Verlag OntoPrax Berlin

Russlands Bruch mit dem Westen

Auf dem Weg zu neuen ideologischen Ufern?

Übersicht

1. Eine Kampfschrift in Zeiten der Kriegspropaganda
2. Der amerikanische Exzeptionalismus versus die russische „Staatszivilisation“
3. Russische Axiologie versus westliche Universalideologie

Anmerkungen

Ein alter Spruch des Mittelalters lautet: „Italien habe das
Papsttum, Deutschland das Kaisertum, Paris das Studium.“1
Und Moskau? Das Dritte Rom? „Die russische Idee“?
Das war gestern! Und heute? Putins „Staatsideologie“?

  1. Eine Kampfschrift in Zeiten der Kriegspropaganda

Erneut wird Putin zum Mittelpunkt einer Studie. Als würde Russland nur aus einer einzigen Person bestehen und er und nur er allein in diesem Riesenreich über alles zu entscheiden hat, zieht Putin wie ein Magnet alle Blicke der Russlandexperten mit einer geradezu pathologischen Penetranz an und wird immer wieder von allen Seiten beleuchtet.

Und so unternimmt ein Team gleich aus drei Autoren Putins „Ideologie“ bzw. seine „Weltanschauung“ (worldview) zu erforschen. Maria Snegovaya, Michael Kimmage und Jade McGlynn haben diesen undankbaren, weil unergiebigen Versuch unternommen.

In ihrer in Foreign Affairs am 16. November 2023 erschienenen Studie packen sie den Stier bei den Hörnern und versehen ihre Schrift mit einem bombastischen Titel „Putin the Ideologue“.

Ohne den Begriff Ideologie zu definieren, nahmen sie sich viel Zeit und gab sich viel Mühe, um sich dieser „ehrenvollen“ Aufgabe zu widmen. Bereits der Untertitel „The Kremlin’s Potent Mix of Nationalism, Grievance, and Mythmaking“ (Die mächtige Mischung aus Nationalismus, Groll und Mythenbildung des Kremls) zeigt, worum es geht, worauf es den Autoren ankommt und was sie unter „Ideologie“ verstehen. „Ideologie“ sei getreu dem Untertitel eine giftige Mixtur aus „Nationalismus, Groll und Mythenbildung“. Nationalismus in Russland? Im Vielvölkerstaat?

Wie auch immer, die vorliegende Studie ist eine Kampfschrift in Zeiten der Kriegspropaganda. Wie es bei einer Polemik, die das Wort Ideologie seines ursprünglichen Sinngehalts beraubt, nicht anders zu erwarten war, war auch hier das Ziel den geopolitischen Rivalen in einem Lichte darzustellen, das den Leser nur abstoßen kann.

Waren die Ergebnisse der Studie wenigstens der Mühe wert? Mitnichten! Statt Aufklärung betrieben die Autoren Denunziation und statt einer Erkenntnisgewinnung Begriffsverwirrung. Statt die russische Gegenwart in ihrer ganzen weltanschaulichen, geistigen und kulturellen Komplexität zu beleuchten, was zugegebenermaßen kompliziert ist, fokussierten sie ihre ganze Aufmerksamkeit simplifizierend auf Putins imaginäre „Ideologie“.

Dabei sollten sie es doch besser wissen, dass es so etwas wie eine Staatsideologie heute in Russland gar nicht gibt, obschon manche Sowjetnostalgiker davon bis heute träumen.

„Dem Kreml ist es gelungen“ – beteuern die Autoren -, „eine Weltanschauung (worldview) zu entwickeln, die erklärt, warum die Russen kriegsbedingte Herausforderungen ertragen müssen … Diese Ideologie ist zu einer dauerhaften Eigentümlichkeit von Putins Regime geworden (This ideology has become an enduring feature of Putin’s regime).“

Welche „Ideologie“ ist hier gemeint? „In den letzten Monaten“ – liest man weiter – „hat der Kreml eine Reihe von Dokumenten veröffentlicht, welche die Staatsideologie (state ideology) zu kodifizieren versuchen. So veröffentlichte Putin im Januar 2022 ein spezielles Präsidialdekret, das eine Liste der spirituellen und moralischen Werte Russlands einführte. Im Jahr 2023 aktualisierte der Kreml die Grundprinzipien der Kulturgesetzgebung – ein Dokument, das das russische Kulturerbe und das nationale Erbe regelt, um sich für eine gemeinsame russische Weltanschauung (a common Russian worldview) einzusetzen und ein kulturelles Bewusstsein für die Nation zu schaffen. Moskau hat das Bildungssystem des Landes als Teil derselben ideologischen Anstrengung überarbeitet, indem es die modernen Geschichtsbücher standardisiert hat, um sie an die offizielle propagandistische Linie anzupassen … Diese Schritte stellen einen weit verbreiteten Versuch dar, eine Top-Down-Ideologie zu etablieren, die in einer Vision von Russland als eigenständiger Zivilisation verankert ist (These steps constitute a widespread effort to inculcate a top-down ideology, anchored by a vision of Russia as a distinct civilization).“

Was hier als „Staatsideologie“ verklärt wird, ist nichts weiter als eine staatlich gesteuerte Kultur- und Bildungspolitik, die weder mit der verordneten „gemeinsamen russischen Weltanschauung“ noch mit der Staatsideologie (state ideology) bzw. „top-down ideology“ in der Art der Sowjetideologie etwas zu tun hat.

Zwar bezeichnet die neue Doktrin der russischen Außenpolitik vom 31. März 2023 Russland als eine „Staatszivilisation“ (Россия – государство-цивилизация). Der Ausdruck begründet aber keine neue russische Staatsideologie, sondern fixiert lediglich schriftlich das längst bestehende Credo der russischen Außen- und Geopolitik.2

Russland begreift sich hier als eine eigenständige Zivilisation, die neben vielen anderen Zivilisationen gleichberechtigt und gleichwertig bestehen will. Umso aberwitziger ist die Behauptung der Studie, dass „die Kernelemente von Putins Ideologie“ zwar „in sich konsistent“ sind, um im nächsten Schritt zu betonen, dass diese „Kernelemente“ aber „in keinem einzigen Text kodifiziert sind“ (vgl.: The core elements of Putin’s ideology are internally consistent, even if they are not codified in any one text).

Der wesentliche Grundstein dieser „Ideologie“ sei laut der Studie „der Imperativ eines starken, stabilen russischen Staates … Der russische Staat verkörpere das historische Wesen der Nation, die seit Jahrhunderten in verschiedenen Formen überdauert hat: das Russische Reich, die Sowjetunion und Putins Russland. Es ist der Staat, … der Russlands Großmachtstatus garantiert und die traditionellen Werte und Lebensweisen des Landes schützt. Ohne den Staat gibt es kein Russland (Without the state, there is no Russia).“

Dass sich die russische Geschichte und Gegenwart um den „Staat“ zentrieren, ist Allgemeingut in der historischen Forschung. Dass Putin ein vehementer Verfechter der russischen Herrschaftstradition ist, ist ebenfalls keine neue Erkenntnis.

Dass die Studie aber daraus eine „Staatsideologie“ zu konstruieren versucht, entspricht eher der Zielsetzung der Autoren, die der Kriegspropaganda geschuldet ist und das Endergebnis der Kampfschrift darum bereits von vorherein feststeht. Es ist zudem gar nicht klar, was die Studie unter den Begriffen „Ideologie“ und „russischem Staat“ (the Russian state) versteht.

Was in Russland heute stattfindet, ist aber etwas ganz anderes, nämlich eine – wie Russen es selber nennen – sog. „Nationalisierung“ bzw. Deglobalisierung der russischen Macht- und Funktionselite als Folge einer bereits seit Jahren stattfindenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen, die sich mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 beschleunigt und mittlerweile zu einem radikalen Bruch zwischen den beiden geopolitischen Rivalen geführt hat.

Und völlig abwegig ist die Behauptung der Autoren: Putins Ideologie propagiere den „russischen Exzeptionalismus“ (Russian exceptionalism). Schlimmer noch: Sie fördere – man höre und staune – sogar „eine nahezu messianische Vision von Russland als Staatszivilisation, die sich stark an den faschistischen Theorien orientiert, die seit über einem Jahrhundert im Umlauf sind, und einen zivilisatorischen und sogar rassischen Aspekt der russischen Identität betont“ (a near-messianic vision of Russia as a state-civilization, borrowing heavily from fascist theories that have circulated for over a century and emphasizing a civilizational and even racial aspect of Russian identity).

Was wir hier als Leserkost serviert bekommen, ist völlig ungenießbar und keinem Feinschmecker zuzumuten. Das ist keine wissenschaftliche Studie, sondern eine Kampfschrift, ja ein Pamphlet, in Zeiten der allerseits tobenden Kriegspropaganda.

2. Der amerikanische Exzeptionalismus versus die russische Staatszivilisation

Wenn man sich nun all die Anschuldigungen, Beschuldigungen und Vorwurfe an die Adresse Russlands vor Augen führt und sie näher betrachtet, dann wird man rasch feststellen können, wie unhaltbar sie sind. Da steht zunächst einmal ein seltsam klingender Vorwurf des „russischen Exzeptionalismus“ seitens der US-Amerikaner im Raum.

Offenbar setzt die Studie – wie sie es nennt – eine „messianische Vision von Russland als Staatszivilisation, die sich stark an den faschistischen Theorien orientiert“, mit Faschismus und Exzeptionalismus gleich.

Dabei merkt sie gar nicht, wie sehr sie damit nicht nur den „amerikanischen Exzeptionalismus“ in die russische „Staatszivilisation“ hineinprojiziert, sondern auch den „American Way of Life“, dem eben dieser „Amerikanische Exzeptionalismus“ (American exceptionalism) zugrunderliegt, konterkariert und auf eine Stufe mit Faschismus stellt.

Es ist vielmehr der amerikanische Exzeptionalismus, der einen „rassischen Aspekt“ (racial aspect) der US-amerikanischen Identität betont und die ehem. Außenministerin Madeleine Albright (1997–2001) einst in Worte kleidete: „Wenn wir Gewalt anwenden müssen, dann weil wir Amerika sind; wir sind die unverzichtbare Nation. Wir stehen aufrecht und blicken weiter in die Zukunft als andere Nationen.“

Dem pflichtete auch der US-Präsident Barack Obama (2009-2017) bei, als er pathetisch sein Glaubensbekenntnis ablegte: „I believe in American exceptionalism with every fiber of my being“ (in einer Rede vor den Kadetten der U.S. Military Academy West Point 2014).

Dieser amerikanische Exzeptionalismus wird in Verbindung mit den gigantischen monetären und militärischen Ressourcen dazu benutzt, die US-Hegemonie im Namen der Freiheit zu rechtfertigen und Konflikte im Namen des Friedens zu schüren. „Die Sache der ganzen Menschheit“ – verkündete John F. Kennedy bereits im Jahre 1960 – sei „die Sache Amerikas … Wir sind für die Aufrechterhaltung der Freiheit in der ganzen Welt verantwortlich“.3

Dieser globale hegemoniale Führungsanspruch Amerikas wird als eine „unwiderlegbare Wahrheit“ in der „National Security Strategy“ 2015 unterstrichen: „Jede erfolgreiche Strategie, die dafür sorgt, die Sicherheit des amerikanischen Volkes und unserer nationalen Sicherheitsinteressen sicherzustellen, muss mit einer unwiderlegbaren Wahrheit beginnen – Amerika muss führen. Eine starke und nachhaltige amerikanische Führung ist unabdingbar für eine regelbasierte Weltordnung, die die globale Sicherheit und den Wohlstand ebenso fördert wie die Menschenwürde und Menschenrechte aller Völker. Die Frage ist nicht, ob Amerika führen sollte, sondern wie wir führen.“

Die ideologische Selbstüberhöhung hat einen unmittelbaren Einfluss auf die geopolitischen Aktivitäten des US-Hegemonen und verleitet ihn zu einer exzessiven Gewaltanwendung, die oft sehr viel Unheil anrichtet und die Autorität der amerikanischen Nation untergräbt.

Wenn wir nun den Begriff Exzeptionalismus wie unser Autorenteam dahingehend deuten würden, dass er „sich stark an den faschistischen Theorien orientiert“, dann würde diese Deutung eher auf den „American exceptionalism“ denn auf die russische „Staatszivilisation“ (государство-цивилизация) zutreffen.

Die sog. „Staatszivilisation“ ist keine „Staatsideologie“ als „top-down ideology“, sondern eine außen- und geopolitische Doktrin, die sich gegen die anderen Zivilisationen abgrenzt, ohne diese abwerten oder sich wie der amerikanische Exzeptionalismus als die weltführende Nation begreifen zu wollen.

Getreu der neuen russischen außenpolitischen Doktrin vom 31. März 2023 begreift sich Russland, wie gesagt, als eine „Staatzivilisation“ (Россия – государство-цивилизация), die neben vielen anderen Zivilisationen gleichberechtigt und gleichwertig bestehen will.

Diese außenpolitische Doktrin beansprucht im Gegensatz zum amerikanischen Exzeptionalismus weder die Weltführerschaft noch die zivilisatorische Alternativlosigkeit, sondern proklamiert die Gleichwertigkeit und Wertegleichrangigkeit aller Zivilisation. Sie steht darum im krassen Gegensatz zu allen rassenideologischen Lehren und Theorien des Faschismus und Nationalsozialismus.

Vor diesem Hintergrund ist auch ein am Vorabend des BRICS-Gipfels am 21. August 2023 veröffentlichter programmatischer Artikel des russischen Außenministers Sergej Lawrow bezeichnend. Darin charakterisiert der Russe sein Land als eine „eurasisch-europäisch-pazifische“ Zivilisation und formuliert von diesem Standpunkt die außen- und geopolitischen Ziele dieser „russische Zivilisation“.

Zum einen postuliert er die Gleichberechtigung aller Völker, Staaten und Werte und weist zum anderen mit Verweis auf Putins Äußerung vom 21. Februar 2023, der sich gegen „die Spaltung in die sog. zivilisierten und anderen (unzivilisierten) Länder“ aussprach, „jede Exklusivität, insbes. eine aggressive“ eines jeden Staates oder einer Staatengruppe zurück.

Dass sich hier hinter Lawrows Äußerung ein Seitenhieb gegen den amerikanischen Exzeptionalismus verbirgt, versteht sich von selbst.

Das Ziel der russischen Außenpolitik sei es laut Lawrow nicht die bestehenden multilateralen Institutionen und Mechanismen zu substituieren oder außer Kraft zu setzen. Das Ziel ist vielmehr eine konsequente Gewährleistung jener Entwicklungsbedingungen für alle Staaten, welche „die Blocklogik des Kalten Krieges und die geopolitischen >Nullsummenspiele< ausschließen“ (исключает блоковую логику „холодной войны“ и геополитические игры с „нулевой суммой“), was letztlich auf die Schaffung einer „gerechteren polyzentrischen Weltordnung“ (более справедливого полицентричного миропорядкa) hinausläuft.

Soll etwa eine solche außenpolitische Doktrin, die sich vehement gegen die Überlegenheit einer „Rasse“ oder einer Zivilisation ausspricht, einer „faschistischen Theorie“ gleichkommen?

3. Russische Axiologie versus westliche Universalideologie

Nun spricht das Autorenteam die ganze Zeit von Putins „Staatsideologie“ (state ideology) bzw. „top-down ideology“, ohne genauer zu definieren, was es unter „Ideologie“ überhaupt versteht. Offenbar will die Studie dem Publikum Putins „Staatsideologie“ als die Renaissance einer „Von oben verordneten Ideologie“ (top-down ideology) nach dem Vorbild der staatlich sanktionierten Sowjetideologie suggerieren.

Und genau in diesem Sinne beteuern die Autoren: Putin habe die Gelegenheit genutzt, eine nach dem Untergang des Sowjetsystems entstandene „ideologische Leere“ (ideological void) zu füllen, indem er „viele der quasi-sowjetischen und zaristischen Themen, die in Russland bereits bekannt waren, darunter Russlands Großmachtstatus, kultureller Exzeptionalismus und Antiwestlertums, einfach übernommen hat.“

Die aufgezählten Charakteristika des russischen Staatverständnisses sind zwar nicht ganz von der Hand zu weisen. Das hat aber mit der „Staatsideologie“ nicht im Geringsten etwas zu tun. Selbst die Sowjetnostalgiker hätten sich gewundert, hätte man ihnen allen Ernstes von der Existenz einer Staatsideologie im heutigen Russland erzählt. Offenbar verwechseln die Autoren die gezielt geschürten antiwestlichen Ressentiments, Vorurteile und Feindbilder oder Russlands Selbstwahrnehmung als Großmacht mit einer wie auch immer gearteten „Staatsideologie“.

Von Napoleon Bonaparte stammend, erfährt der Begriff Ideologie im Laufe der Zeit einen tiefgreifenden Wandel und ist bis heute in seiner Verwendung vieldeutig geblieben.4

Hinter der im Begriff Ideologie steckenden „Idee“ steht eine neue von René Descartes (1596-1650) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte Bewusstseinsphilosophie, die nur zwei Substanzen: Res extensa und Res cogitans, Sein und Bewusstsein, anerkannte. Die „Ideen“ sind nicht mehr – wie die griechische Philosophie uns lehrte – die Urbilder des Seins, sondern die „Inhalte des Bewusstseins“.

Nun hat Descartes´ „Ideenlehre“ ebenfalls eine Transformation dergestalt erfahren, als sie von John Locke (1632-1704) über Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780) zu Pierre Cabanis (1757-1808) und Antoine de Tracy (1754-1836) gelangte, die ihre neue „science idéologique“ zu einer Lehre von „Ethik und Politik“ entwickelten. Diese Lehre der „Ideologen“ wurde vom Direktorium der Französischen Republik 1796 zur Staatsphilosophie, sprich: „Staatsideologie“ erklärt.

Hier wird zum ersten Mal in der europäischen Geistesgeschichte das Junktim zwischen Revolution und Philosophie, Macht und Ideologie hergestellt.

Kaum war Napoleon an der Macht, schob er die „Ideologen“, die ihm zwar zur Macht verhalfen, aber seine Diktatur kritisierten, beiseite. „Diese Ideologen“ – empörte er sich – seien eben „Metaphysiker“ (Schimpfwort in Napoleons Sprache). Sie erdreisteten sich, sich in die Politik seiner Regierung einzumischen. Seitdem sei nach Meinung von Otto Brunner5 „das Wort >Ideologie< in jenem abwertenden Sinn als einer lebensfremden Theorie in wenigen Jahren in Europa verbreitet worden. Napoleon rühmte sich selbst, noch nach seinem Sturz, dass er es war, der diesem Wort weiteste Geltung verschafft habe.“

Napoleon nannte also die „Ideologen“ – die Ideengeber – als lebensfremde und machtpolitisch ahnungslose Spinner, bis Marx die Aufgabe der Philosophie in seiner berühmt gewordenen 11. These über Feuerbach (1845) neu definierte und der Ideologie einen anderen Sinn gab: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.“

In Umdeutung von Marx´ These wurde sodann die Ideologie als Anleitung zur Politik begriffen. Eine solche „Staatsideologie“ als Anleitung zur Politik kennt das gegenwärtige Russland aber nicht, wohingegen es ausgerechnet im Westen eine außenpolitische Ideologie (kurz: Außenideologie) gibt, die stets auf eine welthistorische Mission hinaus ist, um die ganze Welt mit den sog. „westlichen Werten“ „beglücken“ zu wollen.

Diese Entwicklung hat eine lange Vorgeschichte der europäischen Großmacht- und Weltpolitik. Außenpolitik ist ein neuzeitliches Phänomen, „eine moderne Idee“6, die Hand in Hand mit der „Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“7 einhergeht und in dessen Folge die Außenpolitik als die Außenpolitik der Staatsräson im Zeitalter der europäischen Großmächte begreift.8

Im Zeitalter des europäischen Imperialismus wuchs sich die Außenpolitik zur Weltpolitik aus. „Erst mit dem imperialistischen Zeitalter entstand so etwas wie Weltpolitik, ohne die wiederum der totalitäre Anspruch auf Weltherrschaft keinen Sinn gehabt hätte“, stellte Hannah Arendt apodiktisch fest und fügte gleich hinzu: „Während dieser Epoche erwies sich das Nationalstaatssystem als unfähig, entweder neue Regeln für die Außenpolitik, die zur Weltpolitik geworden war, auszubilden oder aber dem Rest der Welt eine Pax Romana aufzuzwingen.“9

Diese bemerkenswerte Erkenntnis von Hannah Arendt zeigt einen mit dem Zeitalter des europäischen Imperialismus entstandenen unlösbaren Konflikt zwischen der (nationalstaatlichen) Außenpolitik der Staatsräson auf dem europäischen Kontinent und der zur Weltherrschaftspolitik gewordenen Außenpolitik der rivalisierenden Großmächte Europas.

Das war im Grunde ein Konflikt zwischen der ideologiefreien Machtgleichgewichtspolitik des Europäischen Mächtekonzerts und der hegemonialen Weltherrschaftspolitik, deren ideologische Untermauerung (noch) fehlte.

Der unlösbare Konflikt wurde letztlich zunächst machtpolitisch und dann ideologisch aufgelöst. Mit dem ersten Weltkrieg wurde er machtpolitisch dahingehend gelöst, dass die Außenpolitik der Staatsräson das Zeitliche segnete und die Außenpolitik als Weltpolitik ideologisiert wurde.

Als ideologischer Vorbote dieser Entwicklung war Marx/Engels „Weltmarkt“-Theorie, womit sie die Pforten zum aufbrechenden Zeitalter der Ideologien öffnete.

Marx/Engels betrachteten als die ersten den welthistorischen Prozess als ein ökonomisches Phänomen, versuchten eine Universaltheorie des Verhältnisses von Ökonomie und Politik zu entwickeln und glaubten die welthistorische Entwicklung in einer wachsenden Kluft zwischen „Kapital“ und „Arbeit“ bzw. „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ erkannt zu haben, die sich zu einem Konflikt zwischen der „proletarischen“ und der „kapitalistischen Internationale“ ausweiten musste. „Das Proletariat kann also nur weltgeschichtlich existieren, wie der Kommunismus, seine Aktion, nur als >weltgeschichtliche< Existenz überhaupt vorhanden sein kann.“10

Die „weltgeschichtliche“ Dimension der proletarischen Existenz weise auf die Vorstellung von einer „Weltgesellschaft“ (Kettenbach)11, „die ohne nationalstaatliche Vermittlung in der vorkommunistischen Phase durch den >Weltmarkt< geschaffen werden sollte.“12

Erst mit der Machtergreifung der Bolschewiki gegen Ende des Ersten Weltkrieges 1917 wurde die Außenpolitik als Weltpolitik endgültig ideologisiert. Die Umwandlung der „kapitalistischen Internationale“ bzw. des „Weltmarktes“ in ein sozialistisches Weltsystem erforderte nach Marx/Engels eine Weltrevolution.

Statt eines solchen weltrevolutionären Prozesses bekam man freilich den Zweiten Weltkrieg, der „ein primär ideologischer Konflikt“13 war. Nach der restlosen Eliminierung des rassenideologischen Ordnungsprinzips des Nationalsozialismus blieben nur noch zwei antagonistische Weltsysteme der bipolaren Weltordnung übrig, die die Weltpolitik in einen ideologischen Systemwettbewerb verwandelten und von zwei feindselig gegeneinanderstehenden „Internationalen“ (= Blöcken) geleitet wurden.

Aus dem „Vorrang des Ideologischen“ folgte aber, dass das Prinzip der Nicht-Intervention bzw. Nichteinmischung eines Staates in die internen Angelegenheiten eines anderen Staates „in einem primär ideologischen Zeitalter“ einfach „ein nicht mehr zeitgemäßes Prinzip“ geworden sei.14

Mit anderen Worten: Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der entstandenen Blockkonfrontation des „Kalten Krieges“ findet eine bis heute andauernde und selbst durch das Ende des ideologischen Systemwettbewerbs der bipolaren Weltordnung nicht unterbrochene ideologisch indizierte Universalisierungstendenz oder – wie Gerhard Leibholz (ebd.) dies bereits 1958 prägnant formulierte – „globale Unifizierungstendenz“ in der Außen- als Weltpolitik statt.

An die Stelle der zwei Universalisierungstendenzen der Nachkriegszeit ist allerdings nach dem Ende des „Kalten Krieges“ nur eine einzige siegreichere „Unifizierungstendenz“ – die westliche Internationale – übriggeblieben, was Marx/Engels mit ihrer „kommunistischen Internationale“ freilich nicht vorausahnen konnten und darum gar nicht auf ihrer (ideologischen) Rechnung hatten.

Nun wird mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine auch die letzte Internationale – die westliche Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten – im Nichtwesten zur Überraschung aller zunehmend in Frage gestellt. Eine erstaunliche Entwicklung!

Was in Russland heute entstanden ist und sich immer mehr verfestigt, ist vor diesem Hintergrund nicht so sehr die von unserem Autorenteam erfundene „Staatsideologie“ bzw. „top-down ideology“, als vielmehr ein neu formuliertes Credo der russischen Außen- und Geopolitik, begleitet durch einen radikalen Bruch mit der postsowjetischen Zeit der russischen Geschichte in ihrer beinahe bedingungslosen – wenn nicht gar blinden – Westorientierung.

Der westlichen Universalideologie setzt Russland nunmehr seine eigene dem außen- und geopolitischen Credo zugrundeliegende Axiologie entgegen, die man als eine Gegenüberstellung zwischen >Sie und Wir< folgendermaßen charakterisieren könnte:

Sie predigen die Menschenrechte,
Wir sprechen aber von der Menschlichkeit.
Sie missionieren Demokratie,
Wir sprechen aber von der Gleichwertigkeit aller Zivilisationen.
Sie fordern ein unifiziertes Modell von Demokratie und Rechtsstaat
Wir fordern aber das Recht auf die eigenstaatliche Selbstbestimmung.
Sie führen Kriege im Namen der Demokratie und Menschenrechte,
Wir fordern aber die friedliche Koexistenz auf Grundlage der Staatssouveränität.
Sie „beglücken“ die Menschheit im Namen des Wertuniversalismus,
Wir sagen aber, jede Kultur und jede Nation sollen ihres eigenen Glückes Schmied sein.

Dieses axiologisch fundierte Credo der russischen Außen- und Geopolitik ist im gewissen Sinne die Rückkehr zur Außenpolitik der Staatsräson und hat weder mit dem ideologischen Systemwettbewerb des „Kalten Krieges“ noch mit einer wie auch immer gearteten russischen „Staatsideologie“ etwas zu tun.

Es ist vielmehr eine radikale außen- und geopolitische Abwendung vom Westen und Zuwendung dem Rest der Welt nicht zuletzt als Folge des vom Westen im Eifer des Gefechts gezogenen neuen „Eisernen Vorhangs“ in Europa als Reaktion auf den Kriegsausbruch in der Ukraine.

Als Hauptleidtragende dieses Bruchs erweisen sich neben der Ukraine immer mehr die EU-Europäer selber, die im Glauben, Russland zunächst mit Sanktionen und dann militärisch in die Knie zwingen zu können, sich maßlos überschätzt haben.

Was als Folge dieser von Russland nicht gewollten, vom Westen aber erzwungenen russischen radikalen Kehrtwende stattfindet, ist die Selbstbesinnung Russlands auf sich selbst, auf seine eigene Herrschaftstradition und der Glaube an die eigene als „Staatszivilisation“ (государство-цивилизация) verklärte tausendjährige Geschichte Russlands mit seiner Fähigkeit, die Zukunft eigen- und selbstständig gestalten zu wollen und zu können.

Ob diese Verklärung der russischen Geschichte und Gegenwart für die Zukunft Russlands gut ist, ist freilich eine Frage, deren Beantwortung eine ganz andere Studie erfordert.

Anmerkungen

1. Friedrich, H., Abendländischer Humanismus, in: Europa als Idee und Wirklichkeit. Freiburg 1955, 33-47 (37).
2. Vgl. Silnizki, M., Zwei geopolitische Philosophien. Folgen des BRICS-Gipfels. 11. September 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach David Horowitz, Kalter Krieg. Berlin 1976, 11.
4. Vgl. Brunner, O., Das Zeitalter der Ideologien: Anfang und Ende, in: ders., Neue Wege der
Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 21968, 45-63.
5. Brunner (wie Anm. 4), 47.
6. Crueger, H.-C., Die außenpolitische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland. Theoretische Grundlagen
und politikwissenschaftlicher Diskurs. Berlin 2012, 44.
7. Böckenförde, E.-W., Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: Säkularisation
und Utopie. Ebracher Studien. Ernst Forsthoff zum 65. G., Stuttgart u. a. 1967, 75-94.
8. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitik ohne Außenpolitiker. Zum Problem der Außenideologie in der
Außenpolitik. 6. Dezember 2021, www.ontopraxiologie.de.
9. Arendt, H., Elemente und Ursprung totaler Herrschaft. München Zürich 1986, 215.
10. Marx/Engels, Die Deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, 35 f.
11. Kettenbach, H. W., Lenins Theorie des Imperialismus, Teil I, Grundlagen und Voraussetzungen. Köln 1965,
101 f.; zitiert nach Soell, H., Weltmarkt – Revolution – Staatenwelt. Zum Problem einer Theorie
internationaler Beziehungen bei Marx und Engels, in: Archiv für Sozialgeschichte XII (1972), 109-184
(112).
12. Soell (wie Anm. 11).
13. Leibholz, G., Ideologie und Macht in den zwischenstaatlichen Beziehungen des 20. Jahrhunderts, in: ders.,
Strukturprobleme der modernen Demokratie. Karlsruhe 1958, 232-244 (238).
14. Leibholz (wie Anm. 13), 241.

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