Norbert Röttgen und seine Kriegsphantasien
Übersicht
1. Kriegsspiele eines verkannten Militärstrategen
2. Jenseits jeder Realität
Anmerkungen
„Die Strategie ist eine einfache Kunst, die Ausführung ist alles.“
(Napoleon)1
1. Kriegsspiele eines verkannten Militärstrategen
Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine erleben wir eine Riesenüberraschung. Wer hätte denn vor dem Ukrainekrieg gedacht, dass es hierzulande so viele Militärexperten und Militärstrategen gibt? Zuletzt hat sich ein neuer „Militärstratege“ hinzugesellt: Dr. Norbert Röttgen – ehem. Bundesumweltminister (2009-2012) und gegenwärtig Mitglied der CDU/CSU-Bundestagsfraktion.
Auf der Suche nach einem neuen Betätigungsfeld hat er neuerdings die Militärberatung entdeckt. Eine ehrenvolle Aufgabe, falls man davon Ahnung hat. Um seine militärstrategischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, ist Röttgen schriftstellerisch tätig geworden und hat kurzerhand in einer US-amerikanischen Zeitschrift Foreign Affairs zwei Tage vor dem Heiligen Abend am 22. Dezember 2023 einen Artikel unter dem Titel „Europe Must Ramp Up Its Support for Ukraine“ (Europa muss seine Unterstützung für die Ukraune verstärken) veröffentlicht.
Und im Untertitel steht axiomatisch geschrieben: „Abandoning Kyiv Would Embolden Russia—and Lead Only to More War“ (Kiew im Stich zu lassen, würde Russland ermutigen und noch zu mehr Krieg führen). Dieses Axiom als Popanz vor sich hertragend, entwickelt Röttgen in seinem Artikel die „militärstrategischen“ Überlegungen, wie die Ukraine den Krieg doch noch siegreich beenden könnte.
Wie soll nach Röttgen der siegreiche Krieg für die Ukraine aussehen? Ganz einfach! Der Westen solle den Krieg weiter uneingeschränkt und bedingungslos finanzieren und alle nötige Militärausrüstung liefern. Und dann? Ja, dann wird die Ukraine „natürlich“ den Krieg siegreich beenden. Offenbar von der Jahreszeit im Vorfeld des Heiligen Abend inspiriert, wollte Röttgen ein Weihnachtsmärchen – sein „Weihnachtsmärchen“ – erzählen.
Getreu dem Spruch: „Wer glaubt, wird selig“ erzählte er über die künftigen ukrainischen Siege, an die man einfach fest, ganz fest glauben muss – vorausgesetzt, dass der Westen die Ukraine finanziell und militärisch weiterhin tatkräftig unterstützt. Wenn diese Bedingungen erfüllt werden, dann, ja dann geht Röttgens Siegesmärchen ganz sicher in Erfüllung.
Dass die Lage an der ukrainischen Front ganz anderes aussieht, als Röttgen uns mit seiner Märchenerzählung suggeriert, spielt für ihn gar keine Rolle. Er verhält sich lieber wie jenes kleine Kind, das seine Hände vor die Augen hält und fragt: „Mutti, Mutti, ich sehe dich nicht. Siehst du mich auch nicht?“
Und dieses Märchen hört sich wie folgt an: „Jeder Rückzieher des Westens wird Putin nur ermutigen, seinen Angriff auf die Ukraine zu verdoppeln. Solange er glaubt, dass ein militärischer Erfolg möglich ist, wird Putin sich weigern, zu verhandeln und weiterkämpfen“ (Any Western backtracking will only encourage Putin to double down on his assault on Ukraine. As long as he believes that military success is possible, Putin will refuse to negotiate—and he will keep fighting).
Bei diesem Märchen gibt es nur einen Haken. Putin schert sich nicht darum, was der Westen denkt, tut oder unterlässt. Diese westlich zentrierte bzw. eurozentrische Selbstbezogenheit verstellt den Blick auf die geopolitische Realität und verkennt die einfache Tatsache, dass der Westen nicht mehr das Maß aller Dinge ist. Ohne Rücksicht darauf, was er denkt, sagt und tut, handelt der Rest der Welt mittlerweile so, wie er es für richtig hält.
Wer wie Röttgen glaubt, dass Putin nur darauf warte, wann der Westen einen „Rückzieher“ mache, um „seinen Angriff auf die Ukraine zu verdoppeln“, leidet entweder unter einer üblichen westlichen Krankheit namens Selbstüberschätzung oder versucht die öffentliche Meinung als Kriegspartei im Sinne einer Fortsetzung des Krieges zu manipulieren.
Beides scheint hier eine Rolle zu spielen und in diesem Geiste wird auch der ganze Artikel verfasst. Zunächst wird eine Behauptung als Axiom aufgestellt, sodann davon ausgegangen, um anschließend dem eigenen Wunschdenken folgend und antirussische Ressentiments schürend die entsprechenden Schlüsse gezogen.
Und so schlussfolgert Röttgen antifaktisch: Solange Putin glaube, dass ein militärischer Erfolg möglich sei, werde er sich weigern, zu verhandeln und weiterkämpfen. Es ist auch kein Zufall, dass Röttgen auf einmal von Verhandlungen spricht. Unter dem Eindruck der gescheiterten ukrainischen Konteroffensive spricht sich die Kriegspartei bereits seit einigen Wochen für Verhandlungen aus.
Dieser Strategieumschwung ist insofern bemerkenswert, als der Westen seit beinahe zwei Jahren unentwegt über eine „strategische Niederlage“ Russlands phantasiert, weil die russische Wirtschaft angeblich „marode“ sei, den westlichen Sanktionen nicht standhalten könne, die russischen Streitkräfte „demoralisiert“ seien und die russische „Soldateska“ überhaupt die ganze Zeit „betrunken“ herumlaufe und jede Zeit darauf aus sei, die Ukrainerinnen zu „vergewaltigen“, die Bevölkerung „auszuplündern“, zu „terrorisieren“ und zu „marodieren“.
Und jetzt will man auf einmal mit dem „Kriegsverbrecher“ Putin und seiner „marodierenden Banda“ verhandeln? Offenbar glaubt auch Röttgen nicht so richtig an sein Siegesmärchen, sonst würde er nicht Putins Verhandlungsunwilligkeit beklagen.
Wer hat aber Röttgen überhaupt erzählt, dass Putin weder verhandeln will noch verhandeln wollte? Ist es nicht genau umgekehrt, dass es vielmehr der Westen bzw. die Angelsachsen waren, welche die wenige Wochen nach dem Kriegsausbruch im März/April 2022 geführten Friedensverhandlungen torpedierten?
Weiß Röttgen nichts davon? Weiß er nicht, dass der britische Ex-Premier Boris Johnson bei seinem Besuch im Kiew am 9. April 2022 seinem „Kumpel“ Volodymir Selenskyj geraten hat, „weiter zu kämpfen“?
Weiß er es nicht oder glaubt er es nicht? Nun, dann sollte er sich besser informieren lassen und den engsten Freund und Berater von Volodymir Selenskyj, den Fraktionsvorsitzenden der regierenden Partei „Sluha narodu“ („Diener des Volkes“) David H. Arakhamia fragen.
Arakhamia hat in einem Interview mit dem Fernsehsender 1+1 am 24. November 2023 die längst bekannten Berichte bestätigt, dass Moskau sich bei den im März/April 2022 stattgefundenen Friedensverhandlungen vertraglich verpflichtete, den am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Krieg in der Ukraine bereits einen Monat später zu beenden, falls Kiew sich bereit erklären sollte, der Nato nicht beizutreten.
Wörtlich sagte Arakhamia: „Unsere Neutralität war für sie das Allerwichtigste. Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir, wie einst Finnland, die Neutralität akzeptieren und uns verpflichten, der Nato nicht beizutreten“. Für die russische Delegation war das – betonte er – „die Schlüsselfrage“.
Des Weiteren bestätigte der Fraktionsvorsitzende der regierenden Partei des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass der britische Ex-Premier Boris Johnson Selenskyj bei seinem Besuch in Kiew am 9. April 2022 davon überzeugte, das Friedensabkommen mit Russland aufzugeben und die Militäraktionen fortzusetzen. Johnson habe laut Arakhamia der Ukraine geraten, nichts zu unterzeichnen und „einfach zu kämpfen“.
Neuerlich bestätigte ein hochrangiger Diplomat und Mitglied der ukrainischen Delegation bei den Verhandlungen mit Russland in Istanbul, Alexandr Čalyj (geb. 1954), bei einer Debatte im Genfer Zentrum für Sicherheitspolitik am 5. Dezember 2023 indirekt Arakhamias Äußerung.
„Putin wollte unbedingt eine friedliche Lösung mit der Ukraine erreichen. Das ist sehr wichtig, sich daran zu erinnern“, betonte Čalyj.
Will Röttgen davon nichts gewusst haben? Oder weiß er das wirklich nicht? Wer wollte denn keinen Frieden: Putin oder Johnson, Russland oder Großbritannien? Der Krieg wäre längst zu Ende, wenn Röttgens britische und US-amerikanische Freunde auf Frieden und nicht auf die Fortsetzung des Krieges gesetzt hätten, was hunderttausenden Menschen das Leben gerettet hätte!
Wusste Röttgen auch davon nichts? Oder hätte er an Stelle von Boris Johnson ebenfalls für die Fortsetzung des Krieges plädiert? Jedenfalls gehört er heute der Kriegspartei an, die Putin zeigen will, wo es lang geht. Weiß er überhaupt, worauf er sich da einlässt?
Will er als Deutscher dem Russen Putin als Staatsoberhaupt einer nuklearen Supermacht eine Lehre erteilen? Hat er vom „Kalten Krieg“ nichts gelernt, von der deutschen Geschichte ganz zu schweigen? Oder glaubt er, dass die USA im Ernstfall Europa verteidigen würden?
Vielleicht machen sich Röttgen und die EU-Europäer nur etwas vor? Der US-Schutzpatron wird womöglich hundert Mal überlegen, bevor er sich dazu erschließt, Europa zu verteidigen. Warum sollte er auch? Um es auf die eigene Vernichtung ankommen zu lassen? Offenbar ist sich Röttgen dessen gar nicht bewusst.
Und was soll man von seinen „militärstrategischen“ Überlegungen halten, die Ukraine „mit allen Waffen“ auszustatten, „die notwendig sind, um die Oberhand zu gewinnen und die russischen Streitkräfte zurückzudrängen“?
„Vor allem Europa sollte mehr tun“, fordert Röttgen kompromisslos. „Dazu gehört die Lieferung der größtmöglichen Mengen an Material aus den bestehenden Beständen der EU an einschlägigen Waffensystemen, die Steigerung der militärischen Produktion und der Ausbau der Produktionskapazitäten der einzelnen Länder. Konkret kann und sollte Europa Kiew deutlich mehr Mittel- und Langstrecken-Marschflugkörper zur Verfügung stellen. Dies würde es der Ukraine ermöglichen, die russische Infrastruktur in den besetzten Gebieten ins Visier zu nehmen und gleichzeitig ihre Soldaten vor den Gefahren der Frontlinien zu schützen. Europa muss auch die Lieferung von F-16-Kampfjets an die Ukraine beschleunigen und ausweiten, was es dem Land ermöglichen würde, die Luftüberlegenheit zu erlangen. In Verbindung mit der Entsendung zusätzlicher Luftabwehrsysteme wie Patriot- und IRIS-T-Raketen würde eine solche Hilfe es der Ukraine ermöglichen, die russischen Streitkräfte effektiv unter Druck zu setzen und auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu gewinnen.“
Wieso ist Röttgen aber so bescheiden? Warum will er „nur“ die Mittel- und Langstrecken-Marschflugkörper, F-16-Kampfjets und Luftabwehrsysteme wie Patriot- und IRIS-T-Raketen liefern? Warum will er nicht gleich die deutschen Soldaten an die „Ostfront“ schicken?
Und warum glaubt er, dass all die empfohlenen „Wunderwaffen“ es „der Ukraine ermöglichen“ würden, „die russischen Streitkräfte effektiv unter Druck zu setzen und auf dem Schlachtfeld die Oberhand zu gewinnen“? Weiß er überhaupt, was heute an der ukrainischen Front geschieht?
Die sog. ukrainische „Konteroffensive“ ist längst gescheitert. Die ukrainischen Streitkräfte erlitten gigantische Verluste an Menschen und Militärausrüstung und befinden sich auf dem Rückzug, sind demoralisiert und längst desillusioniert.
Die bereits erfolgte westliche Hilfe hat per Saldo nichts gebracht und Röttgen will uns glauben machen, dass noch mehr Hilfe nötig sei.
Der Westen hat in dem knapp zwei Jahren andauernden Krieg schon weit mehr als 200 Milliarden Dollar in den Ukrainekrieg „investiert“ und tonnenweise Militärausrüstung geliefert.
Das Ergebnis ist sehr bescheiden. Das Geld wurde pulverisiert und die gelieferte Militärausrüstung von Russen weitgehend zerstört. Wieviel darf es noch sein: 200 Milliarden, 400 Milliarden, 1 Billion Dollar? Wieviel denn? Die „Militärstrategie“ Röttgens ist auf dem Holzweg.
Dessen ungeachtet phantasiert er über eine russische Niederlage: „Erst dann, wenn Russland auf dem Rückzug ist, werden Verhandlungen möglich sein. Nur dann wird die westliche Politik in der Lage sein, die wirklichen Kriterien für einen Sieg zu formulieren und sicherzustellen, dass sich Putins Angriffskrieg für Russland nicht auszahlt und Europa nicht weiter Kriegsschauplatz bleibt. Sollte der Westen jedoch vor Müdigkeit und internen Kämpfen kapitulieren, wird er Putin nur in die Hände spielen. Ein russischer Triumph würde die Bühne für einen weiteren Krieg auf dem gesamten Kontinent bereiten und die Unruhen immer näher an das Nato-Territorium heranrücken.“
Nun ja, es gab schon viele Propheten, die ihre Voraussagen mit ihrem Wunschdenken verwechselt haben. Dass Russlands Sieg zu weiteren Kriegen in Europa führen würde, ist eine Angstmacherei, die nicht einmal originell ist. Dass Röttgen (und nicht nur er) sich zu derartigen Äußerungen hinreißen lässt, bezeugt nur seine Geschichtsvergessenheit.
Bereits die Angst-Parole des „Kalten Krieges“: „Die Russen kommen!“ wurde schon zu seiner Zeit als das entlarvt, was sie war: Propaganda. Nein, mit solchen Militärstrategen ist heute kein Blumentopf zu gewinnen, von einer siegreichen Beendigung des Krieges für die Ukraine ganz zu schweigen.
2. Jenseits jeder Realität
Es ist doch beeindruckend zu lesen, mit welcher Selbstsicherheit Röttgen die aktuelle militärische Lage an der ukrainischen Front beurteilt. Offenbar von der ukrainischen Kriegspropaganda in die Irre geführt, ohne dessen bewusst zu sein und ohne eine blasse Ahnung zu haben, dass die Russen längst in die Offensive übergegangen sind, schreibt unser „Militärstratege“: Die russischen Streitkräfte haben sich hinter kilometerlangen Minenfeldern und Schützengräben verschanzt, was es für ukrainische Soldaten unglaublich schwierig und kostspielig mache, Territorium zurück zu erobern. Es sei eine Pattsituation eingetreten. Kiew habe keine großen Gewinne auf dem Schlachtfeld erzielt, weil seine Partner in den USA und Europa nicht die notwendigen Waffen geliefert haben, um die Luftkontrolle zu erlangen und russische Stellungen und Infrastruktur in den besetzten Gebieten und auf der Krim effektiv zu bekämpfen.
Nichts an diesem Bericht entspricht der Realität an der Front. Die russischen Streitkräfte haben sich ebenso wenig hinter kilometerlangen Minenfeldern und Schützengräben verschanzt, wie die Ukraine irgendwelche Territorialgewinne erzielt hat.
Auch kann von einer Pattsituation an der Front keine Rede sein.2 Die ukrainischen Streitkräfte müssen vielmehr aufpassen, dass ihre Verteidigungslinien nicht durchbrochen werden und sie fluchtartig diese westwärts verlassen müssen.
Und die Behauptung, dass Kiew keine großen Gewinne auf dem Schlachtfeld erzielen konnte, weil „seine Partner“ angeblich zu wenig Waffen geliefert haben, gehört zu jener Mythenbildung, die man getrost auf die westliche Selbstüberschätzung zurückführen kann, die keine anderen gleichwertigen und gleichrangigen Großmächte neben sich gelten lässt.
Eine solche selbstüberschätzende Selbstwahrnehmung führt dazu, dass es bei solchen Militärstrategen wie dem unseren eben an strategischem Denken mangelt und dass sie selbst einen elementarsten strategischen Grundsatz des „Kalten Krieges“ nicht mehr kennen.
Dieser gehorchte „einem einfachen Gesetz“: „nicht dort angreifen, wo der andere – der einzige Rivale,
der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht.“3
Als wäre all das nicht genug, schreibt Röttgen: Der Krieg habe Russland einen hohen Preis abverlangt und Putin müsse etwas vorweisen. Die Annahme, dass er die Gelegenheit ergreifen könnte, um das Blutvergießen zu stoppen, sei Wunschdenken und habe nichts mit Putin zu tun, der die ukrainischen Zivilisten bombardiere, dem syrischen Diktator Baschar al-Assad geholfen habe, einen schrecklichen Krieg gegen sein eigenes Volk zu beginnen. Anfang der 2000er-Jahre übte er eine brutale Besetzung Tschetscheniens aus.
Es überrasche darum nicht – empört sich Röttgen weiter -, dass sein Preis für die Aufnahme von Verhandlungen mit Kiew im Wesentlichen eine totale ukrainische Kapitulation sei. Und im Gegenzug verspreche er nichts.
Warum sollte er auch? Wenn die ukrainische Seite wie bei den Friedensverhandlungen im März/April 2022 nach dem Motto: „versprochen, gebrochen“ handelte, dann haben die Russen kein Vertrauen mehr und wollen jetzt die Friedensbedingungen diktieren.
Mehr noch: Bei seiner Aufzählung der vermeintlichen oder tatsächlichen Brutalität Putins, die er sogar auf das Jahr 2000 zurückgeführt hat, hat Röttgen „nur“ vergessen die westliche „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren (1999-2021) zu erwähnen.
Die Folgen dieser „Enttabuisierung“ waren und sind katastrophal. Sie hat Millionen Menschenleben gekostet.
Nach Angaben des Costs of War Projects, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des Anti-Terror-Kriegs . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen. Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen sicher nachgewiesen sind, davon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt“.4
Andere Quellen geben noch viel schlimmere Zahlen an: Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“ geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“. In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“.5
Weiß Röttgen nichts davon? Oder will er davon nichts (mehr) wissen? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen.
Am Ende seiner Ausführungen schreibt er unter der Überschrift „Das lange Spiel spielen“ (Playing the long Game):
„Da sich die russischen Streitkräfte tief in die Schützengräben gegraben haben und sich nun hinter kilometerlangen Minen verstecken, findet ein Großteil der Kriegsanstrengungen der Ukraine nicht mehr entlang der Frontlinien statt. Die Ukraine konzentriert sich nun darauf, russische Versorgungslinien und Infrastruktur in den von Russland besetzten Gebieten und auf der Krim ins Visier zu nehmen, was für das russische Volk von symbolischer Bedeutung ist, insbesondere seit Putin die Halbinsel 2014 annektiert hat. Indem sie Putins Druckpunkte ins Visier nimmt und Russland im Schwarzen Meer oder auf der Krim schmerzhafte Niederlagen zufügen will, hofft die Ukraine, die öffentliche Stimmung in Russland gegen den Krieg und seinen Rädelsführer aufzurütteln. Ein solcher Wandel in der öffentlichen Meinung ist eine Voraussetzung für Verhandlungen; Um gesprächs- und kompromissbereit zu sein, muss Putin zunächst innenpolitisch stark unter Druck geraten. Die zweite Voraussetzung ist eine militärische: Putin muss auch sicher sein, dass er mit Gewalt nichts mehr erreichen kann. Die Ukraine muss daher auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewinnen.“
Analysiert man die zitierte Passage, so fällt dreierlei auf:
- Röttgen übernimmt kritiklos die ukrainische Kriegspropaganda, die stets von einer erfolgreichen Bekämpfung der „russischen Versorgungslinien und Infrastruktur“ spricht oder Russland im Schwarzen Meer und auf der Krim angeblich schmerzhafte Niederlagen zuzufügen vorgibt.
- Als wäre das nicht genug, versucht Röttgen seine eigenen Hoffnungen, Erwartungen und Wünsche der Ukraine in den Mund zu legen, indem er dieser unterstellt, dass sie angeblich „die öffentliche Stimmung in Russland gegen den Krieg und seinen Rädelsführer“ beeinflussen bzw. Putin innenpolitisch stark unter Druck setzen wolle. Im Gegensatz zu Röttgen kennt die ukrainische Regierung „die Stimmung in Russland“ ganz genau, um auf die völlig abwegige Idee zu kommen, diese verändern zu wollen. Es ist nicht die Ukraine, sondern Röttgen selbst, der davon träumt.
- Nun wünscht sich Röttgen, dass Putin sicher sein müsse, dass er mit Gewalt nichts mehr erreichen könne und dass die Ukraine auf dem Schlachtfeld die Oberhand gewinne. Wünschen darf natürlich jeder, nur hat das weder etwas mit der Realität an der Front noch mit der Realität in der Ukraine selbst, die zerstört am Boden liegt, zu tun, wohl aber mit der Traumwelt unseres „Militärstrategen“.
Und so phantasiert Röttgen weiter, indem er über „Putins Angst“ spekuliert, „ein weiteres blühendes westliches Land an der Grenze zu Russland zu haben, die ihn überhaupt erst zum Angriff trieb.“
Offenbar glaubt er tatsächlich daran, was er da schreibt und womit er zeigt, dass er nicht einmal elementare zeitgeschichtliche Kenntnisse über die russisch-amerikanischen bzw. russisch-europäischen Beziehungen der vergangenen dreißig Jahre seit dem Ende des Ost-West-Konflikts besitzt. Und solche Volksvertreter entscheiden hierzulande über Krieg und Frieden!?
Kein Wunder ist von daher, dass Röttgen seine Hoffnung auf einen Nato-Beitritt der Ukraine immer noch nicht begraben hat und darüber hinaus darauf spekuliert, dass Putin im nächsten Schritt angeblich „die anderen Staaten wie Moldawien und die baltischen Staaten“ angreifen werde.
Nein, es sei Ihnen versichert: „Die Russen kommen nicht“.6
Bemerkenswert an der zitierten Passage ist nicht einmal ihre Realitätsferne. Bemerkenswert ist vielmehr die Tatsache, dass die katastrophale Lage in der Ukraine Röttgen gar nicht interessiert. Die soziale und ökonomische Verelendung der Bevölkerung, die durch den Krieg verursachten Zerstörungen, hunderttausende Kriegsopfer usw. usf. machen die Ukraine auf Dauer weder verteidigungsfähig noch überlebens- oder existenzfähig. Das scheint Röttgen gar nicht zu interessieren.
Wie besessen versucht er verbissen nachzuweisen, dass die Ukraine bedingungslos und ohne Rücksicht auf Verluste finanziell und militärisch unterstützt werden müsse, um weiter zu kämpfen. Er merkt dabei gar nicht, dass er mit seinen Vorschlägen mehr der Ukraine als Russland schadet, wenn nicht gar ruiniert.
Solange Röttgen und die Kriegspartei die Ukrainepolitik allein als Anti-Russlandpolitik begreifen, führt diese antirussische Obsession nicht so sehr zur Schwächung Russlands als vielmehr zur Vernichtung der Lebensgrundlagen der Ukraine selbst. Das zu verstehen, bedeutet sich für eine ganz andere Ukraine- und Russlandpolitik zu entscheiden.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Aron, R., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 349.
2. Zur „Pattsituation“ siehe Jack Watling, The War in Ukraine Is Not a Stalemate. Foreign Affairs, January 3,
2024.
3. Aron (wie Anm. 1), 350.
4. Zitiert nach „Bilanz des Anti-Terror-Kriegs“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
5. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen,
Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt
Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. Wien 22019, 131-152 (132, 141 f.).
6. Kahn, H. W., Die Russen kommen nicht. München 1969.