Verlag OntoPrax Berlin

Kriegspropaganda

Im Lichte einer philosophischen Reflexion

Übersicht

1. Kriegspropaganda als Kunst der Täuschung und Verstellung
2. Die Einförmigkeit des intellektuellen Diskurses und Selbstkritikunfähigkeit
3. Auf dem Wege der Entmenschlichung

Anmerkungen

Welt- und Menschenbilder sind „Mächte, die über den Menschen hereinbrechen,
so sehr, dass sie es vermögen, ihn in blutige Kämpfe zu verstricken.“
(Wilhelm Weischedel)1

1. Kriegspropaganda als Kunst der Täuschung und Verstellung

Wer das Kriegsgeschehen in der Ukraine der vergangenen gut zwei Jahre Revue passieren lässt, merkt schnell, dass die Kriegsberichtserstattung mehr Verwirrung als Aufklärung schafft und oft wortreich nichts sagt über das tatsächliche Geschehen am Ort des Geschehens. Das Gesamtbild des Krieges fehlt und es liegt nicht einmal an gezielt gestreuten Desinformationen der Kriegsberichterstatter oder an einem bewussten Vorenthalten von Informationen.

Vielmehr ist das meistens auch eine unreflektierte Weitergabe der fremdgesteuerten Kriegspropaganda infolge einer inkompetenten, unqualifizierten und kritiklosen Verarbeitung der zur Verfügung gestellten, als „echte Informationen“ suggerierten Desinformationen, deren Kriegsbilder irreführen und/oder die das Gesamtbild auf dem Kriegsschauplatz verstellend darstellen, oft virtuelle Siege wortgewaltig verkünden und Niederlagen lautlos verschweigen.

Apropos Bilder – Weltbilder, Menschenbilder, Kriegsbilder! Sie haben eine gewaltige Macht über uns, ohne dass wir uns oft dessen bewusst sind. „Oft hat es den Anschein“ – schrieb der Berliner Philosoph Wilhelm Weischedel (1905-1975) einst resignierend -, „als sei gar nicht der Mensch ihrer mächtig, sondern als seien sie die Herren des Menschen, als handle es sich in den weltanschaulichen, religiösen und politischen Auseinandersetzungen nicht so sehr um einen Kampf der Menschen untereinander, als vielmehr um einen Streit der Bilder im Menschen und um den Menschen.“

„So kann man am Ende“ – resümiert Wieschedel – „von einer Dämonie der Bilder sprechen. Denn das Dämonische ist das unfassbar Mächtige … Es ist, als stünde der Mensch ständig unter dem Ansturm von Mächten, die sich ins Bild tarnen.“2

Und so ist auch unsereiner in Zeiten des Krieges dem Ansturm der Kriegspropaganda ausgesetzt , die sich in den Bildern tarnt, sich hinter den Bildern versteckt und mit den Bildern täuscht.

Nichts ist so ein- und aufdringlich, wie die uns von der Kriegspropaganda aufgezwungenen Bilder, die auf uns einwirken, ohne dass wir deren Wahrheitsgehalt überprüfen können. Sie wirken auf uns wie Beschwörungsformeln, fesseln uns und ziehen uns in ihren Bann.

Gefesselt und gefangengenommen von der Macht der Bilder, entsteht aus ihnen unsere Vorstellung von der Realität, in die Irrealität miteinfließt und die die beiden ununterscheidbar macht.

Diese Ununterscheidbarkeit missbraucht die Kriegspropaganda zwecks Erzeugung eines Scheins, der „Realität“ suggeriert und vortäuscht. „Die Macht der Bilder … ist die Macht des Scheins“, der in seiner Scheinhaftigkeit „dichtet, statt zu sein“ (Kierkegaard)3.

„So geschieht es, dass der Mensch sich vom mächtigen Schein willig gefangen nehmen lässt, und dass er, wo er sich ihm … entgegenstellt, nur wieder neuen Schein erzeugt. Der Schein verzaubert den Menschen, und dieser bildet, um der Verzauberung zu entgehen, seinerseits verzaubernden Schein. Er ist der Sklave des Scheins. Auch und gerade in seiner Kunst.“4

So ist auch die Kriegspropaganda Dichtung und Kunst in einem. Ihr liegt die Macht des Bildes zugrunde, dessen Schein auf etwas Ursprünglicheres, als es ist, hinweist und verweist, sodass „ein Bild >als solches< schon seiner Natur nach keine Selbstständigkeit in sich hat, sondern auf ein Ursprüngliches außer ihm hinweist“.5

Dieses Ursprüngliche kann entweder existieren oder eingebildet oder erdichtet sein, d. h. das Bild „vertritt“ die Anwesenheit des Abwesenden oder des Vorgestellten bzw. Erfundenen oder Erdichteten. Kurzum: Das Bild „verdinglicht“ unsere Einbildungskraft.

Die Mutmaßung oder gar Überzeugung, dass diese „Verdinglichung“ etwas „Reales“, „real“ Vorhandenes ist, macht eben die Kriegspropaganda als eine Kunst der Täuschung und Verstellung aus, die „dichtet, statt zu sein“.

In Abwandlung eines Spruchs von Friedrich Schlegel (1772-1829), der vor zweihundert Jahren in seinen literarischen Notizen unter der Nummer 1844 verkündete: „Poesie in der höchsten Potenz ist Historie“, kann man die hier und heute tobende Kriegspropaganda mit Verweis auf diese poetische Verklärung der Geschichte behaupten: Kriegspropaganda in der höchsten Potenz ist Dichtung.

Diese Dichtung findet freilich nicht mehr im Zeitalter der Romantik statt, sondern in Zeiten schwindelerregender, aberwitziger Informationsvergewaltigung, verzerrender Kriegsberichtserstattung, karikierender und persiflierender Scheinerkenntnisse der Halb- und Ungebildeten, die angeben, gut informiert, bestens vernetzt und im Besitz geheimdienstlicher Informationen allwissend zu sein, als wären die Geheimdienste der Hort der „absoluten Wahrheit“.

Ja, die Dichtung! Sie ist nicht mehr das, was sie einst war, – nicht mehr jene betörende Leidenschaft des Dichters, der „im Anfall der Begeisterung das Rätsel Gottes löst“ (Dostojewski).6 Unsere „Dichtung“, die wir heute in Zeiten des Krieges erleben, ist eine Kunst der Täuschung, Tarnung und Verstellung – selbstverblendet, hasserfüllt und notgetrieben.

Und so könnte man in Anlehnung an den Philosophen Christoph Türcke die Formulierung wagen: „Weil Not Dichten lehrt“ ist die gesamte Propagandawelt „Dichtung aus Not“.7

Dem würden die im Dienst der „Wahrheit“ stehenden Propagandisten entschieden widersprechen. Die als Lügnerin geschmähte Propaganda ist in Wahrheit eine als Täuschung und Verstellung gefeierte „Kunst“, preisen sie hingegen ihr „kunstvolles“ Handwerk.

Dabei merken sie nicht, dass ihre Täuschung Selbsttäuschung ist, die die Realität verstellt und die verstellte Realität, in Bildern vermittelt, dem Publikum präsentiert, als wäre diese und nur diese verstellte Realität die einzig wahre und unverwechselbare.

Die Kriegspropaganda ist ihrer Natur nach ein erbarmungs- und gnadenloser Gewaltakt, die so tut, als sei sie keine Täuschung und Verstellung der Realität, erzeugt sie doch durch die Macht der Bilder nur noch mehr Hass, Ressentiment und Gewaltphantasien der in ihrer Scheinwelt gefangengenommenen Menschen.

2. Die Einförmigkeit des intellektuellen Diskurses und Selbstkritikunfähigkeit

Die allerseits tobende Kriegspropaganda ist zu einem gigantischen, gegenseitig verleumdenden und verunglimpfenden geopolitischen Theaterstück verkommen.

Totus mundus agit histrionem“: Alle Welt schauspielert, verkündete einst die Inschrift über dem Eingang des Globe Theaters in London, der Bühne Shakespeares. Was in der Welt des Barocks, in welcher der schöne Schein zum Prinzip der Kunst erhoben wurde, die Klage der Moralisten war, das war der Stolz der Komödianten, kommentiert Richard Alewyn die Inschrift.8

Und heute? Heute sind Moralisten und Komödianten im geopolitischen Schaukampf Zwillinge geworden. Sie praktizieren gemeinsam die Kunst der Täuschung und Verstellung, der gegenseitigen Verachtung und Verleumdung. Willkommen im Klub der Propagandisten!

Die Propaganda suggeriert „Wahrheit“, die keine ist, benutzt Bilder zur Tarnung und Täuschung. Ihr Adressat ist kein aufgeklärtes Publikum, sondern ein Zuhörer und/oder Zuschauer, bei dem aus dem Arsenal bereits geglaubten, festgelegten bzw. anerzogenen Werthaltungen die „richtigen“ Assoziationen, Vorstellungen, Selbst- und Weltbilder, fertige und gerechtfertigte Urteile und Vorurteile abgerufen werden.

Diese Kunst der Täuschung und Verstellung ist eines evozierenden Ursprungs; sie zielt auf das vermeintlich oder tatsächlich unsichtbar Anwesende, deswegen vom Glauben und Meinen und nicht vom Wissen her fundiert. Ihr Impetus und ihre Quelle ist das Unsichtbare, das Verborgene, wie etwa die Gottesvorstellung: Gott lebt entweder „im Bild ohne Wort“ (Ägypten der Pharaonen) oder „im Wort ohne Bild“ (Israel): „Kein Mensch wird leben, der mich sieht“ (Gott zu Moses).9

Die Kunst, das nicht unmittelbar Wahrnehmbare als das Wahre und Reale zu verkaufen, setzt die auf die Macht der Bilder, die es mittels deren Suggestionskraft vermögen, das Bildhafte, das Imaginäre „begreifend“, d. h: glaubhaft zu machen.

Der Propaganda sind insbesondere jene empfänglich, die nicht unmittelbar oder über einen Bildungsweg das Andere, das Fremde kennengelernt haben. „Wer nie in Berührung kam mit einem andern und Fremden,“ der weiß auch nicht, „wer er selbst ist“, merkte Karl Löwith (1897-1973) einst an und fuhr fort: „Eine solche Berührung veranlasst zweierlei: Vergleich mit und Unterscheidung von, weil sich nur Ungleiches oder Verschiedenes auch miteinander vergleichen lässt. Der unterscheidende Vergleich führt jedoch nicht notwendig zu einem Ausgleich, sondern eher zur Auseinandersetzung, und diese bedeutet zugleich eine Selbstunterscheidung oder >Kritik< an sich selbst. Kritiklosigkeit gegen sich selbst beruht auf der Unfähigkeit, sich selbst wie einen anderen zu sehen und aus sich selber herauszugehen.“10

Und da liegt der Hund begraben. Die zunehmende geistige Uniformität und Anpassung ist das Kennzeichen unserer Gegenwart. Sie spiegelt die Entwicklung unserer Massengesellschaft wider, die „eine gewisse Einförmigkeit des intellektuellen Diskurses“11 bestimmt. Dieser wird durch die Vorherrschaft verordneter, von einem pseudomoralischen Rigorismus und intellektuellen Hochmut bestimmter Denkmuster bei einer gleichzeitig zunehmenden Ideologisierung der angeblich entideologisierten Massenkultur geprägt.

Man kann geradezu von der Ausbildung einer geistigen Monokultur sprechen, in welcher die Unaufgeklärtheit, intellektuelle Unredlichkeit, selbstbezogene Beweihräucherung und axiologische Borniertheit eng miteinander verwoben sind.

Diese geistige Monokultur bezieht sich in ihrem Realitätsverständnis nicht auf das reale Vorhandensein der Welt, sondern auf das durch das eigene Selbstbild erzeugte Weltbild. Und so stellt sich immer wieder die Frage, ob wir überhaupt gewillt und in der Lage sind – von unseren Selbstbildern abstrahierend – die anderen kulturellen Selbstverständnisse zumindest zur Kenntnis zu nehmen?

Woher soll aber diese Kenntnis überhaupt kommen, werden wir doch ständig zwischen den Mühlsteinen medialer, sich als „Wahrheit“ gebärender Propaganda regelrecht zerrieben? Die vermeintliche „Wahrheit“ verdünnt sich bei näherem Hinsehen meistens zu einer aus bloßen Meinungen „zu komponierenden Perspektive, ungeschützt gegen den Einwand, auch sie sei nichts als Meinung“12.

Da möchte man mit Goethe am liebsten immer wieder und immer lauter in die Menge rufen:

„Ursprünglich eignen Sinn
Lass dir nicht rauben!
Woran die Menge glaubt,
Ist leicht zu glauben.
Natürlich mit Verstand
Sei du beflissen;
Was der Gescheite weiß,
Ist schwer zu wissen.“

Stets verbleiben wir in den Niederungen medial verzerrter Realität und wühlen nervös im medialen Abfall der uns aufgetragenen und aufgezwungen Scheinwirklichkeit, bilden uns zugleich ein, das Andere, uns Fremde, wie das Eigene, authentisch zu „kennen“, ohne allerdings diese scheinbare „Kenntnis“ des Anderen und auch des Eigenen zu hinterfragen.

Diese fehlende Hinterfragung der Kenntnisse des Eigenen und des Anderen begünstigt die Propagierung der Vorstellungen, deren Irrealität sich machtvoll in das Bild drängt, um die Realität vorzutäuschen.

3. Auf dem Wege der Entmenschlichung

Worum geht es aber letztendlich der Kriegspropaganda? Den Gegner moralisch zu diskreditieren, ihn zum „absoluten Feind“ zu stilisieren und schließlich zu entmenschlichen. In ihrer äußersten Form verkörpert sie das zum Extrem gesteigerte Hassgefühl, das sich in der Entmenschlichung des Gegners entlädt. Und diese Entladung hat eine lange Tradition und geht bereits auf den Ersten Weltkrieg zurück.

Der Erste Weltkrieg markiert „nicht nur den Endpunkt einer vergehenden Epoche, sondern zugleich auch den Beginn einer folgenschweren Entwicklung.13

Nationalchauvinismus, Rassenhass und die Entmenschlichung des Feindes in bislang unerhörtem Ausmaß wären undenkbar ohne jene Kriegspropaganda, „die zu den herabwürdigenden, geradezu schmutzigen Gefühlen des grausamen Hasses, der Rachesucht, der restlosen Vernichtung des Gegners“14 geführt hat.

Und so beklagte die französisch-jüdische Sozialrevolutionärin Simone Weil (1909 – 1943) 1938 eine solche Geisteshaltung „als einen Rückfall in die Barbarei“, deren verhängnisvollste Konsequenz „die Entmenschlichung des Feindes durch seine Verwendung als Stereotyp“ war.15

Und heute? Heute beobachten wir seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine die Rückkehr der Feinbilder auf die Bühne der nie enden wollenden Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die auf ein dreifaches Spannungsverhältnis zurückzuführen ist.

Es ist ein Spannungsverhältnis zwischen der durch die Kriegspropaganda hervorgerufene Mentalität der „Entmenschlichung“, der ideologisch verbrämten Selbst- und Fremdbilder und der geopolitisch veränderten Kräfteverhältnisse zu Lasten des Westens, das dazu verleitet, Russland mit „Putinismus“ gleichzusetzen und „Putinismus“ als „Faschismus“ zu denunzieren.16

Diese gefährliche Tendenz der Entmenschlichung des geopolitischen Rivalen kann nicht nur zur „Abkehr von realistischer Politik“17 führen, sondern auch eine unkontrollierte Eskalation mit verheerenden Folgen für alle Seiten hervorrufen.

Dass die Macht der Bilder auch im Atomzeitalter über Krieg und Frieden entscheiden kann, darauf hat Albert Wohlstetter (1913-1997) – der Abschreckungstheoretiker und Vordenker der Revolution in Military Affairs sowie Mitarbeiter der RAND Corporation in den 1950er/60er-Jahren längst und eindringlich hingewiesen.

Um die Entscheidungen des Gegners vorherzusagen, sei es laut Wohlstetter von wesentlicher Bedeutung, „seinen kulturellen Code – im Jargon von RAND: seinen >Operational Code< – zu entschlüsseln.“ Dem Konzept des „Operational Code“ lag der Gedanke zugrunde, dass strategische Entscheidungen nicht notwendigerweise eine Reaktion auf die reale Welt sind, sondern vielmehr den konstruierten Bildern aufseiten der Entscheidungsträger folgen. Die Entscheidungsprozesse des Feindes wurden demnach durch ein Prisma von Überzeugungen gefiltert, die sein weiteres Verhalten mehr oder weniger vorbestimmten.18

Und eben diese auch von der Kriegspropaganda konstruierten Bilder prägen unsere Vorstellungen über den geopolitischen Rivalen und bestimmen unsere Denk- und Entscheidungsprozesse. Umso verheerend und gefährlich kann die Entmenschlichung des Gegners sein, wenn man den sog. „Putinismus“ als „Faschismus“ verunglimpft.

Russland unter Putin sei heute ein „faschistoides Regime“, vor dem man weder Angst noch Respekt, aber viel „Verachtung“ und „Abscheu“ empfinden müsse. Denn „das Grundproblem mit Russland“ sei – behauptet eine pseudowissenschaftliche Studie – „die Natur des Regimes, welches sich in einen faschistoiden Größenwahn hineingesteigert hat und offenbar unbeirrt an der Umsetzung seiner imperialen Pläne arbeitet: der Revision des Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen.“19

Diese völlig abstruse, ja hasserfüllte These hält keiner Kritik stand. Der Faschismus-Begriff ist längst zu einem vom zeitgeschichtlichen Zusammenhang losgelösten Schimpfwort verkommen, das bei jeder Gelegenheit mantraartig allerseits und allerorts angewandt und gegen jeden x-beliebigen politischen und/oder geopolitischen Gegner denunziatorisch missbraucht wird.20

Der Faschismus ist genauso wie Kommunismus und Nazismus ein zeitgeschichtliches Phänomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darf aber nicht ohne weiteres mit Marxismus oder „mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden“. Er ist Produkt der westeuropäischen Geistes- und Verfassungsgeschichte. Zutreffend stellte Ernst Nolte deswegen in einer Diskussion fest: „Sowohl der Kommunismus wie der Faschismus sind aus der Gesellschaft des >europäischen liberalen Systems< hervorgegangen.“21

Als Ideologie konnte der Faschismus allein auf dem Boden des westeuropäischen Nationalstaates entstehen und als Protest gegen die Moderne und ihre ökonomischen und sozialen Auswüchse gedeihen. Russland war hingegen nie ein Nationalstaat; es ist auch heute kein Nationalstaat und kann darum per definitionem aus sich keinen Faschismus gebären.

Nicht von ungefähr war schon in der Revolution von 1848 die Janusköpfigkeit der Moderne zu beobachten, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte. Und bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze22 in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“

Diese moderne aneinander gekoppelte Nationsbildung und Verfassungsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins bis zum brachialen Ethnonationalismus, Chauvinismus, Rassismus usw. einher.

Wer im Faschismus allein „ein Nebenprodukt des Ersten Weltkriegs …, einen einfachen Reflex bürgerlicher Selbstverteidigung gegen die Nachkriegskrise“ sehen will, wird „von diesem fundamentalen Phänomen“ des 20. Jahrhunderts „nichts begreifen“ können.23

„Die faschistische Ideologie, wie sie um die Jahrhundertwende entstand und in den zwanziger und dreißiger Jahren fortentwickelt wurde, ist das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Revision des Marxismus, sie drückt einen revolutionären Willen aus, der sich auf die Ablehnung des Individualismus liberaler wie marxistischer Prägung gründet, und sie verkündet die Prinzipien einer neuen, eigenständigen politischen Kultur. Kollektivistisch, antiindividualistisch und antirationalistisch, lehnte sie anfangs das Erbe der Aufklärung und der Französischen Revolution ab, um dann, in einer zweiten Phase, eine totale Veränderung auf geistigem, moralischem und politischem Gebiet anzustreben, die allein den Fortbestand der menschlichen Gemeinschaft gewährleisten konnte, in die alle Schichten und Klassen der Gesellschaft vollkommen integriert wären.“ Kurzum: „Der Faschismus behauptete, die verheerendsten Auswirkungen der Modernisierung auf dem europäischen Kontinent beseitigen zu können.“24

Wer daher darauf beharrt, den sog. „Putinismus“ mit „Faschismus“ gleichzusetzen, will verleumden und denunzieren, schürt nur noch die hasserfüllten Ressentiments und hat entweder keine Ahnung von dessen geistes-, zeit- und verfassungsgeschichtlichen Wurzeln oder missbraucht das Schlagwort >Faschismus< sinnentleert als Instrument der Kriegspropaganda zwecks Entmenschlichung des geopolitischen Rivalen.

Wer weiterhin auf die Entmenschlichung des Gegners setzt, will dessen Vernichtung, provoziert eine nie enden wollende Eskalation und riskiert im Nuklearzeitalter das biblische Armageddon – die endzeitliche Entscheidungsschlacht. Ob die Kriegspropagandisten das begreifen? Wissen Sie überhaupt, worauf sie sich da einlassen und wo das enden kann? Zweifel sind angebracht.

Anmerkungen

1. Weischedel, W., Abschied vom Bild, in: ders., Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Aufsätze und Vorträge.
Berlin 1960, 158-169 (163).
2. Weischedel (wie Anm. 1), 163 f.
3. Zitiert nach Weischedel (wie Anm. 1), 165.
4. Weischedel (wie Anm. 1), 165.
5. Fichte, Die Wissenschaftslehre von 1804. Zitiert nach Weischedel, W., Abschied vom Bild, in: ders.,
Wirklichkeit und Wirklichkeiten. Berlin 1960, 158-169 (159).
6. Zitiert nach Onasch, K., Die alternative Orthodoxie. Zürich 1993, 86.
7. Türcke, C., Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt 1989, 52.
8. Alewyn, R., Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1985, 91.
9. Vgl. Troje, H. E., „Illusione“. Ein Gelehrten-Roman. Bodenheim 1994, 49.
10. Löwith, K., Unzulängliche Bemerkungen zum Unterschied von Orient und Okzident, in: Die Gegenwart der
Griechen im neueren Denken. FS f. H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag. Tübingen 1960, 141-170 (142).
11. Riedweg, C., Mit Stoa und Platon gegen die Christen: Philosophische Argumentationsstrukturen in Julian
contra Galilaeos, in: Fuhrer, Th. u. a. (Hrsg.), Zur Rezeption der hellenistischen Philosophie in der Spätantike.
Stuttgart 1999, 57 f.
12. Adorno, Th. W., Meinung – Wahn – Gesellschaft, in: ders., Eingriffe. Frankfurt 2003, 147-172 (161 f.).
13. Bracher, K. D., Der historische Ort des Zweiten Weltkrieges, in: 1939 (wie Anm. 134), 347-374 (348).
14. Mosse, G. L., Der Erste Weltkrieg und die Brutalisierung der Politik, in: Funke, M., u. a. (Hrsg.) Demokratie
und Diktatur. Düsseldorf 1987, 127-139; vgl. Bracher (wie Anm. 6), 128.
15. Zitiert nach Mosse (wie Anm. 14) 131.
16. Silnizki, M., Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart. Vom biologischen zum geopolitischen
Rassismus? 5. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
17. Vgl. Bracher (wie Anm. 13), 354.
18. Zitiert nach Robin, R., Gleichgewicht des Schreckens oder des Irrtums? In: Greiner, B./Müller, T. B./Weber,
C. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 5, 276-297 (284).
19. ISPK: „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für eine
Beendigung des Krieges“. 12. Juli 2022, S.17.
20. Näheres dazu Silnizki, M., Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart. Vom biologischen zum
geopolitischen Rassismus? 5. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
21. Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse. Kolloquium im
Institut f. Zeitgeschichte am 24. November 1978. Wien 1980, 61.
22. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen
Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und
Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
23. Sternhell, Z./Sznajder, M./Ascheri, M., Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini.<> Hamburg 1999, 17.
24. Sternhell (wie Anm. 23), 17.

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