security). Nach dem Untergang der UdSSR verlaufe die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben – fügen Rumer/Sokolsky zutreffend hinzu -, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic depth) zurückzugewinnen, bestimmen im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy).

Damit hat die Studie des Pudels Kern der russischen Außen- und Geopolitik getroffen. Nicht der Russland unterstellte „Imperialismus“ und „Revanchismus“, sondern die Rückgewinnung oder zumindest die Verstetigung eben dieser „Strategic Depth“ ist im Wesentlichen die Intention der russischen Geo- und Sicherheitspolitik. Dem steht zweifelsohne die Nato-Expansionspolitik im Wege.

Summa summarum stellt die Studie fest: Die russische Außenpolitik verfolgt drei voneinander untrennbare und aufeinander bezogene Ziele: die äußere Sicherheit, die innere Stabilität und die ökonomische Prosperität (physical security, domestic stability, and economic prosperity). Die Nichtrealisierung eines dieser Ziele bringe schwerwiegende Folgen für alle anderen mit sich.

Das alles überragende sicherheitspolitische Ziel der russischen Außenpolitik ist die Expansionspolitik der westlichen Allianz, die sich als „the only legitimate security organization for Europe and Eurasia“ gebärdet, um jeden Preis zu verhindern, weil sie Russlands nationale Sicherheit (Russian national security) und – man möchte hinzufügen – die Existenz Russlands bedrohe. Bei aller Erkenntnis dieses Sachverhaltes plädieren Rumer/Sokolsky dessen ungeachtet weiterhin für „NATO’s Open Door policy“ und folgerichtig für die grundsätzliche Fortsetzung der Nato-Expansionspolitik.

Diese kognitive Dissonanz ist umso erstaunlicher, wenn man den Schluss der Studie liest: Russland sei ein bedeutender Akteur auf der Weltbühne mit weitgehenden Ambitionen und signifikanten Möglichkeiten und seine Selbstaufgabe wäre in den 1990er-Jahren eher Ausnahme als Regel, sodass es den Verhandlungstisch zu Regulierung zahlreicher globaler Krisen und regionaler Konflikte nie räumen würde.

Diese Erkenntnis ist freilich nichts wert, solange das US-amerikanische außenpolitische Establishment historische Erfahrung mit dem Zeitalter des europäischen Imperialismus völlig ausblendet. Und diese Erfahrung lehrt uns, dass die Nato-Expansion und der damit eingehende Versuch, Russlands strategische Tiefe zu sprengen und Eurasien getreu Brzezinskis „imperialer Geostrategie“ zwecks einer dauerhaften Aufrechterhaltung der unipolaren Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen zu kolonialisieren, unweigerlich „die Gefahr der Tyrannis“ heraufbeschwört und die Gegenwehr auf den Plan ruft. „Dies wusste schon Robespierre, als er ausrief: >Périssent les colonies si elles nous en coutent l´honneur, la liberté<.“13

Dass die US-amerikanische Russlandpolitik aus Ignoranz oder Machtarroganz davon bis heute nichts wissen und hören will, zeigt nicht nur, wie gefährlich der gegenwärtig auf ukrainischem Boden ausgetragene blutige Konflikt zwischen Russland und den USA (und nur um diesen Konflikt geht es hier überhaupt) ist, sondern weist auch auf den Mangel an Urteilskraft des außenpolitischen US-Establishments hin, der den Weltfrieden mit seiner Expansionspolitik gefährdet.

Die bereits in seiner Studie aus dem Jahr 2019 angelegte kognitive Dissonanz hat sich in Rumers Pamphlet des Jahres 2023 voll durchgeschlagen. Nur eine einzige Frage bleibt ungeklärt: Wurde dieses Pamphlet aus eigenem Antrieb oder auf Bestellung verfasst?

Anmerkungen

1. Rumer, E./Sokolsky, R., „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“ Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019.
2. Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der „dangerous naiveté“ in der US-Außenpolitik. 21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl. Silnizki, M., Die humanitären Interventionen und die US-Invasionen als Funktion der neuen Hegemonialordnung, in: ders., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 82 ff.
4. Zitiert nach Silnizki, M., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar 2023, www.ontopraxiologie.de.
5. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
6. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
7. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132).
8. Гайдар, Е., Гибель империи. РОССПЭН 2006, 10.
9. Zitiert nach Kubbig, B. W., Wolfowitz` Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
10. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US- amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Bill Clinton, “January 25, 1994: State of the Union Address,” Miller Center; zitiert nach Rumer/Sokolsky.
12. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Strategie, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (316).
13. Zitiert nach Arendt, H., Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1967, 218.

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