Der Ukrainekonflikt und das nukleare Schreckgespenst
Übersicht
- Zwischen Sein und Schein
- Der Kampf um die Ukraine: gestern und heute
- Zwischen Anmaßung und Eskapismus
Anmerkungen
„Wenn wir den tödlichen Tanz überleben, den wir heute tanzen, dann werden wir womöglich den Wert der Entspannung wiederentdecken.
Ich fürchte nur, dass das Leben uns für dieses Verhalten hart bestrafen wird.“ (Charles „Chas“ W. Freeman jr.)1
- Zwischen Sein und Schein
Aus seiner Reise in die Ukraine zurückgekehrt, zitiert Ivo Daalder (der ehem. US-Botschafter bei der Nato und Präsident des Chicago Council on Global Affairs) in seinem Beitrag „The conflict cannot end until Ukraine is part of the West“ für „Politico“ vom 15. Mai 2023 eine Äußerung eines ungenannten Geheimagenten, der einer Gruppe der aus den USA und der EU nach Kiew angereisten „hochrangigen Beamten“ angehörte: „Die Ukraine wird überleben“ (Ukraine will survive).
Und er fügte gleich hinzu: Die Probleme werden erst nach dem Krieg kommen. Was Daalder uns mit diesem Zitat sagen will, ergibt sich aus den weiteren Ausführungen. Mit seinem Beitrag entwirft er eine künftige westliche Ukrainestrategie, die darauf hinausläuft, dass die Zukunft der Ukraine im Westen liege.
Daalder macht sich dabei Gedanken darüber, wie die Ukraine im transatlantischen Bündnis integriert werden kann und formuliert gleich zu Beginn seiner Ausführungen drei Thesen:
- Der Ukrainekrieg sei „im Kern kein Kampf um Territorium, sondern um die Zukunft des Landes“.
- Russland sei entschlossen, „das politische Schicksal der Ukraine zu kontrollieren“ (control Ukraine’s political destiny).
- Putin setze im Grunde „eine historisch gewachsene russische Tradition“ (a historic Russian tradition) fort, die stets darauf hinaus war, die Sicherheit des Imperiums zu gewährleisten.
Welche Schlüsse zieht Daalder nun aus seinen durchaus zutreffenden Feststellungen? Analysiert man seine Argumente, so zeigen sie doch, wie sehr er den Denkmustern der verfehlten US-Russlandpolitik verhaftet ist, die zu eben diesem Krieg geführt haben. „Um den Konflikt wirklich zu beenden“ – beteuert Daalder -, „muss Russland verstehen – oder ihm klar gemacht werden –, dass über die Zukunft der Ukraine in Kiew und nicht in Moskau entschieden wird. Und Kiew hat deutlich gemacht, dass es seine Zukunft im Westen als integraler Bestandteil der euroatlantischen Institutionen sieht“.
Allein diese Äußerung zeigt, wie sich die transatlantischen Hardliner angewöhnt haben, statt einer Analyse der Ursachen und Gründe des Konflikts den geopolitischen Rivalen darüber zu belehren, was dieser tun oder unterlassen sollte, ohne sich selber darüber im Klaren zu sein, wie verfehlt doch die eigene Russlandpolitik war, die den Ukrainekrieg nicht zu verhindern vermochte. Die US-Russlandpolitik des >weiter so< zu predigen und sich stets die „Richtigkeit“ dieser verfehlten, weil den Krieg nicht verhindern könnenden Politik zu befürworten, bezeugt entweder eine außenpolitische
Inkompetenz des Betrachters oder dessen ideologische Borniertheit, die aus Ignoranz und Machtarroganz den Wald vor lauter Bäume nicht sieht.
Längst hat die Ukraine ihr „politisches Schicksal“ in die Hände Washingtons gelegt. Und es geht nicht darum, ob Kiew oder Moskau, sondern vielmehr darum, ob Washington oder Moskau über „die Zukunft der Ukraine“ entscheiden.
Und sollte die Biden-Administration mit Daalder darauf beharren, dass Kiew „einen garantierten Platz im Westen“ (guaranteed place in the West) haben müsse, dann garantiert diese „Garantie“ der Ukraine nicht so sehr einen „Platz im Westen“ als vielmehr einen Krieg in Permanenz auf ukrainischem Boden. Schlimmer noch: Sollten die USA dabei kompromisslos bleiben, ist eine unkontrollierte Eskalation des Konflikts garantiert.
Dass die Biden-Administration heute noch die Ukraine in die Nato-Allianz integrieren will, ist längst nicht ausgemacht. Wie „Foreign Policy“ unlängst berichtete, ist ein heftiger Streit über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine innerhalb des Bündnisses entbrannt. „Die Debatte hat zu Spannungen hinter den Kulissen innerhalb des Bündnisses geführt.“
Und weiter lesen wir: „Beim Treffen der Nato-Außenminister im vergangenen Monat stellte sich die Biden-Administration auf die Seite Deutschlands und Ungarns und widersetzte sich den Vorschlägen Polens und der baltischen Staaten, auf dem Vilnius-Gipfel einen konkreten Fahrplan und einen möglichen Zeitplan für den Nato-Beitritt der Ukraine vorzulegen.“2
Dessen ungeachtet bleibt Daalder nach wie vor der US-Geostrategie vor dem 24. Februar 2022 verhaftet, als würde kein Krieg in der Ukraine stattfinden, und befürwortet weiterhin die US-Expansionspolitik gen Osten: „Putins strategische Niederlage“ (Putin’s strategic failure) werde erst dann vollständig sein, wenn Moskau endlich begreife, dass die Ukraine dauerhaft verloren sei.
Diese „strategische Niederlage“ müsse „das ultimative Ziel“ des Westens sein, weil „die Zukunft der Ukraine im Westen liege (Ukraine’s future is in the West), dessen ist Daalder ganz sicher.
Aus Sicht der russischen Führung bedeutet aber dieses „ultimative Ziel“ nichts anderes als die ultimative Fortsetzung des Krieges. Der Kriegsausbruch in der Ukraine hat – wie man sieht – in den einflussreichen Kreisen des US-Establishments weder zum Umdenken noch zur Neubewertung der US-Russland- und Ukrainepolitik geführt.
Ganz im Gegenteil: Die US-Russlandpolitik hat sich weiter verhärtet. Und so fordert Daalder unbeirrt: Nach allem, was passiert sei, habe die Ukraine es sogar verdient, ein Teil des Westens und das heißt: ein Teil der EU und der Nato zu sein. Dass das Bestreben der Kiewer Regierung, ein Nato-Mitglied zu werden, eine der Hauptursachen für den Kriegsausbruch war, spielt für Daalder gar keine Rolle, geht er doch selbstsicher und selbstgewiss davon aus, dass die Ukraine in diesem Krieg obsiegt.
Mit einer solchen Selbstgewissheit steht Daalder keineswegs allein da. So überschreibt Timothy Snyder (Prof. f. Geschichte an der Yale University) stellvertretend für die Mainstream-Meinung in den USA seinen Artikel mit den Worten „Putin kämpft und verliert seinen letzten Krieg“ (Putin Is Fighting, and Losing, His Last War) für „The New York Times“ (9. Mai 2023).
Daalder bleibt also in „guter“ Gesellschaft. Geradezu besessen trommeln er und die transatlantischen Falken unablässig für den baldigen Sieg der Ukraine. So wie der Westen den „Sieg“ über das Sowjetsystem errungen habe, so würde auch die Ukraine Russland bezwingen, glauben sie. Oder wie Snyder es in seinem Artikel formuliert: Wie die Sowjetunion den Afghanistankrieg Ende der 1980er-Jahre verloren habe, so werde auch der „Rüpel“ und „Kleptokrat“ Putin den Ukrainekrieg verlieren.
Der Siegesrausch der vergangenen „glorreichen“ Zeiten scheint bis heute nicht verflogen zu sein und hat sich auf den Ukrainekrieg übertragen. Und so fordert auch Daalder in Erwartung des vermeintlichen Sieges über Russland die Ukraine in den Westen zu integrieren.
Dabei bringt er ein ungewöhnliches „strategisches Argument“ ins Spiel. Neben einer „strategischen Niederlage“ Moskaus, die ein Beweis dafür sein werde, „dass sich die Aggression nicht auszahlt“, gäbe es seiner Meinung nach ganz „praktische Gründe für die Westintegration der Ukraine.“
Selbst mit all der militärischen Unterstützung aus dem Westen würde die Nachkriegsukraine eine Nation am Rande Europas bleiben und einem Nachbarn gegenüberstehen, der drei- bis viermal so groß sei. Würde die ukrainische Gesellschaft also auf sich allein gestellt, würde sie stärker militarisiert, weniger offen und paranoider sein und sich auf einen neuen Krieg vorbereiten (müssen).
Daraus schlussfolgert Daalder, dass eine von allen losgelöste und allein auf sich gestellte Ukraine zu einem Schurkenstaat (genauer: „a rogue actor“) werden könnte, wodurch ein Sicherheitsproblem inmitten Europas entstehen würde. Eine ähnliche Auffassung vertrat unlängst Henry Kissinger in seinem
achtstündigen Interview für The Economist am 18. Mai 2023, indem er u. a. seine Zustimmung zum Nato-Beitritt der Ukraine mit einer vergleichbaren Begründung rechtfertigte.
Die Sicherheit der Ukraine liege folglich – resümiert Daalder am Schluss seiner Ausführungen – im Westen, und der Konflikt könne nicht enden, solange die Ukraine nicht ein Teil davon sein werde. Die Frage sei nicht, ob die Ukraine Teil des Westens, sondern wie und wann sie dessen Teil werden solle.
Es ist erstaunlich, mit welcher Selbstsicherheit die Transatlantiker vom Sieg der Ukraine ausgehen und ihn wie einen Popanz vor sich hertragen. Diese Siegesgewissheit zeigt aber auch: - wie wenig sie zum einen verstehen, was sich tatsächlich in der Ukraine sowohl auf dem Schlachtfeld als auch innenpolitisch abläuft.
- Infolge der geopolitischen Fixierung und russlandfeindlichen Einstellung verkennen sie zum anderen die ganze Komplexität des Ukrainekonflikts. Der Vorwurf: Russland habe „unprovoziert“ die Ukraine übergefallen, verstellt zudem den Blick darauf, dass der Ukrainekrieg auch ein Bürgerkrieg ist und dass er Folge der offenbar immer noch nicht abgeschlossenen Teilung des untergegangenen Sowjetimperiums ist.
Der Ukrainekrieg ist sogar in erster Linie ein Bürgerkrieg zwischen zwei ostslawischen Brüdervölkern. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein Brüdermord aus ideologischen und axiologischen Gründen statt, wobei sich Russlands ideologischer Kampf primär gegen den ukrainischen Ethnonationalismus und erst in zweiter Linie gegen die sog. „westlichen Werte“ richtet, wohingegen die Ukraine einen Kulturkampf gegen alles Russische führt, der mittlerweile in einen regelrechten Glaubenskrieg ausartete. - Kein Transatlantiker stellt schließlich die Frage: Welche Ukraine ist hier überhaupt gemeint, die in „die westliche Wertegemeinschaft“ integriert werden sollte? Die Ukraine war ebenso wenig ein Nationalstaat wie die ukrainische Sowjetrepublik eine ethnisch homogene Gesellschaft. Sie war und ist immer nur ein „Vielvölkerstaat“. Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die Ukraine nicht allein den sog. „ethnischen Ukrainern“ gehört und dass die Russen genauso, wie die Ukrainer, das Recht auf dieses Land haben und sich dieses Recht nicht nehmen lassen werden.
Erst seit der sog. „Maidan-Revolution“ (2014) versucht das Kiewer Regime noch lange vor dem Kriegsausbruch zusammen mit den ukrainischen Ultranationalisten eine ethnisch reine Ukraine aufzubauen. Vor und erst recht mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine erfolgt dieser Aufbau mit ziemlich rabiaten Methoden, welche in eklatanter Weise die elementaren Menschenrechte von Meinungs- und Religionsfreiheit bis zum Minderheitenschutz mit Füßen tritt.
Die transatlantischen Falken verklären ungeachtet einer solchen Entwicklung die ukrainische Staatlichkeit als „demokratisch“, „rechtsstaatlich“ und „freiheitlich“, blenden aber gleichzeitig konsequent die eklatanten Menschenrechtsverletzungen aus. Die geopolitische Opportunität und ein nie enden wollender Machtkampf gegen den „ewigen“ geopolitischen Rivalen sind offenbar die gewichtigeren Gründe, um die sog. „wertebasierte Außenpolitik“ im Falle der Ukraine außer Kraft zu setzen. Und eine solche Ukraine soll allein aus geopolitischen Opportunitätserwägungen nach dem Krieg in die transatlantische „Wertegemeinschaft“ aufgenommen werden?!
2. Der Kampf um die Ukraine: gestern und heute
Die transatlantische Geopolitik steht – wie man sieht – über allen und geht im Falle der Ukraine im Zweifel zu Lasten des selbstformulierten westlichen Anspruchs auf die sog. „wertebasierte Außenpolitik“. Was tut man nicht nur, um „die russische Gefahr“3 mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu bekämpfen. Die Russenfeindschaft ist freilich kein neues Phänomen der europäischen Geistesgeschichte. Und was den Kampf Europas, insbesondere des deutschen Kulturraumes, um die Loslösung der Ukraine von Russland angeht, so ist er mehr als hundert Jahre alt.
Die Ukraine war immer schon ein Zankapfel zwischen Russland und Europa, weil in ihr (vor allem in Ostgalizien) schon immer ethnisch gefärbte Narrative, nationale Identitäten und Bewegungen
unterschiedlicher Art vorherrschten, die sich oft feindselig gegenüberstanden. „Bis zum Ersten Weltkrieg konkurrierten eine ukrainophile, eine russophile, eine polonophile und eine auf das Habsburgerreich begrenzte ruthenische Richtung um dieselbe Bevölkerung.“4
Vor allen die Baltendeutschen haben die ukrainophile Ausrichtung der Außenpolitik des Deutschen Kaiserreiches massiv propagiert. Unter dem Titel „Die russische Gefahr“ gab der Baltendeutsche und evangelische Theologe Paul Rohrbach (1869-1956) inmitten des Ersten Weltkrieges 1916/7 Beiträge heraus, in denen er zusammen mit seinen Gleichgesinnten (Richard Pohle, Axel Schmidt, Johannes Haller) dezidiert nicht nur eine antirussische und ukrainophile Politik predigte, sondern auch eine Zerstückelung des Russischen Reiches in einzelne selbständige Territorien befürwortete. Antirussentum und Ukrainophilie gingen schon immer Hand in Hand.
In diesem Kontext muss man auch Hallers Beitrag „Die russische Gefahr im deutschen Hause“ verstehen. In seiner Auseinandersetzung mit dem 1913 erschienenen Werk „Russland – Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904-1913“ vom Osteuropahistoriker Otto Hoetzsch empört sich Haller darüber, dass Hoetzsch die Ukrainer „Kleinrussen“ (zu jener Zeit eine gängige Bezeichnung) nennt und meint anschließend: Dies sei ja „keine philologische Kleinigkeit“, sondern ein Politikum. „Bekanntlich behaupten die Russen, die Ukrainer seien nur eine Spielart des russischen Volkes und ihre Sprache nur eine russische Mundart; während die Führer der Ukrainer von jeher den Anspruch erhoben, ihr Volk als eigene Nation, ihre Sprache als selbständige Kultur- und Nationalsprache anerkannt zu sehen. Die Antworten der philologischen Fachleute auf diese Streitfrage lauten verschieden“ (S. 13 f.).
„Es kommt aber hier gar nicht auf den Entscheid philologischer Autoritäten, überhaupt nicht auf die Philologie an … Politische Fragen werden nicht nach der Grammatik entschieden, sondern durch den Willen und die Tat“ (S. 14).
Gerade zu prophetisch merkte Haller an: „Die Erfahrung hat gezeigt, dass die Gefahr unmittelbarer Losreißung der Ukraine weniger groß ist als anderswo. Aber trotzdem ist im Hinblick auf die Zukunft die ukrainische Frage schon jetzt das große Zentralproblem der russischen Geschichte und wird es künftig erst recht sein“ (S. 15). Der Kampf um die Ukraine fing nicht – wie man sieht – erst mit der sog. „Ukraine-Krise“ im Jahr 2014 an.
In den Jahren 2014 – 2021 hat sich freilich der Machtkampf um die Ukraine zugespitzt, bis er sich 2022 in einem blutigen Krieg entlud. Heute ernten wir, was wir in den vergangenen Jahrzehnten seit dem Ende des „Kalten Krieges“ gesät haben.
Seit der sog. „Maidan-Revolution“ hat die Ukraine innen- und außenpolitisch eine Entwicklung durchgemacht, die dem Land weder Wohlstand noch Rechtsstaat noch Frieden brachte. Ganz im Gegenteil: In der Ukraine hat sich innenpolitisch nach 2014 nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat als vielmehr dessen Fassade etabliert. Diese Fassade verschleiert ein illiberales Machtgebilde, das die liberale Verfassungsrhetorik nach außen zwar zur Schau stellt, nach innen aber weder in der Lage noch gewillt ist, ihr Folge zu leisten.
Diese bloße Imitation geht zum einen mit Verlust der eigenen kulturellen Identität einher, ohne dass sich die liberalen Verfassungsgrundsätze etablieren können, und wirkt sich zum anderen destruktiv auf die traditionellen Lebensstrukturen aus, nachdem sie die eigene historisch gewachsene Tradition für disponibel erklärt hat.
Auch die ukrainischen Träume davon, dass die „Maidan-Revolution“ zum westlichen Wohlstand und Lebensstandard führen würde, lösten sich in Luft auf: Zum einen ist die vom Westen erhoffte Dividende als Gegenleistung für den „heldenhaften“ Kampf gegen „die russische Aggression“ in der Ostukraine ausgeblieben. Zum anderen ist auch der ukrainische Wunsch nicht in Erfüllung gegangen, in die EU aufgenommen und wie die anderen EU-Osteuropäer alimentiert zu werden. Zum dritten blieb die Wirtschaftsverfassung unverändert bestehen, auch wenn die ukrainische Machtelite sich einer liberalen Wirtschaftsrhetorik befleißigte.
Dieses innenpolitische Gewirr wurde darüber hinaus außenpolitisch von feindselig gewordenen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine begleitet, die zudem eine komplexe und komplizierte Dreierbeziehung zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen verschlimmbesserte. Weil die ukrainische Machtelite eine prowestliche und antirussische Außenpolitik betrieben haben, glaubten sie ein westliches Land geworden zu sein, obschon sie sich tagtäglich von der westlichen Rechts- und Verfassungskultur immer weiter entfernten.
Von seinem Rechts- und Verfassungsverständnis hergesehen, ähnelt das heutige ukrainische Machtkonstrukt eher dem Sowjetstaat in Miniaturformat als einem westlichen Rechts- und
Verfassungsstaat, dessen ideologisches Gerüst nicht mehr die Sowjetideologie, wohl aber ein brachialer ukrainischer Ultranationalismus ist.
Im Glauben, die Ukraine geopolitisch an den Westen endgültig verloren zu haben, verkannte die russische Macht- und Funktionselite ihrerseits, wie sehr die Ukraine der russischen Rechts- und Herrschaftstradition verhaftet ist, und merkte ebenfalls nicht, wie sehr sich Russland selber trotz seiner vermeintlich endgültigen außenpolitischen Abwendung vom Westen dem westlichen Rechts- und Verfassungsverständnis mittlerweile viel stärker als die Ukraine angenähert hat.
Da die Transatlantiker ihrerseits aus eigenem geopolitisch motiviertem Opportunismus die antiliberalen Tendenzen der ukrainischen Staatlichkeit konsequent ausblendeten bzw. tolerierten, gleichzeitig aber diese Tendenzen in der russischen Innenpolitik umso mehr beklagten, entstand bei der antirussisch gesinnten ukrainischen Machtelite das Gefühl der Narrenfreiheit, wodurch sie noch unberechenbarer und unverfrorener wurden und erst recht die Entwicklung der Ukraine zu einem liberalen Rechts- und Verfassungsstaat ausbremsten, wohingegen Russland die Vorwürfe über mangelhafte Menschenrechte seitens des Westens als geopolitisch motiviert konsequent zurückwies und zugleich auf Distanz zur Ukraine ging.
Die transatlantische Gemeinschaft steht heute in Anbetracht des tobenden Ukrainekrieges vor dem Scherbenhaufen sowohl ihrer Ukraine- als auch ihrer Russlandpolitik. Die geopolitisch motivierte Ignorierung der Illiberalität in der ukrainischen Verfassungswirklichkeit verschärfte nur noch die antiliberalen Tendenzen des ukrainischen Staatswesens und die harsche oberlehrerhafte westliche Kritik an die Adresse Russlands führte nur zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen Russland und dem Wes-ten, ohne dabei irgendetwas erreichen zu können.
Die beiden vermeintlichen Brüdervölker bleiben bis auf Weiteres verfeindet. Der geopolitische Profiteur dieser Entwicklung ist und bleibt zumindest kurzfristig zwar der Westen, dem es gelungen ist, einen Hass zwischen die beiden ostslawischen Völker zu treiben. Ob der Westen auf lange Sicht der Profiteur bleiben wird, bleibt indes mehr als zweifelhaft.
3. Zwischen Anmaßung und Eskapismus
Der Ukrainekrieg hatte also einen langen Vorlauf und schon Carl v. Clausewitz wusste ganz genau, dass kein Krieg ein „ganz isolierter Akt (ist), der urplötzlich entstünde und nicht mit dem früheren Staatsleben zusammenhänge.“ Er besteht nicht „aus einer einzigen oder aus einer Reihe gleichzeitigen Entscheidungen.“5 Der Kriegsausbruch bedeutet immer das Versagen der Politik und der Diplomatie und so auch jetzt. Der Ukrainekrieg war ein Versagen der Politik mit Ansage und alles andere als „unprovoziert“. „Die Politik verschwindet“ – schrieb der französische Kriegstheoretiker Raymond Aron 1962 –, „wenn sie sich die Zerstörung der feindlichen Streitmacht als einziges Ziel setzt.“6
Auch im Kriegsjahr 2022 verschwand die Politik nicht erst am 24. Februar 2022. Die Minsker Vereinbarungen wurden seit Jahren sabotiert – von den US-Amerikanern im Verborgenen boykottiert und den Deutschen und Französen bewusst verschleppt.
Die Ukraine führte selber die ganze Zeit nur Scheinverhandlungen und dachte im Traum nicht daran, die Minsker Vereinbarungen nur annährend zu erfüllen. Die ganze Zeit über befand sie sich im naiven Glauben, ihr könne vor dem Hintergrund der starken Verbündeten aus Übersee und der EU nichts passieren.
Manche russischen Politikwissenschaftler haben freilich die Ukraine lange vor dem Kriegsausbruch davor gewarnt, dass sie mit dem Feuer spielt. Und die russische Führung? Putin ließ die Verhandlungen über die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen kaltblütig und nur scheinbar teilnahmslos totlaufen. Der ganze Verhandlungsprozess befand sich infolgedessen in einer Sackgasse: Der Westen war samt der Ukraine zu keinem Kompromiss, Russland zu keinem Zugeständnis bereit.
Das Ergebnis ist der Krieg in Europa! Wer keine friedliche Lösung anstrebt, erntet den Krieg. Inzwischen setzt sich das Spiel mit dem Feuer im Ukrainekonflikt unvermindert fort. Schlimmer noch: Er wird von den Transatlantikern gezielt weiter angefeuert. Unablässig trommeln die EU- und US-Falken für die Aufnahme der Ukraine in die Nato und heizen damit die Stimmung auf: „Keine Angst vor Putin und seiner atomaren Drohung“, lautet das Motto.
Einer von ihnen, Timothy Snyder, behauptet sogar in seinem oben zitierten Artikel: „Das heutige Russland sendet eine nicht enden wollende Flut nuklearer Drohungen aus“ (Today’s Russia issues an unending stream of nuclear threats) und wirft Putin im gleichen Atemzug „eine russische Atompropaganda“ (Russian nuclear propaganda) vor.
Zu keiner Zeit hat die russische Führung mit Atomwaffen gedroht. Vielmehr warnt sie stets vor Gefahren einer unkontrollierten Eskalation, deren Folgen verheerend sein können. Indem der Westen Warnung durch Drohung substituiert, schürt er mit einer solchen gezielt gestreuten Desinformation in unverantwortlicher Weise nicht nur antirussische Ressentiments und Atomhysterie, sondern instrumentalisiert und verharmlost zugleich auch die objektiv vorhandene atomare Bedrohung.
Die gefährliche Verharmlosung dieser Bedrohung zeigt sich daran, dass Snyder die vermeintliche „russische Atompropaganda“ ins Lächerliche zieht. Spöttisch merkt er an: „Im Westen wird diese (Bedrohung) heute anders als zurzeit des Kalten Krieges eher in psychologischer als in strategischer Hinsicht diskutiert. Wie fühlt sich Herr Putin? Wie fühlen wir uns?“
Diese vorgespielte Angstlosigkeit in Verbindung mit einer psychologisierenden Denunziation der erfunden russischen „nuklearen Erpressung“ (nuclear blackmail) verleitet Snyder zu geradezu abenteuerlichen Schlussfolgerungen: „Indem wir die nukleare Erpressung ernst nehmen, erhöhen wir sogar die Wahrscheinlichkeit eines Atomkriegs. Wenn die nukleare Erpressung einen russischen Sieg ermöglicht, werden die Folgen unkalkulierbar schrecklich sein. Wenn ein Land mit Atomwaffen tun und lassen kann, was es will, dann hat das Gesetz keine Bedeutung, es ist keine internationale Ordnung möglich und die Katastrophe droht auf Schritt und Tritt.“
Was für eine Paralogie! Die ganze Argumentation ist nichts weiter als perturbatio anime. Vergessen ist zudem auch die eigene US-Außenpolitik der vergangenen zwanzig Jahre, die selber ja nicht nur die brutalen völkerrechtswidrigen Interventionen und Invasionen durchführte, sondern auch stets Drohungen mit nuklearen Waffeneinsatz, zuletzt gegen Nordkorea, aussprach.
Vergessen ist auch längst die Äußerung von Bundeskanzler Scholz, der zwei Monate nach Kriegsausbruch in einem Spiegel-Interview vom 22. April 2022 sagte: „Wir müssen alles tun, um eine direkte militärische Konfrontation zwischen der Nato und einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland, einer Nuklearmacht, zu vermeiden.“
Heute erleben wir eine ganz andere Stimmung in den Mainstream-Medien. Keine Spur von Zurückhaltung und/oder Warnung vor einer unkontrollierten Eskalation! Ganz im Gegenteil: „Wenn die Russen über einen Atomkrieg sprechen, so ist die beste Reaktion darauf, ihnen eine konventionelle Niederlage herbeizuführen“, puscht Snyder am Schluss seiner Ausführungen die Stimmung noch weiter auf.
Was sagt uns all das? Sollen etwa die zur Schau gestellte Empörung, Diffamierung und Verunglimpfung „einer hochgerüsteten Supermacht wie Russland“ dazu beitragen, den Frieden wiederherzustellen, den Krieg in der Ukraine zu beenden oder gar einen nuklearen Konflikt zu verhindern? Wohl kaum! Seit wann dienen denn Denunziation und Beschimpfung des Staatsüberhaupts einer nuklearen Supermacht als ein wirksames Instrument zur Kriegsverhütung oder gar zur Vermeidung eines Atomkrieges?
Es ist vielmehr eine grenzenlose Anmaßung und Hybris, die sich die transatlantischen Machteliten zu derartigen Äußerungen hinreißen lassen. „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen,“ verkündete Clintons Außenministerin Madeleine Albright (1997 – 2001) einst unumwunden und mit Hingabe einer zur einzig wahren Gewaltreligion Bekehrten das Credo der US-Außenpolitik in Zeiten der unipolaren Weltordnung.
Hinzu kommt ein beunruhigendes Gefühl der Transatlantiker, dass sie trotz ihrer vermeintlichen „Allmacht“ letztlich nicht in der Lage sind, den nuklear aufgerüsteten geopolitischen Rivalen in die Schranken zu weisen. Dieser merkwürdige Cocktail, der Ohnmacht und Übermacht, Hilflosigkeit und Furchtlosigkeit, Machtarroganz und Machtlosigkeit vermischt, erzeugt einen Realitätsverlust, der die tatsächlich vorhandenen Gefahren schlicht ausblendet.
Und so hat man den Eindruck, als verstünden diese transatlantischen Falken unter Atomkrieg nicht mehr und nicht weniger als ein Computerspiel, das im Ernstfalle für sie folgenlos bleiben würde. Dieser verantwortungslose Eskapismus gleicht einem Totentanz auf der Titanic, den man angstfrei und furchtlos weiter tanzt, ohne wahrhaben zu wollen, dass das unipolare „Schiff“ des US-Hegemonen längst im Sinken begriffen ist.
Offenbar von der eigenen Urteilsfähigkeit und Unfehlbarkeit überzeugt, glauben die Transatlantiker nicht daran, dass ihre Einschätzung der künftigen Vorgehensweise des stets unterschätzenden geopolitischen Rivalen einen Schiffbruch erleiden könnte, die zur unkalkulierbaren Folgen führen kann.
Gibt es einen Ausweg aus dieser geo- und sicherheitspolitisch verfahrenen Lage? Oder wollen wir die Zeit zurückdrehen und die „schönen“ alten Zeiten des „Kalten Krieges“ nach dem Motto reanimieren: „Vorwärts in die Vergangenheit“? „Back to the future“, bezeichnet Sabine Siebold in ihrem Reuter-Bericht „NATO reaches back to Cold War past with first major defence plans“ vom 18. Mai 2023 diese „zukunftsträchtige“ Entwicklung.
„Die Nato wird auf ihrem Gipfel in Vilnius im Juli einen Schritt zurück in die Zukunft machen“ (NATO will step back to the future at its Vilnius summit in July), berichtet sie und fährt fort: „Die Staats- und Regierungschefs werden tausende Seiten geheimer Militärpläne genehmigen, in denen zum ersten Mal seit dem Kalten Krieg detailliert beschrieben wird, wie das Bündnis auf einen russischen Angriff reagieren würde.“
„Wir müssen uns darauf einstellen, dass es jederzeit zu Konflikten kommen kann,“ zitiert Siebold Admiral Rob Bauer (einer der höchsten Militärbeamten der Nato). Zu Beruhigung des Publikums fügt sie freilich hinzu: Seit dem Ende des „Kalten Krieges“ hat sich die Nato um „etwa 1.000 km (600 Meilen) nach Osten ausgedehnt und ist von etwa einem Dutzend auf 31 Mitglieder angewachsen“.
Und „das Bündnis bereitet sich nicht mehr auf einen groß angelegten Atomkrieg gegen Moskau und seine Verbündeten vor, von denen die meisten inzwischen Nato-Mitglieder sind“, zitiert sie Ian Hope (Historiker am Obersten Hauptquartier der Nato in Europa (SHAPE)).
Die Angst sei weg! Atomkrieg? Welcher Atomkrieg? Die Nato bereite sich doch „nicht mehr auf einen groß angelegten Atomkrieg gegen Moskau“ vor. Und Moskau? Moskau stelle doch gar keine Gefahr mehr für die mächtigste militärische Allianz aller Zeiten dar, wird uns tagtäglich suggeriert.
Statt Atomkrieg habe die Nato schließlich „mehrere Optionen“, glaubt Wolfgang Ischinger zu wissen. „Der Nato-Gipfel in Vilnius könnte eine Zäsur werden“ überschreibt er seinen Handelsblatt-Artikel vom 19./21. Mai 2023, S.13. Denn beim „Treffen der Allianz im Juni werden sich die Konturen einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur abzeichnen“, kündigt Ischinger an.
Um welche „neue europäische Sicherheitsarchitektur“ handelt es sich hier? Und was ist das „Neue“ an dieser „neuen Sicherheitsarchitektur“? Bereits die ersten Sätze seiner Ausführung zeigen, dass das „Neue“ ziemlich alt ist. Selbstredend bezeichnet er die Nato-Allianz immer noch als „Verteidigungsbündnis“, wohl wissend, dass sich dieses Bündnis spätestens seit dem Kosovo-Krieg 1999 in ein Angriffsbündnis verwandelte.
Mit Bedacht thematisiert er mehrere Optionen, die bei dem Nato-Gipfel in Vilnius beschlossen werden und „im Kommuniqué“ stehen sollten. Von der allerseits vertretenen These ausgehend, dass das „Verteidigungsbündnis … als ein zentrales Element künftiger Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ gelten soll, analysiert Ischinger drei denkbaren Optionen, von denen er zwei von vornherein ausschließt:
- „Eine positive Aufnahmeentscheidung beim Gipfel in Vilnius scheidet praktisch aus, weil damit die Nato quasi automatisch zur Kriegspartei würde“.
- Eine positive Aufnahmeentscheidung, gekoppelt an die Kriegsbeendigung könnte „Moskau veranlassen, einer förmlichen Kriegsbeendigung auf längere Sicht nicht zuzustimmen, um so den Nato-Beitritt der Ukraine weiter zu verhindern“.
- Dies vorausgeschickt, kommt Ischinger zu einer aus seiner Sicht wahrscheinlichsten Option: „Eine Wiederholung der seit 2008 üblichen >Bukarest-Formel<: Bekräftigung der Beitrittsperspektive“, angereichert „durch konkrete militärische Unterstützungszusagen“, „um ein noch klares politisches Signal für den künftigen Ukrainebeitritt zu senden“. Diesen drei „Optionen“ liegt ein gemeinsamer Nenner zugrunde: Die Nato-Beitrittsperspektive für die Ukraine. Als würde der Krieg in der Ukraine nicht deswegen toben, weil sich Russland vehement gegen die Nato-Mitgliedschaft aussprach, plädiert Ischinger nonchalant weiterhin für die ukrainische Nato-Mitgliedschaft. Dieses beinahe schon pathologische Festhalten an der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine blendet hochmutig und selbstüberschätzend die Kriegsrealität in Europa aus und ignoriert nicht nur die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation, sondern unterschlägt auch eine vierte denkbare Option auf seiner Rechnung: das Verschwinden der Ukraine als souveräner Staat, sollten die transatlantischen Falken weiterhin unbeirrt auf Nato`s „Open Door“-Policy beharren. Was ist also das „Neue“ an dieser alten Nato-Osterweiterungspolitik? Sieht „eine neue europäische Sicherheitsarchitektur“ wie die alte aus? Nicht ganz! Das geheimnisvolle „Neue“ heißt die „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine, wie etwa die „umfassende militärische Ausstattung der Ukraine als Abschreckungsmacht“, „vielleicht gekoppelt mit bilateralen Sicherheitsvereinbarungen mit den USA und anderen Partnern“ usw. Es herrscht Krieg in Europa, Russlands Kriegsziel ist u. a. eine „Entmilitarisierung der Ukraine“ und Ischinger träumt von der Ukraine als „Abschreckungsmacht“ und einer Sicherheitspartnerschaft mit den USA. Als wäre das nicht genug, macht er Russland ein vergiftetes Angebot: „Für den Fall eines Teilrückzugs Russlands aus sämtlichen besetzten ukrainischen Territorien könnte die Nato Russland anbieten, die Grundakte (von 1997) bei einem Nato-Beitritt der Ukraine zu bekräftigen: also weder Stationierung westlicher Nuklearwaffen noch wesentlicher Nato-Kampftruppenverbände auf ukrainischem Boden“. „Das wäre doch ein Angebot!“, ruft Ischinger selbstgefällig und selbstzufrieden aus. Was für ein Hochmut! Damit befindet sich Ischinger freilich voll und ganz im transatlantischen Trend. Man sollte sich nur die Überschriften mancher Zeitungsartikel vor Augen führen: • „To Aid Ukraine in Fight Against Russia, Allies Look to Security Model Like Israel’s“ (Um die Ukraine im Kampf gegen Russland zu unterstützen, greifen die Verbündeten auf ein Sicherheitsmodell wie das Israels zurück) überschreiben vier Autoren von The Wall Street Journal am 22. Mai 2023 ihren Artikel. „Eine Nato-Mitgliedschaft steht derzeit nicht zur Debatte, aber die Verbündeten der USA und Europas könnten Kiew Garantien für Waffen und fortschrittliche Technologie geben“, ist darin zu lesen. • Und Franz-Stefan Gady betitelt seinen Artikel in Foreign Policy ebenfalls am 22. Mai 2023 mit den Worten „Turn Ukraine Into a Bristling Porcupine. No matter how this war ends, Russia will need to be deterred from attacking again“ (Verwandeln Sie die Ukraine in ein strotzendes Stachelschwein. Unabhängig davon, wie dieser Krieg endet, muss Russland von einem erneuten Angriff abgehalten werden). Offenbar hat Ischinger stellvertretend für die transatlantischen Falken immer noch nicht verstanden, worum es Russland in diesem Krieg eigentlich geht und welche Ziele die russische Geo- und Außenpolitik verfolgt. Vor allem hat er immer noch nicht verstanden, mit welchem tiefen Misstrauen die russische Führung jedweder Vereinbarung mit dem Westen begegnet. Zu sehr und zu oft wurde sie nach eigener Bekundung vom Westen getäuscht und in die Irre geführt. Was Ischinger mit seinem „Angebot“ bewirken wird, ist freilich genau das Gegenteil: weder einen „Totalrückzug Russlands“ noch eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine noch Kriegsbeendigung, sondern allein einen Krieg in Permanenz. Was hat nun all das mit einer „neuen europäischen Sicherheitsarchitektur“ zu tun? Nichts! Denn Ischinger reduziert seine ganze Sicherheitsanalyse am Schluss des Artikels auf eine nichtssagende Formel: „Sicherheit vor oder gegen Russland“ sei „politisch-strategisch genauso wenig zielführend wie das bisherige Mantra >Sicherheit nur mit Russland<“, um dann erneut „die Wiederherstellung voller territorialer Integrität der Ukraine“ und den „vollständigen Abzug Russlands“ als „ein zentrales Ziel“ des Nato-Gipfels in Vilnius zu betonen. Indem er aber gleichzeitig gegen einen „dauerhaften waffenstarrenden Konflikt mit der Nuklearmacht Russland“ spricht, merkt er gar nicht, wie sehr er sich selbst widerspricht. Zu Ende gedacht, bedeutet diese sich selbst widersprechende verbale Akrobatik im besten Fall >weder Krieg noch Frieden<, im schlimmsten Fall ein Krieg in Permanenz. Ischingers ganzes Gerede von „einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur“ entpuppt sich letztlich als „much ado about nothing“. Was er unter einer „neuen europäischen Sicherheitsarchitektur“ verstanden wissen will, ist die alte, seit dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene Nato-Sicherheitsordnung, die spätestens mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine das Zeitliche gesegnet hat. Die transatlantischen Eliten haben den Begriff der „europäischen“ bzw. gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur usurpiert und setzen ihn realitätsfremd mit ihrer Nato-Sicherheitsordnung gleich. Eine Sicherheitsordnung in Europa kann weder europäisch noch gesamteuropäisch genannt werden, wenn sie ohne oder gar gegen Russland besteht.7 Solange die transatlantischen Falken das nicht begreifen (wollen), wird es weder die Nato-Sicherheit noch eine gesamteuropäische Sicherheit geben, von den „Sicherheitsgarantien“ für die Ukraine ganz zu
schweigen. Das ist eine Traumtanzerei, die in der Ukraine längst zu einem bitterernsten blutigen „Totentanz“ geworden ist. Und wenn die Nato-Allianz weiterhin auf die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine beharrt, so kann aus einem ukrainischen Spiel mit dem Feuer sehr schnell ein gesamteuropäischer Brand – wenn nicht gar ein globaler Weltbrand – werden.
Anmerkungen
- Siehe Freemans Interview in der russischen Sendung „Международное обозрение“ vom 19. Mai 2023.
- „Ukraine Is Knock, Knock, Knocking on NATO’s Door“, Foreign Policy 15. Mai 2023. 3. Vgl. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022,
- Vgl. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022,
www.ontopraxiologie.de. - Mick, Christoph, Die „Ukrainermacher“ und ihre Konkurrenten. Strategien der nationalen Vereinnahmung
des Landes in Ostgalizien, in: Comparativ 15 (2005), H. 2, 60-76 (60 f.). - Clausewitz, C. v., Vom Kriege. Bonn. Dümmler Verlag, I, 1, 94; zitiert nach Raymond Aron, Frieden und
Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1962, 34. - Aron (wie Anm. 5), 36.
- Vgl. Silnizki, M., Gefangen im Gehäuse des „Kalten Krieges“. Russland und die europäische
Sicherheitsordnung. 23. November 2022, www.ontopraxiologie.de.