Verlag OntoPrax Berlin

Neue „Achse des Bösen“?

China, Russland, Iran und Nordkorea

Übersicht

1. Die Viererachse und die ordnungspolitische Dysfunktionalität
2. Russland als „der Hauptinitiator der Achse“?
3. Das veränderte „Bild der Geopolitik“

Anmerkungen

„Vor zwanzig Jahren wusste jeder in Peking …, wer einen Krieg in der
Straße von Taiwan gewinnen würde: die USA. Heute weiß niemand,
wer gewinnt … Die militärische Balance hat sich bereits verändert.“
(Chris Miller)1

1. Die Viererachse und die ordnungspolitische Dysfunktionalität

Es ist immer wieder faszinierend zu sehen, mit welchem Selbstverständnis das außenpolitische US-Establishment die Welt betrachtet und wie undifferenziert, unreflektiert und vor allem selbstbezogen es die Außenwelt durch die Brille der eigenen Wertvorstellungen und Geisteshaltungen definiert, ohne das eigene geo- und sicherheitspolitische Handeln kritisch zu hinterfragen, von einer Selbstkritik ganz zu schweigen.

Gelegentlich erscheinen auch US-Studien, die zwar nach wie vor jenseits jeder kritischen Würdigung der US-Außenpolitik, aber immerhin nicht mehr so eskapistisch sind, wie die meisten anderen. Kürzlich erschien eine solche Studie in Foreign Affairs am 23. April 2024 unter dem merkwürdigen Titel „The Axis of Upheaval“. Statt der gewöhnten Überschrift „The Axis of Evil“ (Die Achse des Bösen) wird auf einmal von der „Achse des Aufruhrs“ gesprochen.

Worum es hier geht, wird gleich im Untertitel klar gemacht: „How America’s Adversaries Are Uniting to Overturn the Global Order“ (Wie Amerikas Gegner sich zusammenschließen, um die Weltordnung umzustürzen). Der Tenor der gesamten Studie bestätigt freilich die anfängliche Mutmaßung, dass es hier um die Auseinandersetzung mit einer neuartigen „Achse des Bösen“ geht.

An Stelle der von George W. Bush jr. 2002 ausgerufenen „Achse des Bösen“ (Irak, Iran und Nordkorea) tritt nunmehr eine viel mächtigere, die US-Hegemonie mehr gefährdendere Viererachse: China, Russland, Iran und Nordkorea.

Russland führe den Krieg in der Ukraine nicht allein. Es werde „mit Technologie aus China, Raketen aus Nordkorea und Drohnen aus dem Iran“ tatkräftig unterstützt. „In den letzten zwei Jahren sind alle drei Länder zu bedeutenden Unterstützern von Moskaus Kriegsmaschinerie in der Ukraine geworden“, empören sich die Verfasser der Studie, Andrea Kendall-Taylor und Richard Fontaine.

„Die Unterstützung durch China, Iran und Nordkorea hat Russlands Position auf dem Schlachtfeld gestärkt und die westlichen Versuche, Moskau zu isolieren, untergraben und der Ukraine geschadet“, beklagen sie sich. Soll das im Umkehrschluss heißen, dass die Anti-Russland-Koalition mit mehr als fünfzig Ländern und das Nato-Bündnis, das nach eigener Selbstbeschreibung die mächtigste Allianz aller Zeiten sein soll, mit der „Viererbande“ nicht fertig werden können?

Nicht einmal können sie Moskau vom Rest der Welt isolieren. Statt diese wahrlich dramatische Entwicklung, die die vermeintliche Allmacht und Übermacht des Westens bloßstellt, selbstkritisch zu hinterfragen, fällt Kendall-Taylor/Fontaine nichts Besseres ein, als die geopolitischen Rivalen zu denunzieren.

Die Gruppe sei weder „ein exklusiver Block“ (an exclusive bloc) noch „ein Bündnis“ (an alliance). Es handele sich um eine „Ansammlung unzufriedener Staaten“ (a collection of dissatisfied states), die das gemeinsame Ziel verfolge, die Prinzipien, Regeln und Institutionen, die „dem prävalierenden internationalen System“ (the prevailing international system) zugrunde liegen, zu zerstören …

Wenn sie zusammenarbeiten, verbessern sie gemeinsam die militärischen Fähigkeiten, um die Wirksamkeit der außenpolitischen Instrumente der USA, einschließlich der Sanktionen, zu untergraben. Sie behindern auch die Fähigkeit Washingtons und seiner Partner, „die globalen Regeln durchzusetzen“ (to enforce global rules). Ihr gemeinsames Ziel ist es, eine Alternative zur gegenwärtigen Ordnung zu schaffen, die ihrer Meinung nach von den USA dominiert wird (Their collective aim is to create an alternative to the current order, which they consider to be dominated by the United States) …

In Asien, Europa und dem Nahen Osten haben sich „die Ambitionen der Achsenmitglieder“ (the ambitions of axis members) bereits als destabilisierend gezeigt. Die zerstörerischen Auswirkungen ihrer weiteren Koordinierung in den Griff zu bekommen und zu verhindern, dass die Achse das globale System durcheinanderbringt, müssen die zentralen Ziele der US-Außenpolitik sein (Managing the disruptive effects of their further coordination and preventing the axis from upsetting the global system must now be central objectives of U.S. foreign policy).

Die zitierte Passage ist aus mehreren Gründen bemerkenswert:

Zum einen sind die Verfasser sich den geo- und sicherheitspolitischen Gefahren bewusst, denen die USA und ihre Verbündeten ausgesetzt sind und die aus einer immer enger werdenden Zusammenarbeit der „unzufriedenen Staaten“ hervorgehen. In Anspielung auf die sog. „Achsenmächte“ des Zweiten Weltkrieges (Deutschland, Italien und Japan) werden sie als „Achsenmitglieder“ stigmatisiert.

Zum anderen stellen Kendall-Taylor/Fontaine zwar zutreffend fest, dass die als „Achse“ denunzierten „unzufriedenen Staaten“ weder ein exklusiver Block noch ein Bündnis ist. Sie verkennen aber zugleich die Natur dieser sog. „Achsenmitgliedschaft“, der eine geo- und sicherheitspolitische Philosophie der Anti-Blockbildung zugrunde liegt. Deswegen geht der Vorwurf ihrer Blockbildungsunfähigkeit und Bündnislosigkeit an der Sache vorbei.

Zum dritten werfen sie der „Achse“ vor, ein gemeinsames Ziel zu verfolgen, das auf eine Zerstörung der „Prinzipien, Regeln und Institutionen“ hinausläuft, die „dem prävalierenden internationalen System“ (the prevailing international system) zugrunde liegen. Die Studie präzisiert dabei nicht, was sie unter den „Prinzipien und Regeln“ des „vorherrschenden internationalen Systems“ versteht. Auch dieser Vorwurf an die Adresse der „Achse“ geht an dem in Rede stehenden geopolitischen Problem vorbei.

Denn es geht nicht um eine Zerstörung der internationalen Ordnung, sondern um eine Neutralisierung der Fähigkeit Washingtons, „die globalen Regeln durchzusetzen“ (to enforce global rules). Und das ist nicht ein und dasselbe, auch wenn das US-Establishment dieses Anliegen seit gut dreißig Jahren durchzusetzen versucht.

Nicht die internationale Ordnung stellt die „Achse“ in Frage, sondern die US-Hegemonie und ihr Anspruch auf Durchsetzung der allgemeingültigen „globalen Regeln“.

Die UN-Völkerrechtsordnung, womit man gewöhnlich das „internationale System“ identifiziert, und die von den USA angeführte unipolare Weltordnung sind zwei völlig unterschiedliche Weltordnungsprinzipien, die neben- und nicht miteinander bestehen. Das UN-Ordnungssystem entstand als Folge des Zweiten Weltkrieges, wohingegen die US-Hegemonialordnung sich erst nach dem Ende des „Kalten Krieges“ herausgebildet hat.

Indem Kendall-Taylor/Fontaine die beiden Ordnungsstrukturen und -prinzipien miteinander vermengen und unter dem undefinierten Begriff des „prävalierenden internationalen Systems“ subsumieren, vernebeln sie die Doppelstruktur des gegenwärtig bestehenden internationalen Systems.

Das Tragische an dem gegenwärtigen Weltordnungssystem ist nicht einmal seine Doppelstruktur, sondern die Tatsache, dass diese Doppelstruktur mittlerweile dysfunktional geworden ist und dass weder das UN-System, das sich de facto überlebt hat, noch das US-System der Unipolarität funktioniert.

In Verkennung dieses dysfunktionalen Charakters des internationalen Ordnungssystems werfen die Verfasser der „Achse“ vor, „eine Alternative zur gegenwärtigen Ordnung zu schaffen, die ihrer Meinung nach von den USA dominiert wird“ (… to create an alternative to the current order, which they consider to be dominated by the United States).

Das Problem ist nur, dass die „gegenwärtige Ordnung“ von den USA infolge der Machterosion der US-Hegemonie gar nicht mehr dominiert wird. Es geht der „Achse“ deswegen nicht um die Schaffung einer „alternativen Ordnung“ anstelle der von den USA angeführten unipolaren Weltordnung, sondern um die Herausbildung einer Parallelwelt neben der unipolaren Welt, die an ihrer Funktionsfähigkeit eingebüßt hat.

Diese im Entstehen begriffene Parallelwelt richtet sich weder gegen das UN-System noch gegen das unipolare US-System, sondern entsteht neben der dysfunktional gewordenen Doppelstruktur der internationalen Ordnung, weil die bisher gewährleistete Allgemeinverbindlichkeit der bestehenden Spielregeln der internationalen Beziehungen infolge des Sanktionsregimes jeder Couleur außer Kraft gesetzt wurde.

Damit wird die dysfunktional gewordene Doppelstruktur des internationalen Systems – wenn nicht gesprengt, so doch – nivelliert. Was wir hier ordnungstheoretisch beobachten, sind drei neben-, mit- und gegeneinander bestehende bzw. werdende Weltordnungsstrukturen: das machtpolitisch sich selbst überlebte UN-System, das geopolitisch und geoökonomisch erodierende US-Hegemonialsystem und das im Entstehen begriffene Weltmehrheitssystem, das man vorläufig als „BRICS-System“ umschreibend charakterisieren könnte und zu dem alle Länder und Kulturen gehören (können), die sich nicht mit dem sog. „Westen“ identifizieren (wollen).

Falls es nicht zum globalen Krieg kommt, wird sich das Weltmehrheitssystem gegen das US-Hegemonialsystem mittel- bis langfristig durchsetzen können, weil es eher dem „natürlichen“ Gang des Weltgeschehens entspricht.

Genau diese Befürchtung äußern die Verfasser der Studie, indem sie vor einer „alternativen Ordnung“ (alternative order) warnen, die sich um die Viererachse herausbilden könnte, und zeigen damit eine realistische Beurteilung der ordnungspolitischen Entwicklungen der Gegenwart. Das ist ungewöhnlich, wenn man bedenkt, wie indoktriniert und ideologisiert das außenpolitische Denken des US-Establishments geworden ist.

Zutreffend stellen sie sodann fest, dass sich die ordnungspolitische Lage mit Russlands Einmarsch in die Ukraine drastisch verändert hat, nachdem sich „die Bedrohungen für die von den USA angeführte Ordnung jahrzehntelang auf eine Handvoll von Schurkenstaaten beschränkten“ (For decades, threats to the U.S.-led order were limited to a handful of rogue states).

Als „ein neues Gravitationszentrum“ (a new center of gravity) stellt sich für sie die Viererachse dar, „woran sich die anderen Länder, die mit der bestehenden Ordnung unzufrieden sind, orientieren können“.

Ungeachtet dieser realitätsnahen Reflexion der veränderten globalen ordnungspolitischen Rahmenbedingungen fallen Kendall-Taylor/Fontaine in die indoktrinierten Denkgewohnheiten zurück, als sie zur Verteidigung der Unipolarität apologetisch anmerken: „Historisch gesehen haben konkurrierende Ordnungen zu Konflikten geführt“ (Historically, competing orders have invited conflict).

Die Perioden, in denen eine einzige Ordnung prävalierte, wie z. B. das Gleichgewichtssystem (wie z. B. das europäische Mächtekonzert des 19. Jahrhunderts) oder die von den USA dominierte Weltordnung nach dem Ende des „Kalten Krieges “, waren weniger anfällig für Konflikte als jene, die durch mehr als eine Ordnung gekennzeichnet waren, wie die multipolare Periode zwischen den Weltkriegen oder die bipolare Weltordnung, beteuern die US-Apologeten der unipolaren Weltordnung antifaktisch.

Dass diese Beteuerung ahistorisch bzw. jenseits der Realität ist, beweisen die zahllosen Kriege und Krisen der seit gut dreißig Jahren andauernden US-Hegemonialordnung, die eben zu dem geführt hat, was wir heute haben: die konkurrierenden Ordnungsentwürfe, die nicht unversöhnlicher und antagonistischer sein könnten.2

2. Russland als „der Hauptinitiator der Achse“?

Als wäre es das Naturrecht (ius naturale) der USA, die globale Führungsmacht für immer und ewig zu bleiben, werfen Kendall-Taylor/Fontaine der Viererachse vor, jeweils eigene „Einflusssphären“ (a sphere of influence) haben zu wollen, um die USA, für die ja bekanntlich der ganze Globus in ihrem „nationalen Sicherheitsinteresse“ liegt, herauszufordern: Chinas „Grundinteressen“ (core interests) erstrecken sich im Wesentlichen auf Taiwan und das Südchinesische Meer, wohingegen der Iran bestrebt sei, den Einfluss auf die „Achse des Widerstands“ (axis of resistance) – die „Stellvertretertrupps“ (proxy groups) im Irak, im Libanon, in Syrien und im Jemen – zu nehmen. Während Nordkorea die gesamte koreanische Halbinsel beanspruche, wolle Russlands das „Nahe Ausland“, das „sein historisches Imperium“ (its historic empire) bilde, unter Kontrolle bringen.

Wie zu Zeiten der Großmächterivalität versuche die Viererachse die Welt eigenmächtig, d. h. ohne den US-Hegemon um Erlaubnis zu bitten, in ihre jeweiligen „Einflusssphären“ einzuteilen, wollen Kendall-Taylor/Fontaine uns damit sagen. Denn sie verstoßt damit gegen das „ius naturale“ der USA.

Deswegen sehen China, Russland, Iran und Nordkorea in den USA das Haupthindernis für die Etablierung ihrer jeweiligen Einflusssphären und streben danach, die Präsenz Washingtons in ihren jeweiligen Regionen zu reduzieren. Alle lehnen dabei „das Prinzip der universalen Werte“ (the principle of universal values) ab und interpretieren das Eintreten des Westens für seine Art von Demokratie als nicht weiter als ein unlauter Versuch, ihre legitimen Machtinteressen zu untergraben und innenpolitische Instabilität zu schüren.

„Sie beharren darauf, dass die einzelnen Staaten das Recht haben, Demokratie für sich selbst zu definieren“ (They insist that individual states have the right to define democracy for themselves). Ungeheuerlich sei das! Sie verstoßen damit auch hier gegen das „Allerheiligste“ – „das Prinzip der universalen Werte“. Soweit Kendall-Taylor/Fontaine.

Die Verfasser versuchen mit anderen Worten die handfesten geopolitischen US-Interessen wie seit eh und je axiologisch zu verklären und erwecken den Eindruck, als würde der Machtkampf um die „Einflusssphären“ allein wegen der Ablehnung der „universalen Werte“ der westlichen Zivilisation durch die Viererachse stattfinden.

Dieses messianische Sendungsbewusstsein, hinter dem sich knallharte geopolitische und geoökonomische Interessen verbergen, hat eine lange Vorgeschichte. Die europäischen Großmächte agierten bereits im Zeitalter des „europäischen Jahrhunderts“ (Herbert Lüthy)3 weltweit genauso wie heute im Bewusstsein ihrer ökonomischen und militärischen Überlegenheit und sahen sich als die Quelle von Fortschritt, Modernität und universaler Zivilisation.

Die außereuropäischen Kulturen sollten notfalls mit Gewalt dazu gezwungen werden, die Normen und Gesetze der „zivilisierten Völker“ Europas zu übernehmen. Solche Forderungen bedeuteten allerdings einschneidende, ja oft brutale Eingriffe in die Lebensgewohnheiten und Sitten fremder Kulturen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen für die einheimischen Machtstrukturen, was sich am Beispiel China zeigt.

Die im 19. Jahrhundert „häufig praktizierte sogenannte Kanonenbootpolitik bedeutete Androhung von Intervention und Gewalt für den Fall, dass China sich nicht den Forderungen eines westlichen Staates beugen würde.“4

Mittels diplomatischer Einschüchterungen und militärischen Drohungen wurde „ein wirksamer Interventionsmechanismus geschaffen, der es erlaubte, das chinesische Reich unter Druck zu setzen und zu Zugeständnissen zu zwingen. Institutionalisiert wurde dieser informelle Imperialismus im Laufe des 19. Jahrhunderts durch ein System von Verträgen“ (ebd.,19). Wichtig war u. a. die Abtretung Hongkongs an Großbritannien, die Gewährung von Exterritorialität für alle Ausländer gegenüber den Rechtsansprüchen der chinesischen Obrigkeit usw. Für China bedeuteten die Verträge nicht nur einen erheblichen Verlust an Souveränität und Handlungsfreiheit (ebd., 20), sondern auch eine historische Demütigung, die bis heute weder vergessen noch verziehen wurde.

Diese Zeiten sind zwar längst vorbei, die axiologisch verklärte geopolitische Konfrontation bleibt aber dessen ungeachtet voll intakt. Statt sich aber selbstkritisch der eigenen jüngsten Vergangenheit zu vergewissern, ist das US-Establishment stets auf der Suche nach „neuen“ Feindbildern. Und wer sucht, findet. Es ist auch fündig geworden. Das ist „the Axis of Upheaval“, die einer Aufrechterhaltung der globalen Führungsrolle der USA und ihrer Verbündeten im Wege steht.

Und an all dieser Entwicklung ist vor allem Russland schuld, empören sich Kendall-Taylor/Fontaine und halten Moskau vor, der Hauptinitiator dieser Achse zu sein (vgl. „Moscow has been the main instigator of this axis“). Sie begründen ihre kühne These mit der russischen „Invasion in die Ukraine“, die ein vorläufiger Höhepunkt in „Putins langjährigem Kreuzzug gegen den Westen“ (Putin’s long-standing crusade against the West) markiere.

Schlimmer noch: Putin sei entschlossen, nicht nur die Ukraine, sondern auch die Weltordnung zu zerstören (vgl.: Putin has grown more committed to destroying not only Ukraine but also the global order). Von einer Selbstkritik ist freilich hier ebenso wenig etwas zu spüren, wie von der Kritik der US-Außen- und Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre. Vergessen ist etwa die dreißig Jahre andauernde Nato-Expansionspolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“, die aus russischer Sicht im Wesentlichen für den Kriegsausbruch in der Ukraine verantwortlich war.5

3. Das veränderte „Bild der Geopolitik“

Nun beklagen Kendall-Taylor/Fontaine die „Unterminierung“ der US-Außenpolitik durch die Viererachse, die Washingtons Bemühungen behindere, „internationale Koalitionen“ gegen sich zu bilden. Gleichzeitig bilde sie ihre eigenen Bündnisse und versuche den Nichtwesten bzw. den sog. „Globalen Süden“ auf ihre Seite zu ziehen:

Chinas Weigerung, Russlands Invasion in die Ukraine zu verurteilen, habe es Ländern in Afrika, Lateinamerika und dem Nahen Osten viel leichter gemacht, dasselbe zu tun. Und Peking und Moskau haben die westlichen Bemühungen, den Iran zu isolieren, behindert. Im vergangenen Jahr erhoben sie den Iran vom Beobachter zum Mitglied der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit und luden ihn ein, den BRICS beizutreten – einer Staatengruppe, „die China und Russland als Gegengewicht zum Westen betrachten“ (that China and Russia view as a counterweight to the West).

Dass die BRICS-Staaten von China und Russland „als Gegengewicht zum Westen“ in Stellung gebracht werden, widerspricht, gelinde gesagt, der geopolitischen BRICS-Philosophie der Anti-Blockbildung.5 Nicht desto weniger beteuern die Verfasser antifaktisch, dass „weder der Westen noch die Achse zu völlig eigenständigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Blöcken werden“ (Neither the West nor the axis will become wholly distinct political, military, and economic blocs).

Die transatlantischen Institutionen, die aus der Nato-Allianz, der Europäischen Union (EU) und den G7-Staaten bestehen, widersprechen allerdings dieser Behauptung. Sie sind schon längst zu einem handlungsfähigen politischen, militärischen und wirtschaftlichen Block geworden, wohingegen weder die BRICS noch die sog. „Achse“ – folgt man ihrer eigenen geopolitischen Philosophie – eine Blockbildung beabsichtigen.

Die BRICS begreifen sich vielmehr als ein Zusammenschluss von unterschiedlichen Zivilisationen und souveränen Staaten auf Grundlage von Gleichberechtigung, Gleichrangigkeit und Gleichwertigkeit. Diese geopolitische Philosophie steht im schroffen Gegensatz zur transatlantischen Nato-Allianz, die einer ganz anderen geopolitischen Logik – der Block- und Allianzlogik – folgt. Mit Allianzbildung ist dabei immer die Frage der Vasallität und der Hegemonie „unlöslich verbunden, sobald es sich nicht um ein Bündnis zwischen vollkommen Gleichen handelt“.6

Und die Nato-Allianz ist eben kein „Bündnis zwischen vollkommen Gleichen“. Sie hat Abhängigkeiten geschaffen und die Handlungsfreiheit der europäischen Bündnispartner stark eingeengt, obwohl das Prinzip des Washingtoner Bündnisvertrages von 1949 die souveräne Gleichheit der Vertragspartner zur Voraussetzung hat.

„Tatsache ist“ – stellte Brzezinski einst unumwunden klar -, „dass Westeuropa und zunehmend auch Mitteleuropa ein amerikanisches Protektorat bleiben, dessen alliierte Staaten an Vasallen und Tributpflichtige von einst erinnern.“7

Die Fokussierung allein auf die Viererachse verengt zudem den Blick auf einen bedeutenden, aber eben nur einen Teil der globalen geopolitischen und geoökonomischen Prozesse, die die US-Hegemonie und die westliche Weltdominanz insgesamt in Frage stellen. Wir erleben eine Emanzipationsrevolution des Nichtwestens vom Westen und dagegen ist bis jetzt kein Kraut gewachsen.

Wer wie Kendall-Taylor/Fontaine die „Achse“ als eine Vorstoßtruppe dieser Emanzipationsbewegung deutet, der sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht. Die Viererachse ist weder eine Vorstoßtruppe der BRICS-Staaten noch sind die BRICS-Staaten ein „Gegengewicht zum Westen“. Vielmehr versuchen sie hier die „Achse“ als ein neues Feindbild des Westens zu konstruieren.

Denn die „vier Mächte, die an Stärke und Koordination gewinnen“, bedrohen die bestehende Weltordnung unter der US-Führung (vgl.: „Four powers, growing in strength and coordination, are united in their opposition to the prevailing world order and its U.S. leadership“), behaupten Kendall-Taylor/Fontaine. Zugleich warnen sie aber vor einer direkten Konfrontation mit einem ihrer Mitglieder (vgl.: „Although competition with the axis may be inevitable, the United States must try to avoid direct conflict with any of its members“), auch wenn sie im gleichen Atemzug betonen, wie „gefährlich“ die Viererachse sei.

Sie sei eine Staatengruppe, die auf Umsturz hinaus sei, sodass die USA mit ihren Bündnispartnern „die Achse als eine Generationenherausforderung“ (the axis as the generational challenge) begreifen müssen. Es sei so gut wie ausgeschlossen, die Achse aufzuhalten, wohl aber sei es möglich, sie davon abzuhalten, das bestehende System auf den Kopf zu stellen, machen Kendall-Taylor/Fontaine sich und dem US-Establishment Hoffnung.

Ist es vielleicht aber genau umgekehrt? Vielleich steht das Weltordnungssystem schon jetzt „auf dem Kopf“ und die „Viererbande“ gemeinsam mit dem „Globalen Süden“ versucht, es auf die Füße zu stellen? Auf diese Idee kommt die Studie offenbar nicht.

Ganz im Gegenteil: Zum Schluss der Studie sind die Verfasser siegesgewiss und prophezeien einen Triumpf des Westens über dessen neue „Feinde“: Der Westen habe alles, was er braucht, um in diesem Wettbewerb zu triumphieren.

Seine Wirtschaft sei viel größer, seine Streitkräfte seien mächtiger, seine Geografie sei vorteilhafter, seine Werte seien attraktiver und sein demokratisches System sei stabiler. Die USA haben alle Voraussetzungen, „um mit dieser aufkeimenden antiwestlichen Koalition zu konkurrieren“ (to compete with this budding anti-Western coalition).

„Die neue Achse hat das Bild der Geopolitik bereits verändert“ (The new axis has already changed the picture of geopolitics), warnen sie und fügen gleich hinzu: Washington und seine Bündnispartner könnten aber immer noch verhindern, dass die „Achse“ die Welt verändere.

Aber vielleicht kämpfen die Verfasser wie Don Quijote gegen Windmühlen, weil es weder eine „antiwestliche Koalition“ noch überhaupt eine „Viererachse“ gibt? Was es gibt, sind allein die Feind-, sprich: Phantasiebilder derer, die immer noch von ihrem hegemonialen Weltbild nicht abrücken und das veränderte „Bild der Geopolitik“ (picture of geopolitics) nicht akzeptieren wollen.

Da bleibt ihnen wohl gar nichts anderes übrig, als die neue geopolitische Realität zu akzeptieren. Wie pflegte der verstorbene Kanzler Helmut Kohl (1930-2017) doch immer wieder zu sagen: „Die Hunde bellen, die Karawane zieht weiter“.

Anmerkungen

1. Miller, C., „Die Balance ist äußerst fragil“, Handelsblatt 3./4./5. Mai 2024, 49.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels. 11 September
2023, www.ontopaxiologie.de.
3. Lüthy, H., Das europäische Jahrhundert, in: ders., In Gegenwart der Geschichte. Köln/Bonn 1967, 245-264.
4. Mühlhahn, K., China und der westliche Imperialismus, in: Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der
Boxerbewegung 1900-1901, hrsg. v. Mechthild Leutner u. Klaus Mühlhahn. Berlin 2007, 15-26 (19).
5. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
6. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 99.
7. Brzezinski, Z., Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft. 1997, 94.

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