Verlag OntoPrax Berlin

In einer Eskalationsfalle

Zur Frage der Kriegsverhütung und Kriegsvermeidung

Überblick
  1. „Peace to end peace“
  2. Machtgleichgewicht als Kriegsvermeidungsstrategie
  3. Gefangen in der Logik der Eskalation
Anmerkungen

„Only the dead have seen the end of war.“

(Nur die Toten haben das Ende des Krieges gesehen)

(George Santayana)

  1. „Peace to end peace“

Unter Applaus im Bundestag hat der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bei der Regierungsbefragung am 24. Mai 2023 öffentlich kundgetan, was alle schon längst wussten. Wir sind im Ukrainekrieg massiv involviert. Ohne den Westen, die USA, die EU und auch Deutschland wäre der Ukrainekrieg morgen zu Ende. Wörtlich sagte Pistorius mit kaum zu überbietender Deutlichkeit: „Wenn wir aufhören Waffen zu liefern, wäre das Ende der Waffenlieferungen heute das Ende der Ukraine morgen. Das mögen Sie wollen und akzeptieren, wir tun es nicht.“

Das bedeutet aber, dass wir – sieht man von der juristischen Akrobatik ab – de facto einen Krieg gegen Russland führen. Warum führen wir aber einen Krieg gegen Russland? Im Namen des Völkerrechts? … der Menschenrechte? … der Demokratie? Weil sich die Aggression nicht lohnen darf?

Diese öffentlichkeitswirksam propagierten Kriegsziele gegen Russland entbehren jeder Glaubwürdigkeit, hat der Westen doch selber allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten zahlreiche völkerrechtswidrigen Angriffskriege geführt und die Menschenrechte mit Füßen getreten.

Wie ist es sonst zu verstehen, dass dieser auf ukrainischem Boden tobende Krieg so viele Gemüter aufgewühlt hat, so viel Hass erzeugt und die deutschen Macht- und Funktionseliten trotz all der entsetzlichen Erfahrungen im 20. Jahrhundert ausgerechnet gegen Russland in Stellung gebracht hat?

Träumten wir nach dem Ende des „Kalten Krieges“ nicht vom „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und in dessen Gefolge vom Ende des Krieges als ein Mittel der Politik? Bereits nach dem Ende des Ersten Weltkrieges war man bitter enttäuscht darüber, dass die Welt danach friedlos geblieben ist. So war der britische Stabsoffizier (ein späterer Feldmarschall und Vizekönig von Indien) Archibald Wavell entsetzt über die Beschlüsse der Pariser Friedenskonferenz, als er in Umdeutung der 1914 von H. G. Wells geäußerten Hoffnung „war to end wars“ sarkastisch anmerkte: „Nach einem >war to end wars< scheint es, dass man in Paris ziemlich erfolgreich einen >peace to end peace< geschaffen hat.“1

Haben wir nicht auch nach dem Ende des „Kalten Krieges“ in Europa einen „peace to end peace“ –

„einen Frieden, um den Frieden zu beenden“ – geschaffen? Heute stehen wir vor dem Scherbenhaufen dieses friedlosen Friedens. Ist Politik vielleicht längst „die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“ (um Clausewitz` zu paraphrasieren)2? Können wir heute nicht mehr zwischen Krieg und Frieden unterscheiden?

„Inter pacem et bellum nihil medium“ (Cicero). Bereits Carl Schmitt hat irritiert auf die „Abnormität eines Zwischenzustandes“ hingewiesen, „der gleichzeitig weder Krieg noch Frieden und doch auch sowohl Krieg wie Frieden ist“. „Das eigentliche Problem“ sah er dabei nicht so sehr im „Kriegsbegriff“ als vielmehr im Begriff „des echten Friedens.“3

Seit dem Ende des „Kalten Krieges“ sind wir auf der Suche nach einem „echten Frieden“. Kämpfen

wir auch heute gegen Russland für die Ukraine um eines „echten Friedens“ willen? Oder geht es uns um

etwas ganz anderes? Was haben wir überhaupt mit der Ukraine zu tun? Die Ukraine war seit Jahrhunderten ein integraler Bestandteil des ostslawischen Raumes, sieht man von Ostgalizien ab.

Dieser Krieg ist ein innerslawischer Konflikt. Der Westen mischt sich in einen Konflikt ein, der ihn gar nichts angeht. Genauso wie zurzeit des russischen Bürgerkriegs nach der Oktoberrevolution wird der Westen auch jetzt scheitern.

Was wollen wir aber in diesem Krieg überhaupt erreichen? Wollen wir wirklich „das Ende der Ukraine“ verhindern, wie Pistorius beteuert? Wollen wir Russland eine „strategische Niederlage“ zufügen, wie die Biden-Administration anstrebt? Oder wollen wir „einfach“ Russland „eine Lehre erteilen“, wovon die Transatlantiker träumen?

Und was will die russische Führung? Russland will nach eigener Bekundung das Ende der Nato- Expansion gen Osten und nicht „das Ende der Ukraine“! Aus russischer Sicht bedeutet die vom Westen erstrebte „strategische Niederlage“ „das Ende Russlands“. Will Pistorius das Ende Russlands, um „das Ende der Ukraine“ zu verhindern? Wenn nicht, so soll er dann statt Waffenlieferungen an die Ukraine die „Open Door-Policy“ der Nato zur Disposition stellen und sich für deren Ende einsetzen.

Dann geht auch der Spuck des Krieges sehr schnell zu Ende. Mit Waffenlieferung und Kriegsfinanzierung wird er hingegen weder den Krieg beenden noch „das Ende der Ukraine“ verhindern können. Statt Waffenlieferungen an die Ukraine sollte der Westen lieber seine aussichtlose, weil strategisch völlig gescheiterte Russlandpolitik revidieren.

Aber genau diese Revision der westlichen bzw. US-Russlandpolitik ist weit und breit nicht zu sehen. Die gescheiterte US-Außenpolitik, die spätestens seit der Trump-Administration und lange vor Bidens Mannschaft ihre strategischen Weichen gestellt hat, hat zur Entstehung einer mächtigen strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China geführt. Die verfehlte US-Russland- und China-Politik hat die beiden Länder strategisch geradezu aneinander gekettet. Die russisch-chinesische Partnerschaft war seit den 1950er-Jahren unter Stalin und Mao Tse-tung nicht so stark und eng wie heute.

Die geballte russisch-chinesische Gegenmacht hat Potenz die US-Weltdominanz nicht nur herauszufordern, sondern auch zum Fall zu bringen. Dass Pistorius diese geostrategische Machtverschiebungen ignoriert und glaubt, mit deutschen Waffenlieferungen „das Ende der Ukraine“ zu verhindern, ist wenig verwunderlich.

Verwunderlicher ist da schon ein seit Wochen tobende heftiger Streit in den USA über das US- Engagement in Europa im Zusammenhang mit dem Ukrainekonflikt und der China- bzw. „Asia First”- Politik. Der Ukrainekrieg und die wachsenden Spannungen im Indopazifik haben eine strategische Debatte unter den einflussreichen US-amerikanischen Gelehrten, Analysten und Kommentatoren ausgelöst. So berichtete Michael J. Mazarr(der leitende Politikwissenschaftler bei der RAND Corporation) in einem Artikel „Why America Still Needs Europe“ (Foreign Affairs, 17. April 2023) über zwei gegnerische Lager.

Die sog. „Realisten“ (Emma Ashford, John Mearsheimer, Barry Posen und Stephen Walt) haben sich mit einer „einflussreichen Bande chinesischer Falken“ (influential band of China hawks) verbunden, angeführt von der ehem. Pentagon-Beamtin Elbridge Colby, und fordern die US-Verpflichtungen in Europa radikal einzuschränken. Vielmehr trommeln sie für eine „Asia First”-Politik.

Der entscheidende Machtkampf um die Weltherrschaft finde nach Auffassung der „Realisten“ im Indopazifik gegen China und nicht in Europa gegen Russland statt. Washington müsse darum alle seine Ressourcen bündeln und sich auf diese geopolitische und vor allem geoökonomische Konfrontation des

21. Jahrhunderts wappnen. Eine solche US-Außenpolitik, welche die „Asia First”-Strategie proklamiert und gegen das US-Engagement in Europa ausspielt, lehnte Mazarr kategorisch ab.4

Als Reaktion darauf verfassten die kritisierten Emma Ashford, Joshua R. Itzkowitz Shifrinson und Stephen Wertheim eine umfangreiche Gegenschrift mit der Überschrift „Does America Still Need Europe? Debating an “Asia First” Approach“ (Foreign Affairs, 22. Mai 2023), indem sie zu Mazarrs Kritik dezidiert Stellung nahmen.

Am Ende der Gegenschrift veröffentlichte Foreign Affairs sodann Mazarrs Erwiderung auf die Erwiderung. Analysiert man diese Debatte vor dem Hintergrund der US-Außenpolitik, so wird deutlich, nach welchen Prämissen und Annahmen die „Realisten“ ihre strategischen Überlegungen anstellen:

  • Die USA können nicht gleichzeitig an zwei Fronten gegen Russland und China kämpfen.
  • „Der unipolare Moment ist vorbei und die USA sehen sich einem aufstrebenden asiatischen Herausforderer gegenüber“ (The unipolar moment is over and the United States faces a rising Asian challenger).
  • Eine mögliche Aggression gegen einen Nato-Mitglied würde unweigerlich eine US-Vergeltung mit sich bringen. Die russische Bedrohung sollte freilich genauso wenig unter- wie übergeschätzt werden. Denn „die verpfuschte Ukraineinvasion“ (botched invasion of Ukraine) zeige, dass Russland auf absehbare Zeit über keine ausreichende militärische Macht und ökonomische Ressourcen verfüge, um den europäischen Kontinent zu überrennen und damit die vitalen US-Sicherheitsinteressen zu bedrohen.
  • Der Status quo der unipolaren Welt sei nicht mehr aufrechtzuerhalten, selbst wenn die Abschreckung gegen China und Russland gelänge.
  • Eine erdrückende US-Dominanz habe die Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten in Europa unterminiert. Da aber „der unipolare Moment“ vorbei sei und die USA große innen- und außenpolitische Herausforderungen haben, bedürfe es einer Kurskorrektur. Die transatlantische Verteidigungslast sollte sich zu Lasten Europas verschieben. Die EU-Europäer sollten verteidigungspolitisch selbst- und eigenständiger werden.

All diese Prämissen und Annahmen sind laut Mazarrs Erwiderungsschrift „vage“ formuliert und

„zweideutig“. Diese Zweideutigkeit lasse sie in einem strategischen Niemandsland zurück (This ambiguity leaves them in a strategic no man’s land): Einerseits drängen die „Realisten auf Kürzungen der US-Streitkräfte in Europa, andererseits lassen sie anscheinend eine dauerhafte militärische US- Präsenz in Europa bzw. ein Verbleib der USA in der Nato zu.

„Eine derart zweideutige Position“ (Such an ambiguous position) – meint Mazarr – riskiere die Abschreckung (deterrence) zu untergraben und die US-Glaubwürdigkeit in Frage zu stellen.

Analysiert man nun das strategische Denken der beiden Kontrahenten, so stellt man fest, dass das Charakteristische für sie eine überwiegend militärpolitische Betrachtung der geopolitischen Entwicklungen in Europa und im Indopazifik ist. Ein solches Denken folgt seiner Natur nach erstens allein der Logik der Konfrontation und Eskalation bei gleichzeitiger Ausklammerung der eigenen verfehlten US-Außenpolitik, die der geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation mit China und Russland vorausgegangen ist.

Und zweitens wird innerhalb dieser militärpolitischen Betrachtung merkwürdigerweise eine Nuklearoption des Konflikts komplett ausgeblendet, als wäre das nukleare Zeitalter mit dem Ende des Ost-West-Konflikts ebenfalls zu Ende gegangen. Hochmutig und verächtlich schätzen die beiden Kontrahenten deswegen die militärischen Fähigkeiten Russlands mit Verweis auf die vermeintlich

„verpfuschte Ukraineinvasion“ (botched invasion of Ukraine) gering und werten diese verglichen mit dem militärischen Nato-Potential unterschwellig ab. Sie vergleichen damit das Unvergleichbare, was die ganze Argumentation fragwürdig macht.

Darum verstehen sie genauso wenig, wie der deutsche Bundesverteidigungsminister, dass eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und Russland ganz anderes als die im Ukrainekonflikt verlaufen wird. Im Gegensatz zum Ukrainekrieg wird ein möglicher Russland-Nato-Krieg schnell, ja schneller, als man denkt, in eine nukleare Konfrontation ausarten, ob man das hören will oder nicht. Wir befinden uns heute im Zustand eines „Friedens“, der auf dem besten Wege ist, den Frieden abzuschaffen.

2. Machtgleichgewicht als Kriegsvermeidungsstrategie

Merkwürdig und irritierend ist aber auch, dass die Kontrahenten zwar die Begriffe des „Kalten Krieges“ wie „Abschreckung“ (deterrence) bedenkenlos verwenden, ohne aber auch der Logik des

„Kalten Krieges“ folgen zu wollen. Offenbar aus Machtarroganz oder Ignoranz nimmt das außenpolitische Denken in den USA die heftig geführten Diskussionen des „Kalten Krieges“ über die Abschreckungs- bzw. Eindämmungspolitik nicht mehr ernst.

Bereits 1965 betrachtete Helmut Schmidt die sog. „glaubhafte Abschreckung“ als dummes Zeug und leeres Gerede. Wörtlich schrieb er „Ich habe leider noch immer den Eindruck, dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“5

Schmidts Infragestellung der „glaubhaften Abschreckung“ erklärt sich mit ganz anderem strategischem Denken als dem, das wir heute im Zeitalter der vermeintlichen Angst- und Furchtlosigkeit vor atomarer Bedrohung haben. „Strategie“ – meinte Schmidt 1969 – ist „heute weitgehend zu der Kunst geworden, Kriege zu vermeiden“.6

Diese Kriegsvermeidungsstrategie setzte aber das Machtgleichgewicht bzw. das „Gleichgewicht des Schreckens“ voraus. „Je stärker aber das Gleichgewicht der Macht sich ausprägt, um so mehr verfestigt es den gegenseitigen Besitzstand und die Einflussbereiche. Eine Strategie des Gleichgewichts tendiert zur Strategie der Aufrechterhaltung des Status quo, denn wer den Status quo ändern will, tendiert zu einer Störung des Gleichgewichts. Deshalb haben die beiden nuklearen Weltmächte in den sechziger Jahren ihre gegenseitigen Einflusssphären markiert und respektiert. Sie sehen sich auf eine indirekte Strategie angewiesen: Operation auf dritten Feldern, Operation durch Verbündete, Operation mittels nichtmilitärischer, auf jeden Fall aber nichtnuklearer Machtmittel.“7

Heute kann vom Respekt der beiden Nuklearmächte gar keine Rede sein, weil das Machtgleichgewicht seit dem Untergang des Systemrivalen gestört ist. Im Jahr 2023 haben wir eine ganz andere Großmächtekonstellation in Europa. Statt Machtgleichgewicht herrscht eine hegemoniale Dysbalance als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheitsarchitektur, die auf Dauer keinen Bestand haben kann.8

Denn wenn das Machtgleichgewicht gestört ist, tendiert eine vergleichbar starke Gegenmacht früher oder später zur Revision des hier und heute bestehenden Status quo und zu einer Wiederherstellung des Machtgleichgewichts. Heute müssen wir wie zurzeit von Helmut Schmidt in den 1960er-Jahren von Neuem lernen, „wie sehr in Wirklichkeit die nuklearen Waffen das Verhalten der Weltmächte,“9 einen Kriegsverlauf und ein Kriegsende und nicht zuletzt das Schicksal unserer Erde beeinflussen.

Hinzu kommt eine moralische Dimension der „gegenseitigen Abschreckung“. Es müsse doch ziemlich

„vermessen scheinen“, merkte Lothar Ruehl 1974 an, „die Sicherheit der Nationen auf die angenommene Stabilität der gegenseitigen Abschreckung mit den Waffen der totalen oder quasitotalen Vernichtung zu gründen. Die gegenseitige Bedrohung der ungeschützten Bevölkerungen, die als Kollektivgeiseln gegen den Friedensbruch gehalten werden, ist ohne Zweifel eine barbarische Methode der Kriegsverhütung, deren Logik und Psychologie das machtpolitische Denken in gefährlicher Nähe zur Faszination des Ungeheuerlichen gefangenhält.“10

Um es auf diese „Faszination“ nicht mehr ankommen zu lassen, müssen die USA ihre Außenpolitik neu erfinden, um nicht nur die Menschheit von der nuklearen Geisel, sondern auch sich selbst von ihren Weltmachtallüren zu befreien. Und diese neuerfundene Außenpolitik muss eine altehrwürdige europäische Machtgleichgewichtstradition reanimieren,

Es wäre auch schon viel getan, wenn man wenigstens eine Kriegsvermeidungsstrategie anstrebte. Denn der Frieden „als gesicherter Dauerzustand“ war immer schon eine Utopie und war „bisher niemals in der Geschichte eine Realität …, aber niemals ist die Geschichte andererseits ohne Friedensgedanken als Ordnungsprinzip geblieben.“11 Heute setzt dieser Friedensgedanken eine Überwindung der US- Hegemonialstellung als der europäischen Ordnungsmacht voraus. Ohne diese Überwindung hat die Friedensperspektive in Europa keine Aussichten auf Erfolg.

3. Gefangen in der Logik der Eskalation

Anlässlich der Genfer Außenministerkonferenz, die mit Unterbrechung zwischen den 11. Mai – 20. Juni sowie 13. Juli – 5. August 1959 dauerte und in der es um die deutsche Wiedervereinigung in Verbindung mit der Frage der europäischen Sicherheit ging, veröffentlichte Henry Kissinger in der August-Ausgabe der Monatshefte „Die politische Meinung“ einen Artikel unter der bezeichnenden Überschrift „Stabilität – Ziel des Westens“ (S. 22-37). Die Zeilen wurden niedergeschrieben, noch bevor die Konferenz zu Ende war. Die Konferenz endete – wie wir heute wissen – ergebnislos.

Sie wurde von gegenseitigem Misstrauen, Vorwürfen und Missverständnissen begleitet. Wir befinden uns inmitten des „Kalten Krieges“ und Kissinger forderte „eine politische Entscheidung der Sowjets, sich mit relativer Sicherheit zu begnügen und die gefahrvolle Suche nach Sicherheit durch Errichtung eines Welt-Imperiums aufzugeben“ (S. 30).

In völliger Übereinstimmung mit den westlichen Vorurteilen über die sowjetische Außenpolitik, die angeblich ein Weltimperium errichten wollte, sah Kissinger „das eigentliche Problem“ der europäischen

Sicherheit darin, „dass die sowjetische Sicherheitskonzeption die Unterminierung aller anderen Staaten

zum Ziel hat“ (ebd.).

Genau diese Äußerung Kissingers aus dem Jahr 1959 können wir heute getrost auf den US-Hegemon übertragen. Das eigentliche Problem der europäischen Sicherheitsarchitektur war und ist seit dem Ende des „Kalten Krieges“ die Entscheidung der Clinton-Administration um die Mitte der 1990er-Jahre für die auf der Nato-Expansion gen Osten beruhende US-amerikanische Sicherheitskonzeption12, welche zu Ende gedacht die Unterminierung der vitalen Sicherheitsinteressen Russlands zufolge hat.

Diese Sicherheitskonzeption setzt eine US-Geostrategie voraus, die der Logik der Eskalation unterliegt, welche in ihrer letzten Konsequenz zur Neutralisierung Russlands als geo- und sicherheitspolitischen Machtfaktors in Europa und Eurasien führt. Und so nimmt die Biden- Administration nicht nur einen (konventionellen) Krieg in Europa billigend in Kauf, sondern strebt auch danach, Russland eine „strategische Niederlage“ auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz zuzufügen, was die Feindseligkeiten zwischen den beiden Nuklearmächten erhöht und die Feindschaft auf die Spitze treibt.

Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, dass Russland eine „strategische Niederlage“ auf ukrainischem Boden erleidet. Auch wenn die transatlantischen Falken öffentlichkeitswirksam davon träumen, besteht eine unüberbrückbare Kluft zwischen der US-Russlandstrategie und der Logik der Eskalation. Und so bewahrheitet sich erneut Napoleons Spruch: „Die Strategie ist eine einfache Kunst, die Ausführung ist alles.“13

Der Logik der Eskalation wohnt der Begriff der Feindschaft inne. Sie ist ein gefährliches Instrument der Machtausübung. Von Clausewitz als „Steigerung bis zum äußersten14 definiert, taucht der Ausdruck Eskalation im Zusammenhang mit seiner Analyse der Feindschaft auf. „Jeder der Feinde ist per definitionem Gefangener der anderen, keiner kann dem anderen trauen, keiner bestimmt souverän das Ausmaß der Kräfte, die er einsetzt, da ja der andere ihn immer noch überbieten könnte; jeder erlangt nur dann Sicherheit, wenn er den anderen entwaffnet, das heißt den absoluten Sieg erringt. Die Steigerung bis zum äußersten tritt, der abstrakten Logik der Feindschaft gemäß, nicht immer wirklich ein, aus verschiedenen Gründen, die mit einem Satz wiederzugeben sind: Wirkliche kriegsführenden Parteien sind nicht zu verwechseln mit Gegnern in der abstrakten Theorie der Dialektik der Feindschaft; sie streben eventuell nach begrenzten Zielen und teilen einander ihre Absichten mit.“15

Das Problem des Ukrainekonflikts ist aber, dass die Eskalationsdynamik und das Eskalationsrisiko in ihrer (rhetorischen) Abstraktheit absolut (gesetzt) sind, in der Realität des nuklearen Zeitalters aber relativiert werden. Dadurch entsteht aber eine für die beiden gegnerischen Parteien unbefriedigende Disparität zwischen einem zu erstrebenden „absoluten Sieg“ über den zum „absoluten Feind“ stilisierten Gegner und einer Realität am Kriegsschauplatz, welche diesen Absolutheitsanspruch verunmöglicht.

Und so stehen wir womöglich vor einem strategischen Dilemma zwischen einem sieglosen Frieden – einem Frieden ohne „den absoluten Sieg“ -, der die Feindschaft nicht beendet, und einem kriegslosen Zustand, in dem weder Krieg noch Frieden herrscht und der jederzeit danach trachtet, den „Frieden“ zu beenden („peace to end peace“).

Denn die geostrategischen Interessen der beiden geopolitischen Rivalen Russland und die USA sind derart divergierend, dass sie auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Hier hat im Grunde „die absolute Feindschaft“ das Sagen, die nur einen „absoluten Sieg“ vorsieht. Der „absolute Sieg“ ist aber eine Chimäre. In der Viererkonstellation (die Ukraine – die EU – die USA und Russland) verfolgen die Kontrahenten völlig divergierende geo- und sicherheitspolitischen Machtinteressen.

Das vom Westen abhängige Kiewer Regime kann nur überleben, wenn es einen „absoluten Sieg“ erringt. Da es ihn aber nie erringen wird, ist es bestrebt, den Krieg um jeden Preis fortzusetzen. Frieden ist hier keine Option, weil das bestehende Kiewer Regime unter Selenskyj den Frieden nicht überleben wird.

Die EU hat zwar in ihrer Russlandfeindschaft ein gemeinsames geostrategisches Ziel mit der Ukraine und den USA. Sicherheitspolitisch ist sie aber eher an einem baldigen Frieden denn an der Fortsetzung des Krieges um jeden Preis interessiert. Was die USA angeht, so sind sie geostrategisch im Zweifel am dauerhaften Krieg zwecks Schwächung des geopolitischen Rivalen interessiert. Sicherheitspolitisch geht es aber den USA im Ukrainekonflikt nicht um ihre vitalen Sicherheitsinteressen, sind sie doch tausende Kilometer vom Kriegsschauplatz entfernt, der nicht ihre Sicherheits-, wohl aber ihre Hegemonialinteresse unmittelbar tangiert.

Im Falle Russlands handelt es sich wiederum um seine vitalen Sicherheitsinteressen und das bedeutet: Russland gehe es geo- und sicherheitspolitisch um alles oder nichts. Es wird – wenn nötig – bis zum

bitteren Ende kämpfen, da es aus Sicht der russischen Führung keine andere Wahl hat. Diese tiefe und kaum überbrückbare geo- und sicherheitspolitische Kluft zwischen den verfeindeten Parteien macht den Ukrainekonflikt so gefährlich und unberechenbar und dessen Lösung beinahe unmöglich.

Als „Steigerung bis zum äußersten“ ist die Eskalation darum kein geeignetes Instrument zur Lösung des Ukrainekonflikts. Folgt man „der abstrakten Logik der Feindschaft“, welche „den absoluten Sieg“ anstrebt, so führt die Eskalation letztlich zur nuklearen Implosion des Konflikts. Denn das nukleare Risiko ist als Folge der äußersten Eskalation in jedem Augenblick des Konflikts allgegenwärtig und unkalkulierbar.

Die Logik der Eskalation muss darum – folgt man dem Jargon des „Kalten Krieges“ – der

„Selbstabschreckung“ unterliegen. Die Selbstabschreckung wird freilich nur denjenigen zuteil, die selber zu einer nuklearen Eskalation fähig und in der Lage sind. Die Ukraine besitzt im Gegensatz zu Russland und den USA diese Fähigkeit nicht, sodass sie tendenziell und potenziell zu jeder denkbaren Eskalation bereit und willig ist. Das kann das Kiewer Regime zu verantwortungslosen Aktionen verleiten, um einen großflächigen Konflikt zwischen den Nuklearmächten mit der Gefahr einer unkontrollierten Eskalation zu provozieren.

Und so befinden wir uns mit dieser Logik der Eskalation in einem Teufelskreis: Ohne eine Eskalation geht`s gemäß der abstrakten Logik der Feindschaft nicht, mit einer Eskalation steigt das Risiko der unkalkulierten Reaktion. Diese machtpolitische Konstellation erweckt ein unbehagliches Gefühl der Ohnmacht, was wiederum zu der Frage führt: Ist die „abstrakte Logik der Feindschaft“ – die Logik der Eskalation, Konfrontation und des Krieges – der einzig richtige, alternativlose Weg zur Lösung des Ukrainekonflikts?

Natürlich kann man darauf mit Verweis auf Mao Tse-tungs Spruch „Der Papiertiger hat Atomzähne“ (Der Spruch richtete sich gegen die USA)16 erwidern: Die Russen werden nie und nimmer die Atomwaffen anwenden, wie die transatlantischen Falken stets behaupten. Darauf sollte man aber lieber nicht wetten, sollte es um die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands gehen. Und genau um diese vitalen Sicherheitsinteressen geht es Russland in diesem Konflikt.

„Strategie war niemals von Politik getrennt“, stellte Raymond Aron einst vor gut fünfzig Jahren zutreffend fest und er fügte gleich hinzu: „Der wirkliche Stratege ist der Herr über Krieg und Frieden, also der Staatschef. Auf höchster Ebene verschmilzt die Strategie mit der Außenpolitik der Staaten. Die Kernwaffen haben den Charakter der Außenpolitik geändert, aber noch mehr haben sie ihn bestätigt, nämlich insofern, als die Außenpolitik stets von der Stärke der Waffen abhängt.“17

Außenpolitik? Eine andere Russland- und Außenpolitik ist heute das Gebot der Stunde. Statt der Logik der Eskalation, Konfrontation und des Krieges sollte eine politisch-diplomatische Lösung gesucht und gefunden werden. Und diese besteht vor allem in einer klaren Absage der Nato, ihre Expansionspolitik fortzusetzen. Statt einer weiteren Nato-Expansion und Eskalation ist heute die Logik der Deeskalation und Entspannung mehr denn je gefragt.

Die Biden-Administration muss endlich die US-Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre selbstkritisch hinterfragen. So wie eine „Kritik des Kalten Kriegs … bislang nicht stattgefunden (hat),“ und immer noch nicht stattfindet, was „eine Voraussetzung für eine perspektivisch konstruktive Kritik der Außenpolitik“18 wäre, so fehlt bis heute auch eine Kritik und Selbstkritik der US-Außenpolitik. Die wären aber eine zwingende Voraussetzung für eine andere pragmatischere US-Russlandpolitik.

Anmerkungen
  1. Zitiert nach Leonhard, J., Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923. München
    2018, 28.
  2. Vgl. Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 43.
  3. Schmitt, C., „Inter pacem et bellum nihil medium“ (1939), in: ders., Frieden oder Pazifismus? Hrsg.
    v. Günter Maschke. Berlin 2005, 629-641 (633).
  4. Näheres dazu Silnizki, M., Der Westen in einer postwestlichen Welt. Zur Diskussion über das US-
    Engagement in Europa. 31. Mai 2023, www.ontopraxiologie.de.
  5. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1965, 24.
  6. Schmidt, H., Strategie des Gleichgewichts (1969). 5. Aufl. Stuttgart 1970; zitiert nach Rudolf Woller, Der
    unwahrscheinliche Krieg. Eine realistische Wehrkonzeption. Stuttgart 1970, 10.
  7. Zitiert nach Woller (wie Anm. 6), 10.
  8. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022,
    www.ontopraxiologie.de.
  9. Zitiert nach Woller (wie Anm. 6), 12.
  10. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 222.
  11. Schieder, Th., Friedenssicherung und Staatenpluralismus, in: ders., Einsichten in die Geschichte. 1979, 156-
    174 (158).
  12. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
    Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
  13. Zitiert nach Aron, R., Zur Entwicklung des strategischen Denkens (1945-1968), in: ders., Zwischen Macht
    und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1972, 341-374 (349).
  14. Zitiert nach Aron (wie Anm. 13), 356.
  15. Aron (wie Anm. 13), 356.
  16. Zitiert nach Aron (wie Anm. 13), 371.
  17. Aron (wie Anm. 13), 373.
  18. Krippendorff (wie Anm. 2), 84.
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