Verlag OntoPrax Berlin

Machtfrage oder Wertfrage?

Ferenczys „Kampf gegen Fake News“

Übersicht

1. Zur Frage nach „Desinformation und Informationsmanipulation“
2. Machtfrage als Ordnungsfrage

Anmerkungen

Über das, was wahr oder falsch ist, entscheidet im
Zeitalter von Fake News nicht die Evidenz, sondern
die Meinungsmacher, die alles als Desinformation
denunzieren, was mit ihrer eigenen Desinformation
nicht übereinstimmt.

  1. Zur Frage nach „Desinformation und Informationsmanipulation“

In ihrem am 2. Januar 2024 veröffentlichten Artikel für das Handelsblatt „Kampf gegen Fake News“ stellt Zsuzsa Anna Ferenczy (Politikwissenschaftlerin an der National Dong Hwa University in Taiwan) die folgende These auf: „China und Russland manipulieren Informationen und greifen damit Demokratien weltweit an.“

Wie begründet Ferenczy ihre These? Eigentlich gar nicht! Es ist längst zum guten Ton geworden, Behauptungen aufzustellen, ohne sie begründen zu müssen. Das gehört heute anscheinend zu den „wissenschaftlichen Standards“.

An Stelle einer Analyse und/oder Aufklärung treten die bekannten Anschuldigungen, Unterstellungen, Vorhaltungen usw. an die Adresse der geopolitischen Rivalen, um sie moralisch zu diskreditieren, außenpolitisch zu deformieren und ihre geopolitischen Vorhaben zu delegitimieren.

Getreu einer US-amerikanischen Filmkomödie „Und täglich grüßt das Murmeltier“ aus dem Jahr 1993 wiederholt auch Ferenczy die üblichen Klischees und Vorurteile, die von den transatlantischen Eliten propagandistisch ausgeschlachtet und seit Jahr und Tag in Umlauf gebracht werden.

Und das liest sich folgendermaßen: Bei seinem Besuch in Moskau bekräftigten Xi Jinping und Putin „ihr Ziel einer Neugestaltung der liberalen internationalen Ordnung“. „China und Russland eint die Angst vor der liberalen Demokratie und ihr Interesse, die Weltordnung im Sinne ihrer autoritären Ideen zu verändern.“

Und am Ende ihres Artikels stellt Ferenczy fest: „Für die Zukunft der Demokratie weltweit wird es entscheidend sein, die langfristigen Folgen von Desinformation und Informationsmanipulation durch autoritäre Regime für die rechtsstaatliche Ordnung zu verstehen.“

Wenn man die zitierten Passagen über sich ergehen lässt, so wundert man sich immer wieder darüber, wie ideenarm man doch geworden ist und stets die gleichen Phrasen, Vorwurfe und Sprüche abspult, womit die geopolitischen Rivalen bereits seit Jahren und Jahrzehnten ideologisch immer wieder traktiert werden. Der Wahrheitsgehalt solcher Vorwürfe wird nicht dadurch größer, nur weil sie stets wiederholt werden.

Wieso sollten China und Russland eine „Neugestaltung der liberalen internationalen Ordnung“ und nicht beispielsweise eine Weltordnung anstreben, die liberal, aber nicht unipolar ist? Oder sind etwa Liberalität und Unipolarität ein und dasselbe? Es ist auch nicht ganz klar, was die Autorin unter einer „liberalen internationalen Ordnung“ versteht? Meint sie damit eine von den USA nach dem Ende des Ost-West-Konflikts geschaffene „unipolare Weltordnung“, die sich als „liberal“ gebärdet, aber nicht ist.

Wer sagt denn, dass die Unipolarität „liberal“ und nicht vielmehr hegemonial ist? Oder sind Hegemonie und Liberalität ein und dasselbe?

Und warum sollten China und Russland überhaupt „die Angst vor der liberalen Demokratie“ haben? Von welchen „autoritären Ideen“ ist hier die Rede? Gibt es sie überhaupt? Auf all diese Fragen gibt Ferenczy keine Antworten.

Das hat sie auch nicht nötig, verkörpert sie schließlich mit ihrer Grundhaltung die Mehrheitsmeinung und die Mehrheit hat bekanntlich in der Demokratie immer „recht“. Oder etwa nicht? Und so verwendet sie unreflektiert Begriffe, die sie mehrheitskonform unhinterfragt für selbstverständlich hält, und merkt dabei nicht, wie sehr sie sich von aktuellen Stimmungen und medial verbreiteten Tageswertungen beeinflussen lässt und wie wenig sie die seit Jahren tobende geopolitische und geoökonomische Konfrontation zwischen dem Westen unter US-Führung und Russland und China zu reflektieren versteht.

Vor diesem Hintergrund ist auch ihr „Fake News“-Vorwurf zu verstehen. Folgt man aber ihrem westlich zentrierten bzw. eurozentrischen Weltbild, so haben Xi Jinping und Putin nichts anders im Sinn, als Tag und Nacht „ängstlich“ danach Ausschau zu halten, was der Westen denkt, sagt und tut, um sich sodann dagegen in Stellung zu bringen.

Erneut und immer wieder wird eine geopolitische Rivalität der Großmächte ideologisch verklärt. Als hätte man das 20. Jahrhundert – das Jahrhundert der Ideologien – nicht längst hinter sich gelassen, werden die dem „Kalten Krieg“ entlehnten ideologischen Versatzstücke dazu benutzt, eine geopolitische und geoökonomische Konfrontation zu begründen und zu legitimieren.

Nicht anders ergeht es auch der Autorin, die ihrer eigenen ideologischen Indoktrination nicht einmal bewusst ist. Dieser Mangel an Selbstreflexion bekümmert sie freilich ganz und gar nicht. Ihr geht es einzig und allein darum, die „Desinformation und Informationsmanipulation durch autoritäre Regime“ anzuprangern.

Wenn man aber einen aufgeklärten Leser mit solchen Vorwürfen konfrontiert, dann setzt er selbstverständlich voraus, dass der Westen seinerseits weder Informationsmanipulation betreibt noch Desinformation verbreitet. Das würde wiederum sowohl dem sog. „gesunden Menschenverstand“ als auch den historischen Fakten allein schon aus der jüngsten Vergangenheit widersprechen.

Dieses Ausblenden der eigenen Desinformation und Informationsmanipulation hat Adorno einst als das enttarnt, was es ist: eine Ablenkung von der eigenen Täuschung und Fälschung: „Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll, entscheidet nicht, wie die Ideologie es will, die Evidenz, sondern die … Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt.“1

Was in der platonischen Philosophie die niedrigste Erkenntnisstufe bedeutet und Adorno zutreffend als „bloße Meinung“ (δόξα) definiert, nennt sich heute in den Mainstream-Medien eine gesicherte, am liebsten von Geheimdiensten bestätigte Information, was oft nichts anderes als gezielt gestreute Gerüchte zwecks Manipulation und Desinformation eines uneingeweihten und nur scheinbar informierten Publikums ist.

Das blinde Vertrauen an die eigene mediale Berichtserstattung und eine kritiklose Wahrnehmung der eigenen Medien erstaunt, sind doch die westlichen Massenmedien alles andere als vor jedem Zweifel erhaben. Wie kommen wir aber immer und immer wieder zu einem solch unerschütterlichen Glauben an die eigene Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit und daran, dass man stets auf der richtigen Seite der Geschichte steht?

Sollten die vergangenen dreißig Jahre mit ihren vom Westen verursachten Kriegen, Krisen und Spannungen uns nicht zu einer kritischeren Haltung zum eigenen Tun, Denken und Handeln verleiten? Offenbar nicht, wenn man Ferenczys Auslassungen liest.

    2. Machtfrage als Ordnungsfrage

Der Eurozentrismus und der westliche Universalismus verstellen den Blick auf die geopolitische Realität. Sie verkennen die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der abendländischen geistes-, rechts- und verfassungsgeschichtlichen Entwicklung. Darum versuchen deren Apologeten wie Ferenczy und all jene, die schon lange vor ihr die gleichen Thesen vertreten, die als „universal“ postulierten „westlichen Werte“ den anderen Kulturen und Zivilisationen zu oktroyieren.

Das ist aber gelinde gesagt nichts anderes als eine Neuauflage des europäischen Kolonialismus bzw. eines westlichen Kulturimperialismus. Dass dieses westliche Bestreben, die Welt kulturell zu kolonisieren, mittlerweile anachronistisch geworden ist, wollen die transatlantischen Eliten immer noch nicht wahrhaben.

Sie weigern sich beharrlich die zunehmende, mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine sogar beschleunigte Emanzipation des Nichtwestens von der westlichen Weltdominanz zur Kenntnis zu nehmen. Sie wollen einfach nicht akzeptieren, dass die anderen Zivilisationen mit ihrem eigenen kulturellen und axiologischen Selbstverständnis den universalen Geltungsanspruch der „westlichen Werte“ kategorisch ablehnen.

Geopolitische Rivalität der Groß- und Weltmächte lässt zudem keine Oktroyierung fremder Werthaltungen und Wertordnungen zu.

Deswegen missversteht unsere Autorin das Streben nach einer Transformation der bestehenden, als „liberal“ verklärten unipolaren Weltordnung in eine polyzentrische als einen Versuch, die „liberale internationale Ordnung“ durch „autoritäre Ideen“ zu substituieren.

Sie verwechselt ideologische Scheingefechte mit Geopolitik, wodurch die Machtfrage mit der Wertfrage vermengt und verunklart wird.

Es geht aber in der gegenwärtig stattfindenden geopolitischen und geoökonomischen Konfrontation nicht um einen ideologischen Gegensatz: liberal versus autoritär bzw. demokratisch versus autokratisch.

Diese ideologische Scheindebatte verschleiert nur die Machtfrage nach einer künftigen Ausgestaltung einer neuen postunipolaren Weltordnung, die an Stelle der abgewirtschafteten unipolaren Welt treten wird. Bei dieser Machtfrage geht es vor allem um die Frage nach der Vorrangigkeit oder Gleichrangigkeit von Kulturen, Zivilisationen und Werte.

Und gerade dieser Fragestellung entzieht sich der Westen, weil er eben seine überkommenen globalen Machtstrukturen und Institutionen nicht aufgeben will, weil er eben den universalen Geltungsanspruch seiner Werthaltungen und Wertordnungen nicht preisgeben will und weil er darum lieber diktieren als diskutieren will.

Der Westen propagiert nicht nur den absoluten Vorrang der westlichen Zivilisation über die anderen Zivilisationen, sondern postuliert auch, wie gesagt, deren universalen Geltungsanspruch, womit er mittlerweile auf einen entschiedenen Widerstand seitens Russlands und Chinas ebenso wie seitens des sog. „Globalen Südens“ stößt.

Hier stehen sich zwei geopolitische Philosophien unversöhnlich gegenüber, die sich nicht ohne Weiteres auf das veraltete ideologische Schema reduzieren lässt: Kommunismus versus Kapitalismus, liberal versus autoritär, demokratisch versus autokratisch, das absolut Böse versus das absolut Gute.

Eine solche einfältige und simplifizierende Denkungsart ist überholt und verdeckt nur die geopolitische Machtfrage als Ordnungsfrage: Welche Weltordnung ist heute „gerechter“, d. h. zeitgemäßer: Hegemonie oder Machtgleichgewicht, Unipolarität oder Multipolarität, Monozentrismus oder Polyzentrismus; Vorrangigkeit oder Gleichrangigkeit von Werten und Werthaltungen?

Dass die geopolitische Machtfrage auch einen axiologischen Hintergrund hat, versteht sich wohl von selbst. Nur sind die beiden nicht ein und dasselbe und dürfen nicht miteinander vermengt werden, auch wenn sie aufeinander bezogen sind. Denn Macht lässt sich genauso wenig wertfrei legitimieren, wie eine Wertordnung ohne eine Absicherung durch die Macht bestehen kann.

Es stellt sich darum nicht die axiologische Frage: „Liberal“ oder „autoritär“ bzw. „demokratisch“ oder „autokratisch“, sondern die geopolitische Machtfrage: Hegemonie oder Machtgleichgewicht? Und diese Frage lässt sich nur beantworten, wenn man zwei geopolitische Philosophien gegenüberstellt und auf eine griffige Formel bringt: Während der Westen immer noch in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ gefangen bleibt, sind China und Russland nicht gegen den Westen, sondern gegen das westliche Postulat seiner zivilisatorischen Alternativlosigkeit.2

Russland und China begreifen sich als eigenständige Zivilisationen neben vielen anderen. Russland ist nach eigener Selbstbeschreibung „die größte eurasische und europäisch-pazifische Großmacht“ (крупнейшая евразийская и евро-тихоокеанская держава). Von der „Vielfalt der Zivilisationen“ (diversity of civilizations), ja vom „Garten der Weltzivilisationen“ (garden of world civilizations) spricht aber auch der chinesische Staatspräsident.

„Wir treten für den Respekt vor der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Zivilisationen ein“ (We advocate the respect for the diversity of civilizations), verkündete Xi Jinping am 15. März 2023 in seiner Grundsatzrede „Join Hands on the Path Towards Modernization“ (Gehen Sie gemeinsam den Weg zur Modernisierung) in Peking.

Und an den Westen gewandt, meinte Jinping: „Die Welt braucht keinen neuen Kalten Krieg. Im Namen der Demokratie, eine Spaltung und Konfrontation zu schüren, ist schon an sich ein Verstoß gegen den Geist der Demokratie. … Welchen Entwicklungsstand China auch immer erreichen wird, es wird niemals eine Hegemonie oder Expansion anstreben. … Alle von der Menschheit geschaffenen Zivilisationen sind großartig. Aus ihnen schöpft der Modernisierungsdrang jedes Landes seine Stärke und sein Alleinstellungsmerkmal. Sie haben über Zeit und Raum hinweg gemeinsam einen wichtigen Beitrag zum Modernisierungsprozess der Menschheit geleistet. Die chinesische Modernisierung wird als eine neue Form des menschlichen Fortschritts auf den Vorzügen anderer Zivilisationen aufbauen und den Garten der Weltzivilisationen lebendiger machen.“

Hinter dieser blumigen Sprache des chinesischen Potentaten verbirgt sich freilich eine knallharte geopolitische Philosophie einer polyzentrischen Weltordnung, die im krassen Gegensatz zu unipolaren Wertvorstellungen des US-Hegemonen steht, zugleich aber weitgehend mit der russischen Außenpolitik übereinstimmt.

Im krassen Gegensatz zu dieser geopolitischen Philosophie ist der Westen nach wie vor in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ gefangen. Die ganzen Missverständnisse, Missdeutungen und Vorurteile resultieren gerade daraus, dass die transatlantischen Macht- und Funktionseliten, wie oben gesehen, die nichtwestliche Welt bzw. den „Globalen Süden“ mit dem Maßstab des eigenen Selbst- und Weltbildes betrachten.

Das führt aber zwangsläufig dazu, dass die beiden geopolitischen Philosophien, die nicht gegensätzlicher sein können, auf- und gegeneinanderprallen, ohne auf einen gemeinsamen Nenner kommen zu können: Der einen noch auf die Blockkonfrontation der bipolaren Weltordnung zurückgehenden Geisteshaltung liegen die Grundprinzipien der „ideologischen Homogenität“, Blocklogik und Weltdominanz zugrunde, wohingegen die andere noch im Entstehen begriffene geopolitische Philosophie, sich an einer axiologischen Heterogenität, Anti-Blocklogik und einer anti-hegemonialen Machtpolitik orientiert.

Der vom Westen (noch) dominierten Weltordnung steht nicht etwa ein feindseliger Gegenblock gegenüber. Neben dem Westen entsteht eine Parallelwelt mit dem Ziel, außen- und sicherheitspolitisch, aber auch ökonomisch, monetär und axiologisch derart unabhängig und eigenständig existieren zu können, dass sie sich jedem Diktat und allen Sanktionen und Erpressungen des Westens zu widersetzen vermag.

Es geht also nicht – wie Ferenczy behauptet – um eine „Neugestaltung der liberalen internationalen Ordnung“, sondern um die Schaffung einer antihegemonialen Weltordnung, die neben und nicht statt einer als „liberal“ camouflierten US-Hegemonialordnung besteht. Diese sollte laut der Zielsetzung ihrer Apologeten nicht nach „autoritären Ideen“, sondern nach den Ordnungsprinzipien einer axiologischen Gleichrangigkeit der Zivilisation und Kulturen bestehen.

Und sollte es dazu kommen und zur geopolitischen Realität werden, dann wird die Frage unausweichlich sein, ob die beiden gegensätzlichen Weltordnungsstrukturen überhaupt nebeneinander friedlich bestehen können. Diese Frage wird allein die Zukunft beantworten können. Skepsis ist freilich mehr als angebracht.

Anmerkungen

1. Adorno, Th. W., Meinung – Wahn -Gesellschaft, in: des., Eingriffe. Frankfurt 2003, 147-172 (153).
2. Näheres dazu Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels, 11. September 2023,
www.ontopraxiologie.de.

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