Verlag OntoPrax Berlin

„Die Achse des Guten“

Ein historisches Missverständnis?

Übersicht

1. „Der Berg kreißte und gebar eine Maus“
2. Divergierende geo- und sicherheitspolitische Interessen
  (a) Das innereuropäische Dilemma der transatlantischen Sicherheitspolitik
  (b) Die EU als Russlands Lehrmeisterin?
3. Die „Erosion westlichen Einflusses“ und die Gegenmachtbildung

Anmerkungen

„In der Außenpolitik der USA hat es immer drei Tendenzen gegeben: neben dem Isolationismus
die internationalistische Tradition … und … die imperialistische, mit der
wir es zurzeit verstärkt zu tun haben.“
(Helmut Schmidt, 2003)1

1. „Der Berg kreißte und gebar eine Maus“

Drei Jahre nach dem Kriegsausbruch im Irak veröffentlichte der Hamburger Politikwissenschaftler August Pradetto am 20. Juni 2006 in Internationale Politik einen lehrreichen Artikel unter dem Titel „Die Achse des Guten“. Die Ereignisse im Vorfeld des Kriegsausbruchs reflektierend, schreibt er zurückblickend:

„Die Kooperation zwischen Deutschland, Frankreich und Russland während der Irak-Krise 2002/03 wurde von vielen Beobachtern und Analysten als bis dahin einmalig bewertet. So eng hatten diese Länder in einer wichtigen Frage der internationalen Politik noch nie zusammengearbeitet. Dass Frankreich und Russland zu einer solchen Politik zusammenfanden, mochte noch eine gewisse Logik aufweisen … Was aber verblüffte, war das Verhalten Berlins. Zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik wagte eine Regierung offenen Widerspruch gegen die Regierung in Washington.“

Der „offene Widerspruch“ war in der Tat mehr als verblüffend und nicht unumstritten. Vor allem die Transatlantiker erblickten in der Zusammenarbeit zwischen Deutschland, Russland und Frankreich einen „Präzedenzfall“ und fanden die Entscheidung alles anderes als amüsant. Sie warfen der Bundesregierung „Antiamerikanismus“ vor, der die guten Beziehungen zu den USA aus wahltaktischen Gründen gefährdete.

Was wurde der Schröder/Fischer-Regierung nicht alles an den Kopf geworfen: Die „Abkehr Deutschlands von den USA und Großbritannien“, „eine neue Ost- statt Westorientierung“, „der Aufbau einer antiamerikanischen Achse in Europa“, „opportunistisch nach Moskau schielend“, ein „deutscher Sonderweg“ usw.

Was für ein Kontrast zu heute! Aus heutiger Sicht klingen all die Vorwürfe sonderbar und wie aus einer Science-Fiction-Welt. Gut zwanzig Jahre danach sehen wir, wie überzogen, unhaltbar und vor allem realitätsfern die Anschuldigungen, Unterstellungen und Vorhaltungen an die Adresse der rot-grünen Bundesregierung waren und wie dramatisch sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen seitdem verschlimmbessert haben.

Nicht einmal theoretisch wäre diese „unheilige Allianz“ zwischen Deutschland, Frankreich und Russland als „antiamerikanische Achse in Europa“ auf Dauer realistisch und durchführbar. Wie erklärt Pradetto nun das Zustandekommen dieser vermeintlichen „Achsenbildung“, wie er die entstandene Kooperation der drei europäischen Zwerge nannte? Verkündete der Bundeskanzler Gerhard Schröder bereits unmittelbar nach 9/11 nicht eine „uneingeschränkte Solidarität“ mit Washington und kündigte Putin seinerseits nicht die allermöglichste Unterstützung für die USA an?

„Die Weltmacht ohne Gegner“ (Rudolf/Wilzewski) war freilich im Jahr 2002/3 weder auf Schröders proklamierte „Solidarität“ noch auf Putins angekündigte Unterstützung angewiesen. Der US-Hegemon hielt eine bedingungslose Gefolgschaft von wem auch immer schlicht für selbstverständlich. Umso mehr war er unangenehm überrascht, als die drei europäischen Zwerge (und nichts anderes als das waren sie 2002/3 aus US-amerikanischer Sicht) lautstark ihren Widerspruch anmeldeten.

Denn bis „zur Verkündigung der >Achse des Bösen< durch George W. Bush in seinem >Bericht zur Lage der Nation< vom 29. Januar 2002 war von einer solchen >Achsenbildung< nicht nur nichts zu merken gewesen – vielmehr hatten Deutschland, Frankreich und Russland in der Antiterrorkoalition fest an der Seite der Vereinigten Staaten gestanden“, stellte Pradetto klar.

Die Wende kam erst mit den ab Februar 2002 eingeleiteten US-Vorbereitungen für den Krieg gegen den Irak. Ende Juli 2002 verlautbarten Schröder und Chirac ihre erste gemeinsame Deklaration, in der sie sich gegen „ein unilaterales militärisches Vorgehen der USA“ aussprachen.

Dagegen kam die Kooperation Berlins mit Moskau relativ spät und erst fünf Wochen vor dem Kriegsausbruch kam es zu gemeinsamen Anstrengungen Deutschlands, Russlands und Frankreichs im Sicherheitsrat doch noch eine „friedliche Lösung“ durchzusetzen bzw. den Krieg zu verhindern. Der Kriegsausbruch am 20. März 2003 hat diesem frommen Wunsch ein schnelles Ende bereitet.

Die kurzlebige Kooperation des „Dreigestirns“ Schröder, Chirac und Putin war von Anfang an zum Scheitern verurteilt, weil es zum US-Hegemon keine ernstzunehmende und auch nicht ernstgenommene Gegenmacht bilden konnte. Aus drei Zwergen wurde eben kein Riese, zumal keiner von ihnen einen Bruch mit den USA beabsichtigte.

Zwar setzte Putin laut Pradettos Mutmaßung auf „eine Veränderung der strategischen Konstellation“ und hoffte, dass die gemeinsame Kooperation der drei Europäer „der erste Baustein in der Konstruktion einer multipolaren Welt“ sein würde. Putin beeilte sich aber – so Pradetto weiter – hinzuzufügen: Dies stelle kein Zeichen für die Entstehung einer „neuen politischen Achse“ dar.

Pradettos Analyse ist nicht schlüssig. Putin konnte unmöglich auf eine neue „strategische Konstellation“ setzen und gleichzeitig keine „neue politische Achse“, sprich: eine Gegenmachtbildung, anstreben. Er beabsichtigte weder das eine noch das andere.

Russland befand sich um die Jahrhundertwende in einer prekären ökonomischen, sozialen und innenpolitischen Lage. Militärisch und ökonomisch war es viel zu schwach, seine Macht- und Wirtschaftseliten waren immer noch proamerikanisch orientiert, auch wenn sie im Vergleich zu Beginn der 1990er-Jahre merklich auf Distanz zum Westen gingen.

„Die Nato muss bis über den Ural hinweg erweitert werden. Am Ende des >Kalten Krieges< dominierten in Russland eine Atmosphäre des Optimismus und ein vitales Vertrauen gegenüber dem Westen. Die Menschen scherzten sogar, dass es nicht schlecht wäre, Gorbatschow gegen Reagan zu tauschen. Jetzt hört man solche Scherze nicht mehr“, schrieben Moskowskije nowosti 1997.2

Selbst Putin war von dieser prowestlichen Stimmung ergriffen. Er schloss deswegen noch gegen Ende des 20. Jahrhunderts prinzipiell nicht einmal aus, einen Nato-Beitritt Russlands in Betracht zu ziehen. Zumindest hat er diesen Vorschlag Bill Clinton unterbreitet, erzählte er Anfang Juni 2017 in einem Interview mit dem US-Filmregisseur Oliver Stone.

Die Geschichte hat Putin neuerlich im Februar 2024 in einem Interview mit US-Journalisten Tucker Carlson wiederholt. Clinton habe freilich nach Putins eigenen Angaben den Vorschlag dankend abgelehnt. Darüber hinaus war Putins Machtposition zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht gefestigt genug, um von einer neuen „strategischen Konstellation“ nur denken zu können.

Und selbst die Ankündigung der drei Außenminister Deutschlands, Frankreichs und Russlands, Joschka Fischer, Dominique de Villepin und Igor Iwanow, am 5. März 2003 in Paris eine „Kriegsresolution“ im UN-Sicherheitsrat zu blockieren, war nichts weiter als das Pfeifen im Walde. Die drei Europäer waren zu Zuschauern und nicht zu Akteuren eines nicht von ihnen inszenierten militärischen Theaterstückes degradiert.

Sie haben offenbar auch nicht richtig zugehört, was der Vorsitzende des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, ihnen drei Monate zuvor indirekt ins Stammbuch geschrieben hat. Am 28. November 2002 erklärte Perle in International Harald Tribune seine „tiefe Besorgnis“ darüber, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der Nato als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde.3

Diese Äußerung ist – wie man heute weiß – in alle Richtungen beliebig ausdehnbar. Die ganze „Kooperation“ war darum, geopolitisch gesehen, eine Selbstinszenierung der drei Möchtegern-Rebellen, die es aus jeweils unterschiedlichen innenpolitischen Gründen für opportun erachteten, sich außenpolitisch zu profilieren. Und so blieb die ganze Inszenierung das, was sie von Anfang an war: ein folgenloser Theaterdonner.

Erst drei Wochen nach dem Kriegsausbruch kamen Schröder, Chirac und Putin am 11.
April 2003 in St. Petersburg zusammen, um den Irak-Konflikt und die Konsequenzen zu diskutieren. Aus einer imaginären „Achsenbildung“ wurde ein Debattierclub.

2. Divergierende geo- und sicherheitspolitische Interessen

  (a)  Das innereuropäische Dilemma der transatlantischen Sicherheitspolitik

Nun versucht Pradetto diese geopolitisch folgenlose Inszenierung in ein theoretisches Korsett zu pressen, indem er zwischen den sog. „Institutionalisten“ und den sog. „Realisten“ unterscheidet. Verurteilen die ersteren mit Berufung auf das UN-Völkerrecht den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg für die internationale Ordnung als „kontraproduktiv“ oder gar als „Kriegsverbrechen“, so erscheint für die einen „Realisten“ die Abwendung vom US-Hegemon als machtpolitisch unklug, wohingegen die anderen in der deutsch-französisch-russischen Kooperation gar die notwendige Gegenmachtbildung erkennen, die sogar zum „machtpolitischen Aufstieg Berlins“ führen könnte, sodass es die „Führungsrolle als Gegenmacht der USA“ (Gregor Schöllgen) übernehmen könnte.

In der Retrospektive betrachtet, erwiesen sich die „Realisten“, die von Berlin als „Gegenmacht“ träumten, als geopolitische Amateure. Denn es fand – wie nicht anders zu erwarten – weder „die Abwendung vom US-Hegemon“ noch ein „machtpolitischer Aufstieg Berlins“ statt, von einer „Führungsrolle“ Berlins als „Gegenmacht der USA“ ganz zu schweigen. Wie konnte es zu einer so grandiosen Fehleinschätzung der „Realisten“ überhaupt kommen?

Es lag offenbar in einer völligen Verkennung der Natur der unipolaren Weltordnung, die sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“ herausgebildet hat, sowie in einer machtpolitischen Selbstüberschätzung, die die geopolitische und militärische Vormachtstellung mit Wirtschaftskraft verwechselt hat.

Vor diesem Hintergrund stellte Pradetto eine grundsätzliche Frage nach einer künftigen geo- und sicherheitspolitischen Kooperation zwischen Frankreich, Deutschland und Russland. Dass er diese Frage im Jahr 2006 stellt, überrascht, hat sich doch „die Achse des Guten“ aus den Jahren 2002/3 längst als Fata Morgana erwiesen.

Rein theoretisch gesehen, ist die Frage jedoch selbst aus heutiger Sicht nicht ganz ohne Belang. Zu Recht setzt sich Pradetto mit dieser Frage im Zusammenhang mit der – wie er es nannte – „sukzessiven Emanzipation Europas von den USA nach dem Ende des Kalten Krieges“ auseinander. Und hier stellt er zwei Thesen auf, mit denen es sich lohnt, sich auch heute auseinanderzusetzen.

Die erste These besagt, „dass Europa weniger als in der Vergangenheit von den Sicherheitsgarantien der USA abhängig ist“. Daraus wird der Schluss gezogen, „dass europäische Eliten real wie auch in der Eigenperzeption in einem höheren Maße als früher für die Sicherheit des Kontinents verantwortlich sind.“

Die „zunehmende Integration europäischer Sicherheit und europäischer Sicherheitspolitik“ liege darum laut Pradetto „in der Logik der Entwicklung“ und unabhängig von „allen zuwiderlaufenden Tendenzen, die wegen Befürchtungen einer deutschen Übermacht, einer deutsch-französischen Dominanz, einer >Achse< Berlin-Moskau oder auch eines deutsch-französisch-britischen >Direktoriums< auf die Beibehaltung amerikanischer Arbitrage in Europa gerichtet sind.“

Abgesehen davon, dass all die angesprochenen Befürchtungen schon immer überzogen, im Jahr 2006 erst recht bloß imaginärer Natur waren und heute völlig irrelevant sind, weisen sie auf ein innereuropäisches Dilemma der transatlantischen Sicherheitspolitik hin, die bis heute unverstanden geblieben ist: die Inkongruenz der transatlantischen und europäischen Sicherheitsinteressen.

Denn die „zunehmende Integration europäischer Sicherheit und europäischer Sicherheitspolitik“ mag einerseits „in der Logik der Entwicklung“ liegen, untergräbt andererseits aber tendenziell die US-Ordnungsmacht in Europa und gefährdet bzw. schwächt dadurch prinzipiell die US-Hegemonialstellung auf dem europäischen Kontinent. Diese divergierenden macht- und sicherheitspolitischen Interessen verunmöglichen jede sicherheitspolitische Emanzipation Europas von den USA.

Von einer „deutschen Übermacht, einer deutsch-französischen Dominanz, einer „Achse“ Berlin-Moskau oder auch eines deutsch-französisch-britischen >Direktoriums<“ konnte deshalb zu keiner Zeit die Rede sein.

Erschwerend kommt noch eine Spaltung der sicherheitspolitischen Interessen innerhalb der EU hinzu, die selbst Pradetto 2006 noch nicht voraussehen konnte.

Am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei. Bei der zweiten Nato-Osterweiterung traten im März 2004 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Slowakei und Slowenien bei. Zur Ehrenrettung Pradettos muss man hinzufügen, dass 2006 noch nicht ersichtlich war, welcher Sprengstoff für die sicherheitspolitische Emanzipation der EU damit gelegt wurde.

Denn der Nato-Beitritt der Mittelosteuropäer hat die Stellung der USA als die Führungsmacht in Europa gestärkt und eine sicherheitspolitische Emanzipation Europas von den USA tendenziell geschwächt oder zumindest neutralisiert, weil die Mittelosteuropäer allein schon aus historischer Erfahrung vor allem in den USA und nicht in Westeuropa einen Garanten ihrer Sicherheit sehen, sodass alle sicherheitspolitischen Emanzipationsversuche der Westeuropäer von den USA auf ihren entschiedenen Widerstand stoßen.

Mit anderen Worten: Die USA haben die Mittelosteuropäer, die jedwede sicherheitspolitische Emanzipation Europas von den USA im Keim ersticken würden, auf ihrer Seite. Und selbst Deutschland würde sich als ein „tributpflichtiger Vasallenstaat“ der USA (Zbigniew Brzezinski) mit einer mächtigen und lautstarken transatlantischen Elite im Falle des Falles auf die Seite der Mittelosteuropäer schlagen.

Diese divergierenden innereuropäischen und transatlantischen Sicherheitsinteressen werden momentan seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine unter den Teppich gekehrt, wobei die EU-Abhängigkeit von der US-Sicherheits- und Geopolitik mit dem Krieg in der Ukraine noch größer geworden ist.

Die ideologische und militärische Blocklogik der Konfrontation hat heute eindeutig die Oberhand gewonnen, sodass der US-Schutzpatron für die EU-Europäer sicherheitspolitisch noch unentbehrlicher geworden ist, was letztlich die von Macron seit Langem propagierte „strategische Autonomie“ Europas als eine Phantomdebatte darstellt.

Das macht wiederum Europa zum Spielball der geopolitischen Machtinteressen der USA und Macrons „strategische Autonomie“ zur leeren Floskel. Entweder Emanzipation oder Unterwerfung! Beides gleichzeitig kann es nicht geben. Europa kann unmöglich ein integrierter Teil der Nato-Allianz sein, in der es sich der US-Führung geo- und sicherheitspolitisch unterwirft, und gleichzeitig eine strategische Autonomie anstrebt, welche eben dieser geo- und sicherheitspolitischen Unterwerfung zuwiderläuft.

Die mit dem sog. „Globalen Süden“ und einer zunehmenden Großmächterivalität neuentstandene geopolitische Realität führt darüber hinaus zur Inkongruenz der geoökonomischen Machtinteressen zwischen der EU und den USA.

  (b)  Die EU als Russlands Lehrmeisterin?

Die zweite von Pradetto 2006 vertretene These lautet: „Die russische Stabilität (ist) eine der Voraussetzungen für die europäische Stabilität. Russland schrumpft politisch auf europäische Größe; das Sozialprodukt ist ohnehin kaum größer als das Belgiens. Damit wird Russland zunehmend ein europäisches Problem.“

Daraus wird der Schluss gezogen, dass Europa „durch eine enge Anbindung Moskaus an Brüssel nur gewinnen (kann). Wenn es richtig ist, dass die interne Instabilität das russische (und damit das auf Russland bezogene europäische) Sicherheitsproblem Nr. 1 ist, dann sollte die wirtschaftliche und politische Kooperation mit der Europäischen Union erste Priorität auf der außenpolitischen Werteskala des Kremls und an herausgehobener Stelle der EU-Außenpolitik sein.“

Die These und die daraus gezogenen Schlussfolgerungen sind aus heutiger Sicht jenseits jeder geo- und sicherheitspolitischen Realität. Wie sich zum einen herausstellte, wurde das europäische „Sicherheitsproblem Nr. 1“ nicht „die interne Instabilität“ Russlands, sondern die exzessive Nato-Expansionspolitik, die die russischen Sicherheitsinteressen komplett ignorierte.

Russland schrumpfte zum zweiten politisch nicht „auf europäische Größe“, sondern stieg nach Irrungen und Wirrungen der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre erneut zur Großmacht mit weltpolitischen Ambitionen auf. Es berappelte sich zum dritten auch ökonomisch und sein Sozialprodukt blieb nicht auf dem Niveau Belgiens.

Zum vierten nahm die wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland zu keiner Zeit eine „herausgehobene Stelle“ für die EU-Außenpolitik ein. Ganz im Gegenteil: Der EU-Russlandpolitik ging es seit dem Ende des „Kalten Krieges“ nie um eine Kooperation, sondern um eine Strategie der geo- und sicherheitspolitischen Neutralisierung Russlands auf dem europäischen Kontinent, die letztlich auf das Aufoktroyieren des vom Westen geschaffenen ordnungspolitischen Regelwerks hinauslief.

Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ wandelte der Westen sich zum institutionellen Kern des globalen Weltordnungssystems. Russland stand nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches vor einem doppelten Dilemma: Es musste sich zum einen für die Übernahme oder Nicht-Übernahme des westlichen Wertsystems entscheiden; zum anderen ging es Russland um die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an den vom Westen geschaffenen internationalen Einrichtungen. Kurzum: Russland war gezwungen, sein Verhältnis zum Westen zu definieren.

Es akzeptierte Anfang der 1990er-Jahre zunächst vorbehaltslos, gegen Ende des 20. Jahrhunderts allerdings mit zunehmender Distanz die entstandene, vom Westen für selbstverständlich gehaltene neue unipolare Weltordnung. Der Westen ging seinerseits davon aus, dass die Expansion seiner als „universal“ postulierten Wertvorstellungen historisch unumkehrbar sei und deswegen keiner Diskussion mehr bedürfe.

Vor diesem Hintergrund trat die EU gegenüber Russland als Lehrmeisterin auf und fühlte sich befugt und berechtigt, die Spielregeln in den gegenseitigen Beziehungen zu bestimmen und nach dem Grundsatz zu diktieren, wonach Russland jedes Entgegenkommen seitens der EU erst einmal „verdienen“ sollte.

Zurzeit der sog. „strategischen Partnerschaft“ zwischen Russland und der EU entstand infolgedessen nach Miller/Lukjanov4 eine paradoxe Situation: Die EU orientierte sich in ihrer Beziehung zu Russland am Modell, das für Länder vorgesehen war, die als Kandidaten in die EU aufgenommen werden sollten, obwohl Russland selbst zu keiner Zeit die Absicht hatte, in die EU aufgenommen zu werden und deswegen gar nicht verstand, warum es einseitig und freiwillig die Normen und die Regeln der EU übernehmen sollte.

Die EU sah ihrerseits die Möglichkeit einer anderen Zusammenarbeit gar nicht vor. Das Großzügigste, was sie Russland angeboten hat, war – so der süffisante Hinweis von Miller/Lukjanov – das von Romano Prodi im Jahr 2000 verbreitete Angebot, mit Russland alles „mit Ausnahme der Institutionen“ zu teilen. Das dürfte wohl heißen: Moskau müsse die Rechtsnormen der EU übernehmen, ohne selber auf sie irgendeinen Einfluss ausüben zu können.

Dass diese Unterordnungsbeziehung aus russischer Sicht völlig inakzeptabel war, versteht sich wohl von selbst. Und so fand sie auch ihr abruptes Ende in dem Augenblick, als sich die EU und die Nato anschickten, die Ukraine an sich institutionell zu binden. Bei gleichzeitiger Weigerung mit Russland darüber diskutieren zu wollen, provozierte sie dessen harte Reaktion bereits 2014 mit der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation.

Der am 24, Februar 2022 ausgebrochene Krieg in der Ukraine hat den bereits seit Langem schwelende Konflikt zwischen Russland und dem Westen endgültig zur Explosion gebracht. Und es bleibt nur zu hoffen, dass es angesichts des tobenden Krieges in Europa zu keiner direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der Nato kommt.

3. Die „Erosion westlichen Einflusses“ und die Gegenmachtbildung

In Anbetracht der geschilderten asymmetrischen Beziehungen der beiden ungleich starken Partner erscheint eine wie auch immer geartete „Achsenbildung“ zwischen Russland, Frankreich und Deutschland geradezu als eine Phantomdebatte. Dessen ungeachtet glaubte Pradetto zu wissen, dass „die enge Zusammenarbeit in der Irak-Krise zwischen Deutschland, Russland und Frankreich“ dennoch ein „Präzedenzfall“ sein dürfte, auch wenn man es nicht geschafft hat, den Krieg zu verhindern.

„Aber nicht nur die Schwierigkeiten im Irak“ – prophezeit Pradetto zum Schluss seiner Ausführungen, „sondern auch das Sichtbarmachen der politischen Kosten und der Tendenz der Gegenmachtbildung, die solcher Unilateralismus zeitigt, dürften maßgeblich dafür sein, dass in Washington heute kaum noch jemandem die Metapher von der >Achse des Bösen< über die Lippen kommt, und dass stattdessen ein neuer Multilateralismus Platz greift.“

Pradettos Prophezeiung ist nicht in Erfüllung gegangen. Die vermeintliche „Achsenbildung“ – die „Achse des Guten“ – war kein „Präzedenzfall“. Sie blieb das, was sie von Anfang an war: ein Unfall der Geschichte – folgenlos und ohne Zukunftsperspektive.

Die „Tendenz der Gegenmachtbildung“ ist zwar eingetreten. Sie findet aber außerhalb Europas und der EU-Länder statt, die bis heute die treuesten Vasalen des US-Hegemonen geblieben sind. Statt einer europäischen Gegenmachtbildung griff ein transatlantischer „Militarismus“ Platz, dessen Ursprung bereits auf den Kosovo-Krieg 1999 zurückzuführen ist. Diese Entwicklung, die Lothar Brock eine „Enttabuisierung des Militärischen“ nannte, dauert bis heute an.

„Warum wird“ – fragte Brock 2007 – „das Konfliktgeschehen der Gegenwart in ganz erheblichem Maße durch Gewaltanwendung der demokratischen Staaten bestimmt? Warum sind in den liberalen Demokratien neue Sicherheitsdiskurse in Gang gekommen, die in Verbindung mit einer Ausweitung des Konzepts der Verteidigung (Art. 54 UN-Charta) und einer verengten Interpretation des Gewaltverbots (Art. 2, Abs. 4) einer erneuten >Enttabuisierung des Militärischen< … nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Vorschub leisten?“5

Warum denn? Weil der westliche Triumph über den Systemrivalen und die siegreiche Beendigung des Ost-West-Konflikts die Logik der Konfrontation des „Kalten Krieges“ nicht beseitigte, sondern diese ganz im Gegenteil verstetigte. Mit dem Kosovo- und erst recht mit dem Irak-Krieg demonstrierten die USA ihre unangefochtene und von keinem in Frage zu stellende Weltmachtstellung im globalen Raum.

„Weltmacht ohne Gegner“ überschrieben Peter Rudolf und Jürgen Wilzewski ihr Werk im Jahr 2000. Die sog. „Achsenbildung“ zwischen Russland, Deutschland und Frankreich 2002/3 hat daran nichts geändert und war nichts weiter als ein folgenloser Zwergenaufstand. Von einer Gegenmachtbildung zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann darum keine Rede sein, zumal die drei Matadoren Schröder, Chirac und Putin nicht nur militärisch schwach waren, sondern auch kein gemeinsames ideologisches bzw. axiologisches Fundament hatten.

Gut zwanzig Jahre danach sieht die Welt ganz anderes aus. Die Gegenmachtbildung ist voll im Gange. Nur hat sie nichts mit dem verzwergten Europa zu tun. Sie entsteht heute vielmehr in Eurasien und die ehem. „Achse des Guten“ ist längst auf Kollisionskurs zueinander und tief verfeindet.

Der Prozess ist unumkehrbar geworden. Und diesen Entwicklungsgang der Geschichte hat auch Pradetto ganz genau verstanden, als er zehn Jahre später 2016 feststellte: „Dass Moskau als Militärmacht und möglicher Bündnispartner auf internationaler Ebene im Jahr 2016 besser dasteht als zuvor, hat indes vor allem mit desaströsen Fehlentscheidungen in der Außenpolitik westlicher Länder wie in Afghanistan, Irak und Libyen, einer zerstörerischen und radikalisierenden Dynamik im Zusammenhang mit den Aufständen in der arabischen Welt ab 2010 und einem massiven Vertrauensverlust in den Westen zu tun. Diese Erosion westlichen Einflusses hat dazu geführt, dass sogar die irakische Führung – gegen den Willen Washingtons – auch in Sicherheitsfragen stärker mit Iran und Russland kooperiert, um ihr Überleben zu gewährleisten.“6

Pradettos deprimierende Analyse stammt aus 2016. Acht Jahre später hat sich die weltpolitische Lage dramatisch zu Lasten des Westens verschlimmbessert. Die „Erosion westlichen Einflusses“ hat heute ein dramatisches Ausmaß angenommen. Und es geht längst nicht mehr um eine folgenlose europäische „Achsenbildung“ gegen die USA, sondern um eine machtvolle und machthungrige eurasische Gegenmachtbildung gegen den konsolidierten Westen.

Heute sind die eurasischen Mittel-, Groß- und Weltmächte, unter denen Andrea Kendall-Taylor und Richard Fontaine unlängst China, Russland, Iran und Nordkorea identifizierten und als „Axis of Upheaval“ titulierten,7 auf den Vormarsch. Und die transatlantische „Achse des Guten“ muss heute aufpassen, dass sie nicht von einer eurasischen „Achse des Bösen“ überrannt wird.

Anmerkungen

1. Schmidt, H., „Das ist grober Unfug“, Spiegel-Gespräch 6/2003 (2.02.2003).
2. Zitiert nach Kobrinskaja, I., Der Westen in Russland: Dimensionen des außenpolitischen Diskurses, in:
Schulze, P. W. u. a. (Hg.), Die Zukunft Russlands. Staat und Gesellschaft nach der Transformationskrise.
Frankfurt/New York 2000, 367-412 (367).
3. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes
Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
4. Миллер, А/Лукьянов, Ф., Отстраненность вместо конфронтации: постевропейская Россия в поисках в
самодостаточности. 2016.
5. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der
Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des
Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
6. Pradetto, A., Die Ukraine, Russland und der Westen: Die Inszenierung einer Krise als geopolitischer Konflikt,
in: Staak, M. (Hrsg.), Der Ukraine-Konflikt, Russland und die europäische Sicherheitsordnung.
Opladen/Berlin/Toronto 2017, 21-70 (24 f.).
7. Kendall-Taylor, A./Fontaine, R., The Axis of Upheaval. How America`s Adversaries Are Uniting to Overturn
the Global Order. Foreign Affairs. 24. April 2024.

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