Verlag OntoPrax Berlin

Der Westen in einer postwestlichen Welt 

Zur Diskussion über das US-Engagement in Europa 

Übersicht 

  1. Der Ukrainekonflikt als die Geburtsstunde der postwestlichen Welt? 
  2. Die „Asia First”-Politik versus das US-Engagement in Europa 
  3. Strategische Blindheit der US-Russlandpolitik 

Anmerkungen 

„Die Strategie ist eine einfache Kunst, die Ausführung ist alles.“ 
(Napoleon)1 

  1. Der Ukrainekonflikt als die Geburtsstunde der postwestlichen Welt? 

„United West, divided from the rest“ (Der vereinigte Westen, vom Rest der Welt getrennt). Unter dieser Schlagzeile veröffentlichte die 2007 mit Hauptsitz Berlin gegründete Denkfabrik „ European Council on Foreign Relations“ (ecfr.eu) ein Jahr nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 22. Februar 2023 ihre Umfrageergebnisse über die „Global public opinion“ bezüglich des Ukrainekonflikts. 

Die unter der Federführung vom britischen Historiker Timothy Garton Ash und seinen Kollegen Ivan Krastev und Markus Leonhard durchgeführte Umfrage war für die westlichen Unterstützer der Ukraine im Krieg gegen Russland sehr ernüchternd. Zwar trat der Westen geeint und vereint gegen „die russische Aggression“ in der Ukraine auf. Die westliche Einigkeit stieß aber in der nichtwestlichen Welt im besten Falle auf Gleichgültigkeit, im schlimmsten Falle auf Ablehnung. 

Schlimmer noch: Folgt man der Analyse der Umfrageergebnissen, so markiert der Ukrainekonflikt 

„die Entstehung der seit Langem angekündigten postwestlichen internationalen Ordnung“ (the emergence of the long-heralded post-Western international order). Der Ukrainekonflikt hat einen Spaltpilz zwischen dem Westen und dem Nichtwesten gesät. 

Die nichtwestliche Öffentlichkeit unterscheide sich von der westlichen in der Deutung sowohl der Ziele als auch der Ursachen des Konflikts. Verklärt Joe Biden den Ukrainekrieg als einen Kampf zwischen Demokratie und Autokratie und glaubt er damit die US-Führerschaft „der freien Welt“ (leadership of „the free world“) wie zu alten „schönen“ Zeiten des „Kalten Krieges“ reanimiert zu haben, so ist die westliche Unterstützung der Ukraine aus nichtwestlicher Sicht durch ganz andere Gründe als durch die Verteidigung der territorialen Integrität und/oder der Demokratie in der Ukraine bedingt, bedauern Ash/Krastev/Leonhard und merken irritiert an: „Paradoxerweise signalisiert die wiedergefundene Einheit des Westens als Reaktion auf Russlands Aggression keine Wiederauferstehung einer von Amerika geführten internationalen Ordnung“ (In paradoxical way, the West’s new-found unity in response to Russia’s aggression does not signal a resurrection of an America- led international order). 

Paradox? Mitnichten! „Der Westen wird in weiten Teilen der Welt negativer gesehen, als wir es wahrhaben wollen“, stellte der Hamburger Afrikanist, Jürgen Zimmerer, bereits im Sommer 2022 bei einem SWR2 Forum am 25.07.2022 fest. Die Gründe liegen nicht zuletzt in der europäischen kolonialen Vergangenheit in Afrika (und nicht nur dort), aber auch in zahlreichen US-Angriffs- und Interventionskriegen der vergangenen zwanzig Jahren, worunter die Glaubwürdigkeit des Westens im Ukrainekonflikt leidet. 

Und so bestätigen die Umfrageergebnisse nur noch einen seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu beobachtenden Transformationsprozess der globalen Weltordnung: „Die meisten Menschen in großen 

nichtwestlichen Ländern wie China, Indien, der Türkei und Russland sagen voraus, dass der Westen bald nur noch ein globaler Pol unter mehreren sein wird. Der Westen mag immer noch die stärkste Partei sein, aber er wird nicht hegemonial sein“ (Most people in major non-Western countries such as China, India, Turkiye, and Russia predict the West will soon be just one global pole among several. The West may still be the strongest party but it will not be hegemonic). 

Eine Multipolarisierung der Welt sei nicht mehr wegzudenken. Und die Umfrage deute darauf hin, dass sich insbesondere solche Länder wie Indien und die Türkei „in einer zunehmend fragmentierten und polarisierten Welt“ (in an increasingly fragmented and polarised world) von einem sog. 

„freischwebenden Souveränitätsverständnis“ (wörtlich: „free-floating sovereigntism“) leiten lassen. In Falle eines Konflikts zwischen den Supermächten entscheiden sie sich nach solchen Opportunitätserwägungen, die ihren „souveränen“, sprich: nationalen Interessen entsprechen. 

Es geht mit anderen Worten nicht so sehr um eine „freischwebende“ Souveränität als vielmehr um eine bündnisfreie bzw. bündnisunabhängige Außenpolitik. In der Logik des „Kalten Krieges“ gefangen, analysiert und urteilt die vorgelegte Studie immer noch im Blockdenken. 

Diese Denkvoraussetzungen führen aber dazu, dass Ash/Krastev/Leonhard ein vermeintliches neues 

„Paradoxon“ entdecken. Es bestehe darin, dass der geeinte Westen „in der Weltpolitik“ (in global politics) nicht unbedingt einflussreicher geworden sei. „Das Paradoxe“ sei nämlich, „dass die wiedergefundene Einigkeit mit der Entstehung einer postwestlichen Welt zusammenfällt (The paradox is that this newfound unity is coinciding with the emergence of a post-Western world). 

Die anderen Mächte machen einfach nicht, was der Westen wolle, stellen sie verblüfft fest. Diese Verblüffung verblüfft! Hat man nicht schon längst einen Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung beobachten können? 

Und so stellen Ash/Krastev/Leonhard am Schluss der Analyse ihrer Umfragewerte fest: Selbst der Sieg der Ukraine mache es höchst unwahrscheinlich, „dass sich eine von den USA geführte globale liberale Ordnung wiederherstellen lässt“ (But it is highly unlikely to restore a US-led global liberal order). 

Der Ukrainekrieg könnte am Ende des Tages eine derart „größte geopolitische Wende“ (the biggest geopolitical turning point) herbeiführen, dass die Konsolidierung des Westens unter Bedingungen einer zunehmend fragmentierten und vom Westen emanzipierten postwestlichen Welt stattfindet. 

Mit anderen Worten, selbst der konsolidierte und vereinte Westen kann „die postwestliche Welt“ weder verhindern noch anführen. Infolge des Ukrainekonflikts ist der nichtwestliche Geist aus der westlichen „Büchse der Pandora“ entwichen. Und es ist praktisch nicht mehr möglich, dieses multipolare „Übel“ zurück in die unipolare „Büchse der Pandora“ zu zwingen. 

Allmählich dämmert es bei den westlichen Macht- und Funktionseliten, dass die fünfhundertjährige Weltherrschaft des Westens unaufhaltsam zu Ende geht, ohne dass sie dem irgendetwas entgegensetzen können. Unabhängig von dem Ausgang des Ukrainekonflikts wird die Welt nicht so bleiben, wie sie vor dem Konflikt war. 

  1. Die „Asia First”-Politik versus das US-Engagement in Europa 

Erschwerend kommt hinzu, dass der sog. Westen, der „im Grunde eine Erfindung der Nachkriegszeit“ ist,2 selber nicht so vereint ist, wie er vorgibt. Wie ist dann sonst der heftig ausgebrochene Streit in den USA zu erklären, der sich um die Diskussion über das US-Engagement in Europa dreht, von der spannungsgeladenen Diskussion über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine „hinter den Kulissen“ (behind the scenes)3 ganz zu schweigen? 

Der Ukrainekrieg und die wachsenden Spannungen im Indopazifik haben eine strategische Debatte unter den einflussreichen US-amerikanischen Gelehrten, Analysten und Kommentatoren über das weitere US-Engagement in Europa ausgelöst. Und so berichtet Michael J. Mazarr (der leitende Politikwissenschaftler bei der RAND Corporation) in seinem aufschlussreichen Artikel „Why America Still Needs Europe“ (Foreign Affairs, 17. April 2023) über zwei gegnerische Lager. 

Die sog. „Realisten“ (Emma Ashford, John Mearsheimer, Barry Posen und Stephen Walt) haben sich mit einer „einflussreichen Bande chinesischer Falken“ (influential band of China hawks) verbunden, angeführt von der ehem. Pentagon-Beamtin Elbridge Colby, und fordern die US-Verpflichtungen in Europa radikal einzuschränken. Vielmehr trommeln sie für eine „Asia First”-Politik. 

Der entscheidende Machtkampf um die Weltherrschaft finde nach Auffassung der „Realisten“ im Indopazifik gegen China und nicht in Europa gegen Russland statt. Washington müsse darum alle seine Ressourcen bündeln und sich auf diese geopolitische und vor allem geoökonomische Konfrontation des 

21. Jahrhunderts konzentrieren. Eine solche US-Außenpolitik, welche die „Asia First”-Strategie proklamiert und gegen das US-Engagement in Europa ausspielt, lehnt Mazarr zu Recht kategorisch ab. Theoretisch könne Washington seine Position im Indopazifik deutlich stärken, indem es seine europäischen Bündnispartner ermächtige, die Führung in Europa im Machtkampf gegen Russland zu übernehmen, wodurch zusätzliche US-Ressourcen für den Einsatz in Asien freigesetzt werden. Ein genauerer Blick auf die „Spieldynamik“ (the dynamics in play) zeige aber nach Mazarr, wie 

selbstzerstörerisch eine solche Verschiebung der Kräfteverhältnisse in der Praxis wäre. 

Der Haupteinwand für die Drosselung des US-Engagements in Europa ist eine unnötige Ressourcenverschwendung, die man im Indopazifik viel dringender gebraucht hätte. Dem begegnet Mazarr mit einem Zahlenwerk, das diesen Einwand widerlegen sollte. 

Die kostengünstigste Option bestehe vielmehr seiner Auffassung nach darin, in Europa zu bleiben, die Nato-Allianzen zu stärken, um Kriege von vornherein zu verhindern. Dabei unterschlägt Mazarr die Tatsache, dass die US-Präsenz in Europa den Ukrainekrieg eben nicht verhindern konnte. Auch die von ihm thematisierte „Abschreckung“ Russlands ist im Falle der Ukraine wirkungslos geblieben. 

Diese rein finanzpolitische und ökonomische Betrachtung des US-Engagements in Europa verwundert, blendet sie doch weitegehend die geostrategische Bedeutung der US-Präsenz in Europa für die US-Hegemonie aus. Entweder zeigen diese Monetisierung und Ökonomisierung des außenpolitischen Bewusstseins, dass dem außenpolitischen US-Establishment das geostrategische Denken eines Zbigniew Brzezińskis und seiner Generation abhandengekommen ist. Oder es bewahrheitet sich die von Raymond Aron bereits 1968 gewonnene Erkenntnis, dass sich „das strategische Denken … in jedem Jahrhundert, oder besser, in jedem Moment der Geschichte, nach den Problemen (richtet), die ihm von den Ereignissen gestellt werden.“4 

Nun verweist Mazarr darauf, dass die USA vielfältige Vorteile aus der Nato-Allianz ziehen und dass diese Vorteile nicht allein auf Europa beschränkt werden. Es werde immer deutlicher, dass Washington im Falle eines Zusammenstoßes mit China im Indopazifik die Nato um Hilfe bitten würden, beteuert Mazarr und schiebt gleich nach: Ein größerer Konflikt mit China werde die Allianz nicht unberührt lassen. 

Wie von den Verteidigungsexperten Jeffrey Engstrom, Mark Cozad und Tim Heath dargestellt, fordert die chinesische Militärdoktrin zu Kriegsbeginn lähmende Schläge gegen militärische, soziale und politische Einrichtungen des Feindes. Solche Angriffe könnten durchaus bis in die USA hinein reichen, was der Nato zumindest theoretisch einen Grund liefern würde, sich auf Art. 5 zu berufen und die anderen Bündnispartner zur Kriegsteilnahme zu verpflichten. 

Der Vorschlag des Desengagements in Europa missverstehe – schlussfolgert Mazarr – das aktuelle strategische Momentum (The proposal to disengage the United States from Europe misreads the current strategic moment). Denn die Nato-Allianz verdankt gerade den USA ihren Zusammenhalt gegen „die russische Aggression in der Ukraine“, die ihre Führungsrolle in Europa erneut unter Beweis gestellt haben. 

Das US-Engagement in Europa zu reduzieren oder gar erheblich zurückzufahren, hätte also unter diesen Umständen die Legitimität der USA als der europäischen Ordnungsmacht konterkariert und die russisch-chinesische Propaganda nur noch bestätigt, dass die USA ausschließlich ihre eigennützigen Machtinteressen verfolgen. 

Der wichtigste Wettbewerbsvorteil des Landes in seiner Auseinandersetzung mit China sei „sein dominantes globales Netzwerk von Freunden und Verbündeten“ (dominant global network of friends and allies), resümiert Mazarr am Ende seiner Ausführung und ruft auf, diese wertvollen Verbindungen in Europa und anderswo nicht mutwillig aufs Spiel zu setzen. 

Diese der aktuellen Krisen- und Kriegssituation geschuldete Momentaufnahme in den Beziehungen zwischen den USA und Europa erklärt immer noch nicht die geostrategische Bedeutung Europas für die USA. Denn die entscheidende Frage in dieser Diskussion zwischen den Befürwortern und Gegnern des US-Engagements in Europa wurde gar nicht gestellt: Wer ist von wem im Zeitalter der ausgebrochenen Großmächterivalität mehr abhängig: Europa von den USA oder die USA von Europa? 

Werden die USA ohne die EU-Europäer überhaupt eine globale Führungs- und Ordnungsmacht bleiben können? Die Antwort fällt für den US-Hegemon nicht gerade schmeichelhaft aus: Europa ist für die USA unverzichtbar, wollen sie an der Spitze der globalen Machhierarchie bleiben. Selbst wenn man davon ausgeht, dass die EU-Europäer sicherheitspolitisch ohne die US-Militärmacht nicht auskommen können (zumindest wird diese Überzeugung seit der Gründung der Nato-Allianz axiomatisch postuliert), ist Europa für die US-Hegemonie eine conditio sine qua non. 

Ohne Europa als US-Bündnispartner werden die USA gar keine Chance haben, ihre regionale und globale Hegemonie aufrechtzuerhalten, und zwar unabhängig davon, ob die EU geo- und sicherheitspolitisch vom US-Hegemon existentiell abhängig ist. Die transatlantischen Eliten glauben zu allererst an diese existentielle EU-Abhängigkeit von den USA. Zu Recht? 

Nicht ganz! Das US-Engagement in Europa ist heute untrennbar (1) mit der Frage nach dem Sinn und Widersinn der Nato-Allianz sowie (2) mit der nach dem Stellenwert Europas in der US-Geo- und Sicherheitspolitik verbunden. 

  1. Jede Allianz zwischen zwei oder mehreren Staaten schafft gegenseitige Abhängigkeiten. Gegen dauerhafte Allianzen sprach darum immer schon die Sorge, die eigene Handlungsfreiheit und Unabhängigkeit zu verlieren. Denn die „Frage der Vasallität und der Hegemonie ist mit der Allianz unlöslich verbunden, sobald es sich nicht um ein Bündnis zwischen vollkommen Gleichen handelt.“5 Die Nato-Allianz war die erste, welche die USA in Friedenszeiten einging. Als rein defensives Verteidigungsbündnis konzipiert, hat sich die Nato im „Kalten Krieg“ bewährt. 

Sie war nach den militärischen Lehren des Zweiten Krieges aufgebaut worden. Noch im Jahre 1956 urteilte der französische Marschall Alphonse Juin, dass, „wenn man die 1944 von den Russen in Weißrussland entwickelte Offensive auf das Gebiet am Rhein überträgt …, ein solcher Angriff gleichzeitig die Räume Köln und Straßburg erfassen und nach einem Durchbruch in der Lage sein würde, die Linie Trier-Saarbrücken nach sechs Tagen und die Linie Boulogne-Paris-Orleáns -Bourges nach 23 Tagen zu erreichen.“6 

„Juin sah in der russischen Ausgangsposition in Thüringen „eine gefährlich geladene Pistole mitten in Deutschland und auf das Herz Frankreichs gerichtet“, kommentierte Ruehl (ebd.) dieses Urteil des Franzosen. 

Und heute? Der Zweite Weltkrieg gehört längst der Vergangenheit an. Der „Kalte Krieg“ ist Geschichte. Der Systemrivale ist bereits vor gut dreißig Jahre untergegangen. Und das russische Rumpfimperium zeigt heute, wie schwer es ihm fällt, selbst in der Ukraine seine Sicherheitsinteressen durchzusetzen. Von der „russischen Gefahr“7 ist weit und breit nichts zu sehen. Ganz im Gegenteil: Die Nato-Expansionspolitik wirkt auf das postsowjetische Russland wie „eine gefährlich geladene Pistole“, die „auf das Herz“ Russlands zielt. 

Und so gehört der defensive Charakter der Nato-Allianz der Sphäre der Mythen an. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat sich die Nato etwa ab der Mitte der 1990er-Jahren peu à peu in eine Expansions- und Offensivallianz verwandelt, auch wenn die Nato-Repräsentanten genau das Gegenteil beteuern. 

Wie kann aber „die mächtigste Allianz aller Zeiten“ (die eigene Selbstbeschreibung) immer noch ein „Defensivbündnis“ (Jens Stoltenberg) sein, wenn ihr keine vergleichbare Gegenmacht gegenübersteht? Denn es herrscht immer noch eine deutliche Machtasymmetrie zwischen Russland und der Nato. Erst eine mögliche strategische Allianz zwischen Russland und China könnte die Nato-Übermacht nivellieren. 

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine scheint die Nato ihr Expansionslimit ausgeschöpft zu haben, bleibt aber nach wie vor ein Offensivbündnis. Und genau diese neuerdings entstandene Diskrepanz zwischen Expansion und Dominanz in Europa bremst die Allianz heute aus und stellt ihre bisherige Expansionsstrategie in Frage. Da Russland die Nato-Expansion in der Ukraine abrupt gestoppt hat und China zunehmend an geostrategischer Bedeutung gewinnt, ist sie auf der Suche nach neuen Expansionsräumen mit mäßigem Erfolg, wie sich zuletzt an einem am 13. Mai in Stockholm anberaumten EU Indo-Pacific Forum gezeigt hat. 

Bei dem gegen China gerichteten EU-Forum, zu dem die EU 30 Außenminister aus Ostafrika, Asien und der Pazifikregion um Teilnahme gebeten hat, „ging es darum, die Anrainer des Indischen und des Pazifischen Ozeans enger an den Westen zu binden, um in den 

Machtkämpfen nicht nur gegen China, sondern auch gegen Russland Verbündete zu gewinnen. Man wolle nicht nur >gemeinsam nachhaltigeren und inklusiveren Wohlstand … schaffen<, sondern auch Seite an Seite >der sich entwickelnden Sicherheitslandschaft im Indo-Pazifik< entgegentreten, hieß es vorab in Brüssel.“8 

Die EU, die noch am Tag zuvor die Außenminister fast aller ihrer Mitgliedstaaten in Stockholm versammelt hatte, war trotz der angereisten Außenminister Indiens und Pakistans, Japans und Singapurs lediglich mit 14 von 27 Amtsinhabern vertreten. Auch Außenministerin Annalena Baerbock glänzte mit ihrer Abwesenheit. Damit demonstrierte die EU den wahren geopolitischen Stellenwert, den sie der Asien-Pazifik-Region tatsächlich beimisst. 

Und die eingeladenen Gäste standen dem in nichts nach. So wurden einige eingeladenen Gäste mit der Aussage zitiert: Man habe zwar Mitgefühl mit der Ukraine, fordere aber ganz in Übereinstimmung mit China eine sofortige Einstellung der Kämpfe, was im Widerspruch zur westlichen Position steht, welche die ukrainische Gegenoffensive nach Kräften befeuert. Lediglich Japans Außenminister sprang als treuester US-Verbündeter der EU zur Seite. 

Ebenso wenig ist es der EU gelungen, die Länder der Asien-Pazifik-Region gegen China in Stellung zu bringen. Deutliche Kritik erfuhr die EU ausgerechnet seitens der Außenminister Singapurs und Indiens, um die der Westen in seinem Machtkampf gegen China buhlt. Die EU- und Nato-Expansionsversuche außerhalb Europas werden bereits im Keim erstickt. Europa bleibt darum für die US-Geopolitik unverzichtbar und sogar wichtiger denn je. 

  1. Dass eine Disparität zwischen der „gewaltigen Wirtschaftsmacht“ Westeuropas und seiner sicherheitspolitischen Ohnmacht besteht, beklagte Nixon bereits Anfang der 1970er-Jahre.9 In dieser Disparität wird die Folge der innerwestlichen hegemonialen Bundesbeziehungen mit einer einseitigen Sicherheitsgarantie deutlich, welche die Nato-Allianz in ein Vasallitätsverhältnis verwandelte. 

Timothy Stanley, einer der Mitarbeiter McNamaras und ein Advokat amerikanischer Militärpräsenz in Europa, urteilte über diese wechselseitige Beziehung: „In gewissem Sinne repräsentierte die Nato den Versuch … amerikanische Macht für die europäische Sicherheit auf einer semipermanenten Basis zu engagieren. So wurde Amerika eine europäische Macht. … Amerika bleibt zu Beginn der siebziger Jahre eine europäische Machtkraft kraft ihrer vitalen Interessen in Europa.“10 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sind die USA zur gesamteuropäischen Ordnungsmacht aufgestiegen. Und heute ist die um Ostmitteleuropa erweiterte EU für die vitalen US-Interessen vor dem Hintergrund der immer heftiger werdenden Großmächterivalität noch wichtiger geworden. Der Stellenwert Europas ist nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung und ungeachtet der suggerierten sicherheitspolitischen Abhängigkeit der EU von den USA für den US-Hegemon nicht geringer geworden. 

Ziehen sich die USA selbst nur teilweise aus Europa zurück, verlieren sie schneller als sie denken nicht nur den wichtigsten US-Vorposten im globalen Raum, sondern es würde auch ein Machtvakuum entstehen, das von den rivalisierenden Großmächten Russland und China gefüllt werden könnte. Schlimmer noch: Die USA könnten diesen Rückzug dann mit dem Verlust ihrer weltweiten Hegemonialstellung bezahlen und anschließend marginalisiert werden. 

Zu Recht verweist Mazarr darum auf den wichtigsten US-Wettbewerbsvorteil: ein „dominantes globales Netzwerk von Freunden und Verbündeten“ (dominant global network of friends and allies), worauf die USA nicht leichtfertig verzichten dürfen. Dabei beschränkt sich der Stellenwert Europas für die USA nicht allein auf seine geo- und sicherheitspolitische Relevanz. Die EU spielt für die US-Geoökonomie und den US-Geo-Bellizismus11 eine noch viel wichtigere Rolle als zurzeit des Ost-West-Konflikts. 

  1. Strategische Blindheit der US-Russlandpolitik 

Die ganze US-amerikanische Diskussion über das US-Engagement in Europa überdeckt freilich das eigentliche geostrategische Problem der USA: ihre verfehlte US-Russlandpolitik seit dem Ende des 

„Kalten Krieges“. Die seit dem Untergang des Sowjetreiches stattgefundene historische Umwälzung der Staatenwelt in Europa und Eurasien brachte vier weitreichenden geo- und sicherheitspolitischen Veränderungen mit sich: 

  • der Zerfall Eurasien in die einzelnen souveränen Staaten und das damit eingehende Vordringen des transatlantischen Machtkartells in das Innere des vom Russischen bzw. Sowjetreichs seit Jahrhunderten beherrschten eurasischen Festlandes; 
  • die Zurückdrängung Russlands aus Ostmitteleuropa und seine Neutralisierung bzw. Marginalisierung als geo- und sicherheitspolitischer Machtfaktor in Europa; 
  • der Aufstieg der USA zu der gesamteuropäischen Ordnungsmacht und die damit eingehende Etablierung der hegemonialen Dysbalance12 als eines neuen Ordnungsprinzips in Europa und schließlich 
  • die exzessive Nato-Osterweiterungspolitik. 

Diese tektonischen Machtverschiebungen haben die geopolitischen Spielräume Russlands eingeengt, seine „strategische Tiefe“ depraviert und das Machtgleichgewicht in Europa zerstört. Aus der Moskauer Perspektive bedeutete laut Rumer/Sokolsky der Zerfall des Sowjetimperiums nicht nur einen Verlust an Status und Prestige, sondern auch und insbesondere „den Verlust der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security).13 

Nach dem Untergang der UdSSR verläuft die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic depth) zurückzugewinnen, bestimmten seitdem im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy), stellten Rumer/Sokolsky anschließend fest. 

Es war nur eine Frage der Zeit, worauf die Russlandkenner14 in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder hingewiesen haben, dass dieses Machtungleichgewicht auf Dauer untragbar ist. Als sich dann die USA mit tatkräftiger EU-Unterstützung anschickten, die Ukraine nach der sog. Maidan-Revolution in seine Machtsphäre ökonomisch, ideologisch und sicherheitspolitisch zu „integrieren“, schrillten bei der russischen Führung sämtliche Alarmglocken und es war Gefahr in Verzug. 

Der schwelende Konflikt hat sich schließlich derart hochgeschaukelt, dass er zum explosiven Gemisch von Drohung und Gegendrohung, Provokation und Gegenreaktion, Expansion und Eskalation wurde, bis er sich am 24. Februar 2022 in einem blutigen Ukrainekonflikt entlud. Der US-Versuch, die hegemoniale Dysbalance als neues sicherheitspolitisches Ordnungsprinzip in Europa dauerhaft zu etablieren, ist damit fehlgeschlagen und hat sich als Illusion herausgestellt. 

Die USA haben die wichtigsten geo- und sicherheitspolitischen Maximen des „Kalten Krieges“ aus Machtarroganz und Selbstüberschätzung ignoriert und für irrelevant erachtet. Das könnte den USA den Verlust ihrer Hegemonie kosten. Was ist passiert? 

Die US-Geostrategen setzten auf eine beinahe grenzenlose Entfaltung der Machtprojektion ohne Rücksicht auf die Sicherheitsinteressen eines zwar in den 1990er-Jahren am Boden liegenden, aber potenziell und tendenziell gefährlich werden könnenden geopolitischen Rivalen. 

Denn die Nato konnte als Instrument der expansiven US-Machtpolitik auch ohne Krieg genutzt bzw. missbraucht werden. Die US-Übermacht war in den 1990er-Jahren so erdrückend, dass sie nicht nur den Widerstandswillen des potenziellen Rivalen von vorn herein ausschloss, sondern mit ihrer Expansionspolitik auch die strategische Tiefe und damit die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands tangiert. 

Damit wurde die wichtigste geopolitische Maxime des „Kalten Krieges“ ausgeschaltet, nämlich „nicht dort an(zu)greifen, wo der andere – der einzige Rivale, der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht“. Die US-Geostrategie hielt an dieser Maxime während des gesamten „Kalten Krieges“ fest, 

welche im Grunde „die Praxis der Einflusszonen“ widerspiegelte, auch wenn diese „Praxis“ immer schon von „der amerikanischen Ideologie und von Präsident Roosevelt persönlich verurteilt wurde.“15 

Der Grund dafür ist einfach zu erklären: Die vitalen US-Sicherheitsinteressen fielen mit denen der Sowjetunion zusammen, dergestalt, dass sich die beiden Supermächte auf keinen Krieg auf Leben und Tod einlassen wollten, um sich bloß nicht gegenseitig mit Nuklearwaffen zu vernichten. Heute sieht die geopolitische Gemengelage ganz anderes aus. 

Zum einen weigern sich die USA bis heute beharrlich, Russland als einen gleichwertigen und gleichberechtigten geopolitischen Rivalen anzuerkennen, und zum anderen hat der Westen die Angst vor dem Atomkrieg aus welchem Grund auch immer verloren, wodurch die Gefahr einer nuklearen Eskalation viel größer als zurzeit des Ost-West-Konflikts geworden ist. 

Eine weitere geopolitische Maxime des „Kalten Krieges“ wird heute ebenfalls ignoriert: „In allen Konflikten muss man zwischen der Prüfung der Kräfte (trial of force) und der Prüfung des Willens (test of will) unterscheiden. Diese Dualität fand in der berühmten Formulierung >Nur derjenige ist besiegt, der zugibt, besiegt zu sein< ihren Ausdruck.“16 

Das willentliche Momentum eines Konflikts wird heutzutage infolge der ständigen Reduktion einer geo- und außenpolitischen Analyse auf rein monetäre, ökonomische und/oder quantitativ messbare Größen unterschätzt, wodurch die Gefahr besteht, den Machtwillen des Rivalen falsch einzuschätzen, was wiederum die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation in sich birgt. 

Die dritte und bei weitem bedeutendste geopolitische Maxime des „Kalten Krieges“ wird schließlich ins Gegenteil verkehrt, indem Washington zwei geostrategischen Gebote außer Kraft gesetzt hat. Das erste stammt von Henry Kissinger und lautet: „Washington muss immer viel bessere Beziehungen mit Moskau und Peking als Moskau und Peking untereinander haben“. 

Das zweite Gebot stammt von einem rumänisch-US-amerikanischen Militärstrategen und Ex-Berater von Ronald Reagan, Edward Luttwak: „Die USA können sich eine Konfrontation mit Moskau leisten, falls sie nicht im Konflikt mit China stehen. Die USA können sich auch eine Konfrontation mit China leisten, falls sie nicht im Konflikt mit Moskau stehen. Eine gleichzeitige Konfrontation mit China und Moskau können sich die USA aber nicht leisten.“ 

Und genau diesen Kampf an zwei Fronten glaubt die Biden-Administration anscheinend führen zu können. Was für eine Selbstüberschätzung! Sie ignoriert die zunehmende Zusammenarbeit zwischen Russland und China in allen Bereichen, die, vereint in ihrer Ablehnung der US-Hegemonie, einer strategischen Partnerschaft gleichkommt. Das bedeutet aber, dass Europa und der Indo-Pazifik in der Tat – worauf Mazarr zu Recht hinweist – untrennbar miteinander verbunden sind. 

Mögen die USA heute der Indo-Pazifik-Region eine viel größere Bedeutung als Europa beimessen. Ohne Europa werden die USA sich weder gegen Russland noch China behaupten können, von der möglichen russisch-chinesischen Allianz ganz zu schweigen. 

Ein Mitte September 2021 zwischen Australien, Großbritannien und den USA geschlossenes trilaterales Militärbündnis AUKUS wird daran auch nichts Wesentliches ändern. Ob die EU-Europäer gut beraten sind, sich aus einer transatlantischen Solidarität gegen China in Stellung zu bringen, ist freilich eine ganz andere Frage. 

Anmerkungen 

  1. Zitiert nach Aron, R., Zur Entwicklung des strategischen Denkens (1945-1968), in: ders., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1972, 341-374 (349). 
  2. Osterhammel, J., Sklaverei und die Zivilisation des Westens. 2. Aufl. München 2009, 22. 
  3. Vgl. „Ukraine Is Knock, Knock, Knocking on NATO’s Door“. Foreign Policy 15. Mai 2023. 
  4. Aron (wie Anm. 1), 353. 
  5. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 99. 
  6. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 5), 107. 
  7. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  8. EU Indo-Pacific Forum Stockholm 2023. eeas.europa.eu. Zitiert nach german-foreign-policy.com. 15. Mai 2023. 
  9. Vgl. Ruehl (wie Anm. 5), 163. 
  10. Zitiert nach Ruehl (wie Anm. 5), 176. 
  11. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de. 
  12. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de. 
  13. Rumer, E./Sokolsky, R., „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“ Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019; siehe auch Silnizki, M., Dreißig Jahre US- Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar 2023, www.ontopraxiologie.de. 
  14. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de. 
  15. Aron (wie Anm. 1), 350. 
  16. Aron (wie Anm. 1), 354. 
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