Verlag OntoPrax Berlin

Postunipolarität

Der geopolitische Strukturwandel

Übersicht

1. Die Machtnatur der postunipolaren Welt
2. Im Wandel vereint und entzweit

Anmerkungen

„Eine einfache Rückkehr zu einem multipolaren Gleichgewichtssystem im alten Sinne
gibt es in der Tat nicht, aber es ist wohl möglich anzunehmen, dass … wir … eine
Phase einer mehr polyzentrischen Staatenstruktur durchlaufen.“1

1. Die Machtnatur der postunipolaren Welt

Die transatlantischen Eliten fühlen sich um ihren „verdienten Sieg“ im „Kalten Krieg“ gebracht. Sie können immer noch nicht fassen, dass Russland sich mit dem Ukrainekrieg anmaßte, sich erneut gegen den Westen in Stellung zu bringen und geo- und sicherheitspolitische Forderungen zu stellen. Ist das Gefühl, betrogen zu werden, überhaupt berechtigt?

Der „Kalte Krieg“ wurde nicht auf dem Schlachtfeld „gewonnen“, sondern infolge der Selbstauflösung des Systemrivalen. Darum bestreiten manche Sowjetnostalgiker bis heute, dass der „Kalte Krieg“ überhaupt verloren wurde. Die Sowjeteliten hätten vielmehr ihrer Meinung nach das Land verraten und verkauft.

Wie auch immer man dazu stehen mag, die transatlantischen Eliten fühlen sich um die Früchte ihres vermeintlichen oder tatsächlichen Sieges infolge des vom „bösen“ Putin von Zaum gebrochenen Krieges gebracht und werden dadurch verunsichert und desorientiert.

Es ist offenbar nicht ein und dasselbe, einen Krieg auf dem Schlachtfeld zu verlieren oder ihn infolge der Selbstauflösung des Rivalen zu „gewinnen“. Nun bekommen die „Sieger“ ihre Selbstzweifel an ihrem sicher geglaubten Sieg nicht mehr in den Griff, da es auf dem ukrainischen Schlachtfeld für sie nicht gut aussieht.

Sie haben sich verschätzt und der Übermut tut bekanntlich nimmer gut! Die Transatlantiker haben aus der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts wohl nichts gelernt. Sie haben die Selbstauflösung der Sowjetunion mit dem Sieg auf dem Schlachtfeld verwechselt. Und jetzt ist der Katzenjammer groß, sehr groß. Jetzt versuchen sie die Zukunft vorauszusagen und machen sich Gedanken darüber, was auf sie im Jahr 2024 zukommt.

So versuchte Politico kurz vor dem Jahreswechsel am 26. Dezember 2023 eine „Idee“ zu eruieren, die im Jahr 2024 relevant sein könnte, indem sie ihre Prognosen unter der Überschrift „Welche Idee oder Schlagwort wird das Jahr 2024 prägen?“ (What is the idea (or word) that will define 2024?) veröffentlichte.

Vier Politico-Kolumnisten haben ihre Prognosekunst zur Schau gestellt: Ivo Daalder, Mujtaba Rahman, Elisabeth Braw und Nahalie Tocci.

Ivo Daalder (ehem. US-Botschafter bei der Nato) äußerte seine Besorgnis über einen möglichen Neoisolationismus Amerikas. „Das nächste Jahr wird in den USA von einer tiefgreifenden Debatte über die künftige globale Rolle Amerikas (America’s future global role) geprägt sein, deren Ausgang vom Rest der Welt mit großer Besorgnis beobachtet wird“, prophezeit Daalder.

Das Problem bestehe darin, dass die US-Machteliten zum ersten Mal seit den 1930er-Jahren in der Frage nach der globalen Führungsrolle Amerikas gespalten seien. Verteidigen die US-Demokraten unter Führung von Joe Biden traditionell und vehement die globale Führungsrolle als die Eckpfeiler der US-Außenpolitik, die „die Sicherheit, den Wohlstand und die Freiheit der USA“ garantiere, so wende sich eine wachsende Mehrheit der US-Republikaner gegen diese traditionelle Rolle.

Der prominenteste Vertreter dieser Ausrichtung der US-Außenpolitik sei laut Daalder der ehem. US-Präsident Donald Trump. „Während seiner Amtszeit hatte er den >America First<-Ansatz propagiert, ein Begriff, der auf die isolationistischen Gefühle der 1930er Jahre zurückgeht“, entrüstet sich Daalder und lässt keinen Zweifel darüber, wem seine Sympathien gelten.

In den Denkmustern der glorreichen Vergangenheit gefangen und immer noch von der globalen Führungsrolle Amerikas nach dem Ende der bipolaren Weltordnung überzeugt, kommt er zu einem überraschenden Schluss, dass die „Welt zunehmend von der globalen Führungsrolle der USA abhängig ist (The world has grown dependent on global U.S. leadership). Während Amerikas Feinde eine Wende nach innen begrüßen würden, fürchten seine Freunde die Folgen für ihre Sicherheit, ihren Wohlstand und ihre Freiheit. Die Zukunft der Welt hängt daher von dieser Debatte ab. Und nur die US-Wähler werden in der Lage sein, über deren Ausgang zu entscheiden.“

Diese eskapistische Schlussfolgerung ist typisch für die regierenden US-Demokraten, die nicht wahrhaben wollen, dass die Welt sich dramatisch verändert hat und sich zunehmend von Amerika abwendet. Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass die Abhängigkeit der Welt „von der globalen Führungsrolle der USA“ nicht „zunimmt“, sondern abnimmt.

Der Erosionsprozess der US-Hegemonie schreitet bereits seit Jahren voran und die regierenden US-Demokraten und ihre Sympathisanten glauben immer noch an die Zunahme und nicht Abnahme der globalen Führungsrolle der USA.

Die Folgen dieses geopolitischen Eskapismus sind in der US-Außenpolitik zu beobachten. Das US-Engagement in der Ukraine hat den USA keinen geopolitischen und geoökonomischen Surplus gebracht. Ganz im Gegenteil: Die USA versinken immer tiefer in den ukrainischen Kriegsschlamassel mit ungewissem Ausgang. Die Jubelstimmung der vergangenen Monate schlug längst in eine Tristesse um.

Noch Mitte Mai 2023 war sich derselbe Ivo Daalder ganz sicher, dass es nicht die Frage sei, ob die Ukraine Teil der euroatlantischen Institutionen werden sollte, sondern wann und wie (The question is not whether Ukraine should become a part of the Euro-Atlantic institutions, but when and how).

Euphorisch schrieb Daalder in seinem am 15. Mai 2023 in Politico veröffentlichten Artikel „The conflict cannot end until Ukraine is part of the West“: Die geopolitische Lage sei klar: Die Ukraine habe nicht nur für ihre eigene Sicherheit, sondern auch für die ihrer Nachbarn gekämpft. Nach allem, was sie getan habe, nachdem ihre Bürger gelitten haben, verdienen sie es, Teil des Westens zu sein. Es sei nur die Frage der Zeit, dass die Ukraine Nato-Mitglied werde.

Diese Euphorie ist längst vorbei und selbst Volodymir Selenskyj bezweifelt mittlerweile, dass die Ukraine jemals Nato-Mitglied wird.

Dass die Euphorie längst verflogen ist, zeigen die Äußerungen auch einer anderen Zukunftsseherin, Nathalie Tocci ((Direktorin des Istituto Affari Internazionali). Bereits die Überschrift ihres Artikels im Handelsblatt spricht für sich: „Im besten Fall wird Europa 2024 halbwegs über Wasser bleiben“. In dem kurz vor dem Jahresende am 28. Dezember 2023 erschienenen pessimistischen Ausblick schreibt sie: „In den vergangenen sechs Monaten ist das geopolitische Europa aus den Fugen geraten.“

Wohin man nur blicke, sehe es schlecht aus. „Außenpolitisch ist die Lage noch schlimmer. Was die Ukraine betrifft, so hat sich Russland zu einer Kriegswirtschaft umgebaut, die sich in einem ständigen Konflikt mit dem Westen befindet.“ Wer daran schuld ist, sagt sie freilich nicht. „Die Hoffnung war“, fügt sie lediglich hinzu, „dass das Verhindern eines russischen Sieges den Weg zu Verhandlungen ebnen würde.“

Von einer „strategischen Niederlage“ Russlands und vom „Ruinieren“ der russischen Ökonomie ist keine Rede mehr. Sie entrüstet sich vielmehr darüber, dass „außerhalb des europäischen Kontinents … die Lage für die EU noch desaströser“ sei. Was die Gründe für diese in der Tat erstaunliche Entwicklung sind, verrät sie im Handelsblatt-Artikel nicht, wohl aber in einem bereits erwähnten Politico-Artikel.

Darin diagnostiziert sie eine im Entstehen begriffene postunipolare Welt, in der eine Mischmasch-Ordnung bestehe. Wörtlich schreibt sie: „Wir diskutieren nicht mehr darüber, ob eine postunipolare Welt, die auf der US-Hegemonie beruht, den Multilateralismus stärken wird oder nicht. Vielmehr wissen wir, dass es in der Welt gleichzeitig eine Bipolarität zwischen den USA und China gibt; Multipolarität zwischen Europa, Indien und Russland; und eine lautstarke Gruppe mittelgroßer Mächte, die sich verschiedenen Blöcken anschließen. Das ist eine Welt, in der der Multilateralismus einfach auseinanderbricht.“

Die zitierte Passage ist derart verworren formuliert, dass man gar nicht verstehen kann, was eigentlich in der Welt vor sich geht. Die verwirrende Zustandsbeschreibung der im Umbruch befindenden unipolaren Weltordnung erklärt nichts und verunklart nur noch einen immer deutlich werdenden Abwärtstrend der (noch) bestehenden Unipolarität, die immer mehr Risse bekommt und jederzeit auseinanderbrechen kann.

Postunipolarität, Bipolarität und Multipolarität sind zudem Ordnungsbegriffe, die zunächst einmal einer genaueren Definition bedürfen. Bipolarität und Multipolarität können darüber hinaus unmöglich gleichzeitig mit- und/oder nebeneinander bestehen. Sie heben sich per definitionem gegenseitig auf.

Tocci versucht den stattfindenden Wandel der unipolaren Weltordnung mit einer herkömmlichen Begrifflichkeit zu begreifen, mit welcher der Wandel nicht ohne weiteres begriffen bzw. definiert werden kann. Sie kommt mit einem solchen begrifflichen Schematismus nicht weiter, weil sie letztlich damit die Machtnatur des globalen geopolitischen und geoökonomischen Strukturwandels nicht ausreichend durchdringen kann.

Zwar stellt sie fest, dass wir in der postunipolaren Welt angekommen seien. Was diese Postunipolarität macht-, ordnungs- und sicherheitspolitisch genauer bedeutet, kann sie unmöglich mit den sich im Umlauf befindenden Schlagworten wie Bipolarität und Multipolarität definieren.

Dieser Weg führt in eine Sackgasse. Die Entwicklung zur Postunipolarität bedarf vielmehr einer ganz anderen begrifflichen Deutung und Umdeutung, um diesen dramatischen geopolitischen Strukturwandel, der vor unseren Augen stattfindet, adäquat beurteilen zu können.

2. Im Wandel vereint und entzweit

Man kann diesen dramatischen Wandel von Unipolarität zur Postunipolarität versuchen, aus dem zeitgeschichtlichen und sicherheitspolitischen Kontext zu eruieren.

Die sicherheitspolitische Konstellation in Europa ist heute das Ergebnis des Endes der bipolaren Weltordnung. Das Ende des ideologischen Systemwettbewerbs führte allerdings weder zum Ende des „Kalten Krieges“ noch zum Ende der Blocklogik des „Kalten Krieges“.

Ganz im Gegenteil: Der siegreiche militärische Block des Westens – die Nato-Allianz – hat sich nicht nur nicht aufgelöst, sondern die ehemaligen Gegner des Warschauer Pakts aufgesaugt und sich um sie erweitert. Es entstand eine sicherheitspolitische Macht-Dysbalance zwischen einem erneuerten und sich um zahlreiche neue Mitglieder bereicherten Nato-Block und Russland – dem Hauptgegner und Verlierer des Systemwettbewerbs, dem alle ehem. Bündnispartner abhandengekommen sind.

Mit anderen Worten, das Ende der bipolaren Weltordnung brachte nicht das Ende des „Kalten Krieges“, sondern dessen Fortsetzung unter anderen Vorzeichen – unter den Vorzeichen des auf Expansion angelegten Nato-Blocks, der dreißig Jahre (1991-2021) lang andauerte, weil ihm keine Gegenmacht im Wege stand.

Die entstandene Sicherheitsarchitektur in Europa hat sich seit dem Ende der Bipolarität in jeder Hinsicht zu Nachteil Russlands entwickelt. Die auf die zwei feindselig gegenüberstehenden Blöcke zurückgehende Sicherheitspolitik des „Kalten Krieges“ bedeutete nicht nur die Sicherung des territorialen Status quo, sondern auch die Festschreibung eines ideologischen und machtpolitischen Status quo.

Die ostwärts gerichtete Expansion der EU und der Nato hat jedoch diesen territorialen und ideologischen bzw. machtpolitischen Status quo nach dem Untergang des Warschauer Pakts aufgebrochen. Erst mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat diese Expansion ihr jähes Ende gefunden.

Europa ist seit dem 24. Februar 2022 der Schauplatz eines heißen Krieges geworden, weil es ihm nicht gelungen ist, den „Kalten Krieg“ 1991 zu beenden. Der Zerfall der bipolaren Weltordnung führte zur Perpetuierung und nicht zur Beseitigung des „Kalten Krieges“.

Die nach dem Ende der bipolaren Weltordnung entstandene geo- und sicherheitspolitische Leere konnte nur von der übriggebliebenen Supermacht ausgefüllt werden. Dieser Prozess dauerte im Grund bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine fort. Hätten die USA als Herrin des Verfahrens anders handeln können? Wenn keine Gegenmacht vorhanden ist bzw. kein Gegendruck ausgeübt wird, ist immer die Versuchung groß und unwiderstehlich die entstandene Leere geopolitisch auszufüllen und in Tiefe des Raumes vorzudringen. Geopolitik duldet eben kein Vakuum.

Der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 bildet einen Wendepunkt. Dreißig Jahre nach dem Ende der Bipolarität und der Entstehung der unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen geht die EU- und die Nato-Expansion gen Osten genauso, wie der „Kalte Krieg“, zu Ende.

Der Nato-Block und Russland sind ungleiche Rivalen. Solange der Frieden andauerte, wurde die geo- und sicherheitspolitische Rivalität in Europa oberflächlich kaschiert, aber nicht beendet. Das zeigte sich allein schon daran, dass der Nato-Block unter Führung des US-Hegemonen eine offensive Disposition getroffen hat, die ohne Rücksicht auf die russischen Sicherheitsinteressen einen expansiven Charakter angenommen hat.

Die USA sind in diesem Sinne eine Anti-Status-quo-Macht, deren extensiv definierte Sicherheitspolitik Russlands Sicherheitsbedürfnis ausblendet bzw. zu ignorieren sucht. Eine solche sicherheitspolitische Grundeinstellung grenzt an Machtanmaßung, die auf der bis dato geglaubten militärischen und ökonomischen Stärke der USA und des Nato-Blocks im Verhältnis zu Russland beruht.

In einer solchen sicherheitspolitischen Konstellation waren und sind alle Versuche, friedlich ein machtpolitisches Arrangement zu finden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die USA suchen unterdessen ihre Ordnungsmacht in Europa mit aller ihnen zur Verfügung stehenden Gewalt zu bewahren bzw. aufrechtzuerhalten und kommen nicht umhin festzustellen, dass dieses Unterfangen mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine praktisch ein Ding der Unmöglichkeit geworden ist.

Für beide Seiten steht dabei viel auf dem Spiel. Das Scheitern in der Ukraine würde der Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung drastisch beschleunigen und der postunipolaren Welt zum Durchbruch verhelfen, wohingegen Russlands Scheitern in sich die Gefahr eines Zerfalls des Landes birgt.

Das bedeutet aber, dass die Machtnatur der Postunipolarität militärisch und nicht friedlich bzw. diplomatisch entschieden wird. Die Beseitigung der Macht-Dysbalance in Europa ist dennoch momentan ausgeschlossen, selbst wenn Russland im Ukrainekrieg die Oberhand gewinnt und die USA verlieren. Es wird weiterhin ein aufs Äußerste angespannter bewaffneter Friede zwischen den beiden ungleichen Rivalen bleiben.

Gleichwohl wird der Ausgang des Ukrainekonflikts eine weltweite geopolitische Bedeutung haben. Die strategische Abhängigkeit der EU-Europäer von den USA und deren strategische Feindschaft zu Russland werden weiterhin die strukturbildenden Elemente der Sicherheitspolitik in Europa bleiben und sie im Wesentlichen bestimmen.

Damit ist auch der strategische Rahmen, innerhalb dessen die Sicherheitspolitik als Machtpolitik praktiziert wird, vorgegeben. Ein Versuch, militärische Sicherheit mit politischer zu verbinden, kann unter den vorgegebenen strategischen Voraussetzungen nur auf Grundlage der Wiederherstellung eines Machtgleichgewichts in welcher Form auch immer zu Lasten der US-Hegemonie gelingen. Das erscheint heute unmöglich zu sein.

Jede andere sicherheitspolitische Machtkonstellation würde den Krieg in Europa bestenfalls einhegen und die strategische Feindschaft der beiden Kontrahenten ohne Aussicht auf irgendeine Befriedung der entstandenen Situation weiter vertiefen.

Und hier stellt sich die Frage nach den strukturbildenden, sicherheitspolitisch ableitbaren Ordnungskriterien der postunipolaren Welt. Mit den Schlagworten Bipolarität und Multipolarität kommt man dabei, wie gesagt, nicht weiter, da sie sicherheitspolitisch indifferente Beschreibungen sind.

Geographie, militärisches und ökonomisches Machtpotential und Machtlegitimation sind eher schon die Kriterien, welche die Postunipolarität prägen und bestimmen werden. Geographie bestimmt die Territorialität (als Grenzziehung), Machtpotential bestimmt die Intensität (der Feindschaft) und Machtlegitimation bestimmt die Stabilität eines Sicherheitssystems.

Geographie, Machtpotential und Machtlegitimation sind im Gegensatz zur raumüberwindenden bzw. raumlosen Unipolarität die raumbezogenen Kategorien, an denen sich die sicherheits- und ordnungspolitischen Kriterien der postunipolaren Welt orientieren und die einem antihegemonialen globalen Machtgleichgewichtssystem zugrunde liegen könnten.

Dieser antihegemonialen Machtgleichgewichtspolitik in Europa stehen allerdings die Blocklogik und strategische Inkongruenz der Machtinteressen im Wege, die in Feindschaft entzweit dem unlösbaren Problem der asymmetrischen Kräfteverhältnisse unterliegen.

Zwischen einem strategischen Partner und einem strategischen Gegner eingequetscht, befinden sich die EU-Europäer geographisch und machtpolitisch in einer prekären Lage, da es ihnen einerseits an räumlicher Tiefe und Weite und andererseits am militärischen Machtpotenzial mangelt.

Im geographischen Machtschatten des strategischen Gegners liegend und vom militärischen Machtpotenzial des strategischen Partners völlig abhängig, wird Europa in die strategische Zange genommen und dadurch zum Spielball der beiden geopolitischen Rivalen wie zurzeit der bipolaren Weltordnung.

Diese an sich unzeitgemäße, weil die Bipolarität längst hinter sich gelassene sicherheitspolitische Konstellation erschwert ungemein jede Konfliktlösung, da Europa in seiner ungleichwertigen, strategisch determinierten Freund/Feind-Beziehung machtpolitisch weder handlungs- noch entscheidungsfähig ist.

Die geographische Asymmetrie und das asymmetrische Machtpotenzial geht eindeutig zu Lasten Europas – erst recht, wenn es Russland gelingen würde, die Ukraine für sich zu gewinnen und die Nato-Länder aus der Ukraine zurückzudrängen.

Die Machtlegitimation der unipolaren Weltordnung beruht auf der universal postulierten westlichen Ideologie von Demokratie und Menschenrechten, die sich infolge der zahlreich geführten Interventionen und Invasionen im Nichtwesten diskreditiert und darum ihre Anziehungskraft verloren hat, wohingegen die postunipolare Welt in den Kategorien der Staatsräson denkt bzw. – modern gesprochen – sich von „nationalen Interessen“ leiten lässt. Sie wird freilich immer ein prekärer Zustand bleiben und gegen Instabilität nicht gefeit sein.

Das Denken in den Kategorien der Staatsräson war das antihegemoniale Machtstaatsdenken des 19. Jahrhunderts, dem die europäische Machtgleichgewichtspolitik zugrunde lag. Der Kriegsausbruch in der Ukraine war letztlich nur ein weiteres Zeichen dessen, dass die unipolare Weltordnung ihren Höhepunkt überschritten hat und dass die machtpolitischen Voraussetzungen der Nato-Expansionspolitik nicht mehr gegeben sind.

Russland trat als eine Gegenmacht auf, die sich nunmehr stark genug fühlte, um eine weitere Nato- Expansion zu stoppen. Gewiss lässt dieser russische Abwehrkampf den Ausgang des Konflikts noch offen. Dass ein solcher Versuch überhaupt in Angriff genommen wurde, zeigt gerade mit aller Deutlichkeit den stattfindenden Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung und deren Wandel zum postunipolaren Zeitalter, begleitet von der Rückkehr der Machtstaatspolitik auf die weltpolitische Bühne.

Der Unterschied zwischen der zu Ende gehenden Periode der Unipolarität und der aufkommenden Postunipolarität besteht ja darin, dass die eine ein raumloses Ziel eines dem „Weltstaat“ (Hannah Arendt)2 ähnlichen Machtgebildes mit einem einzigen und alles beherrschenden Machtzentrums verfolgt, ausgerüstet mit einer Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten.

Die andere läuft hingegen auf die Geltendmachung der mit- und nebeneinander bestehenden zahlreichen Machtzentren von den räumlich zusammenhängenden Macht- bzw. Staatsgebilden hinaus, vereint und entzweit zugleich auf der Grundlage der einzelstaatlichen Machtinteressen.

„Der Friede als gesicherter Dauerzustand ist bisher niemals in der Geschichte eine Realität gewesen, aber niemals ist die Geschichte andererseits ohne den Friedensgedanken als Ordnungsprinzip geblieben“, merkte Theodor Schieder einst an.3

Die unipolare Weltordnung hat als Friedens- und Sicherheitsordnung versagt. Zu viele Kriege, zu viele Krisen und zu viele Spannungen jeder Art hat sie seit ihrem Entstehen vor dreißig Jahren erlebt.

Ob die postunipolare Welt friedlicher, sicherer und den Wohlstand aller Klein-, Mittel- und Großmächte fördernder als die unipolare sein wird, ist eine Frage, die sich nicht ohne weiteres entweder bejahen oder verneinen lässt. So, wie es ist, kann es freilich auch nicht weiter gehen.

Anmerkungen

1. Schieder, Th., Friedenssicherung und Staatenpluralismus, in: des., Einsichten in die Geschichte. Essays. 1979,
156-174 (63).
2. Arendt, H., Macht und Gewalt. München/Zürich 1985, 131; näheres dazu Silnizki, M., Die Zäsur. Auf dem
Weg zu einer neuen Sicherheitspolitik in Europa? Zur Diskussion. 2. Januar 2024, www.ontopraxiologie.de.
3. Schieder (wie Anm. 1), 158.

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