Verlag OntoPrax Berlin

Zwischen Alarmismus und Eskapismus

Eine DGAP-Studie zur Verteidigungs- und Sicherheitspolitik

Übersicht

1. Zwischen Alarmismus und Ignoranz
2. Ein unausrottbarer Eskapismus
3. In einer sicherheitspolitischen Sackgasse

Anmerkungen

Die Strategie der Abschreckung hat als
„ultima ratio regis“ ausgedient.

  1. Zwischen Alarmismus und Ignoranz

Unsereiner glaubte naiverweise, dass die Zeiten längst vorbei sind, in denen der Schlachtruf des „Kalten Krieges“ ertönte: „Die Russen kommen“. Das war bedauerlicherweise eine unverzeihliche Illusion. Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine wächst eine neue jüngere Generation der kalten Krieger heran. Sie versuchen sich mit „Russenangst“ zu profilieren und begreifen nicht, wie sehr sie damit aus der Zeit gefallen sind.

Unter der Überschrift „Russenangst“ veröffentlichte Der Spiegel am 26. Dezember 1971 die Leserbriefe, die schon damals zeigten, wie wenig man mit der Angst der Bevölkerung spielen konnte. Erst recht kann man damit heute nichts anfangen. Oder doch?

Eine vorgelegte DGAP-Studie ist da ganz anderer Meinung. Sie glaubt das politische Geschäft sehr wohl mit der Angstmacherei betreiben zu können.

Gleich zu Beginn ihrer am 8. November 2023 veröffentlichten Studie „Preventing the Next War. Germany and NATO Are in a Race Against Time“ (DGAP Policy Brief Nr. 32) stellen Christian Mölling und Torben Schütz drei Behauptungen auf, die allesamt diesen Eindruck erwecken:

  • Russland habe „imperiale Ambitionen“, welche „die größte und akute Bedrohung für die Nato-Länder“ darstellen.
  • Moskau würde nach dem Kriegsende „sechs bis zehn Jahre benötigen, um seine Streitkräfte wieder aufzubauen“ und die Nato-Allianz angreifen zu können.
  • Deutschland und die Nato sollten darum innerhalb dieser Frist ihre Streitkräfte zwecks Abschreckung und notfalls zum Kampf gegen Russland voll einsatzbereit machen, um „das Risiko für einen nächsten Krieg in Europa einzuhegen“.

Wie ein roter Faden durchziehen diese drei Behauptungen die ganze Studie. Beweise, Nachweise oder Belege für eine vermeintliche Bedrohung der Nato-Staaten durch Russland liefern sie „natürlich“ in der gesamten Studie kein einziges Mal. Das Bedrohungsszenario steht geradezu axiomatisch schon von vornherein fest.

Es ist unter den Transatlantikern längst zur Mode geworden, alle möglichen Behauptungen aufzustellen, Anschuldigungen und Beschuldigungen in die Welt zu setzen, die weder begründet noch bewiesen werden (müssen).

Wir leben heute schließlich in der virtuellen Realität des Postfaktischen. Unter der Überschrift „Strategische Neubewertung Russlands“ (Strategic Reevaluation of Russia) gehen die DGAP-Autoren mit Verweis auf das neue strategische Nato-Konzept von der Gewissheit einer akuten Bedrohung der 31 Nato-Alliierten durch Russland aus, schließen einen Angriff Russlands auf das Bündnis „nicht mehr aus“ und unterstellen Russland „eine lang gehegte Motivation“ (long-held motivation), die Nato anzugreifen, „sobald es den Eindruck hat, ein Angriff wie z. B. im Baltikum erfolgreich sein könnte“.

Dieses Bedrohungsszenario, das einen ungerechtfertigten Alarmismus in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit schürt, ist derart abstrus, dass man ernste Zweifel hat an der Kompetenz der Verfasser, über die russische Geo- und Sicherheitspolitik urteilen zu können.

Entweder lassen sie die Öffentlichkeit wider besseres Wissen bewusst im Unklaren über die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bzw. den USA bezüglich der Nato-Expansionspolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“1 oder sie haben tatsächlich keine Ahnung.

Sie sollten es aber eigentlich besser wissen. Seit gut dreißig Jahren wehrt sich Russland genauso vehement, wie vergeblich, gegen die Nato-Osterweiterungspolitik. Das postsowjetische Russland der 1990er-Jahre war zu schwach, um der einzig verbliebenen US-Supermacht irgendwelche Bedingungen zu diktieren. Das Russland der 1990er-Jahre war viel zu schwach, orientierungslos, politisch und ökonomisch desorganisiert, um der sicherheitspolitischen Weichenstellung der US-amerikanischen Ordnungsmacht in Europa irgendetwas entgegensetzen zu können.2

Der „Kalte Krieg“ wurde verloren und Russland musste sich der neuen geo- und sicherheitspolitischen Realität in Europa fügen. Die Nato-Osterweiterung war spätestens seit 1995 eine beschlossene Sache.

Russland war damit geopolitisch ausgespielt und sicherheitspolitisch bis zum 15. Dezember 2021, als die russische Führung ihre sicherheitspolitischen Forderungen an den Westen gestellt hat, ein Vierteljahrhundert lang – wie ein defekter Eisenbahnwaggon – auf ein geo- und sicherheitspolitisches Abstellgleis abgestellt.

Die USA und die Nato reagierten auf Russlands Forderungen erwartungsgemäß nur deswegen so gereizt und ablehnend, weil sie nicht ohne Recht eine Revision der nach dem Dayton-Abkommen entstandenen Sicherheitsarchitektur in Europa witterten. Diese Ablehnung der sicherheitspolitischen Forderungen Russlands war eine der Mitursachen für den Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022.

Am 15. Dezember 2021 übergab die russische Führung den USA einen Vertragsentwurf über die Sicherheitsgarantien und die Maßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit Russlands und der Nato-Staaten. Zwei Tage später, am 17. Dezember 2021, veröffentlichte das russische Außenministerium ihn auf seiner offiziellen Website.

Sie enthielt insbesondere die Forderung nach dem Stopp der Nato-Expansion gen Osten, einschließlich der Ukraine, und die Rückkehr der militärischen Infrastruktur des Bündnisses in den Zustand, der zum Zeitpunkt der ersten Runde der Bündniserweiterung von 1997 bestand.

Moskaus Forderung, den Nato-Vormarsch nach Osten zu stoppen und „jegliche militärische Aktivität auf dem Territorium der Ukraine sowie anderen Staaten Osteuropas, Transkaukasiens und Zentralasiens“ einzustellen, wurde wie immer brüsk und arrogant zurückgewiesen.

Putin erklärte in einem Gespräch mit dem französischen Staatschef Emmanuel Macron am 28. Januar 2022, dass Washington und Brüssel die grundlegenden Sicherheitsbedenken Moskaus ignoriert hätten. Genau eine Woche vor der russischen Invasion in der Ukraine wurde am 17. Februar 2022 dem US-Botschafter John Sullivan im russischen Außenministerium klar gemacht, dass Washington alles ignorierte, was für Russlands Sicherheitsinteressen von entscheidender Bedeutung war.

Höchstwahrscheinlich glaubte Russland, mit seinen Forderungen dem Westen zu verstehen zu geben, „dass es diesmal sehr ernst ist“, vermutet Fjodor Lukjanov (Chefredakteur der Zeitschrift „Russland in Global Affairs“).

Das Hauptproblem war, dass die USA und die Nato sich kategorisch weigerten, selbst über die Nato-Osterweiterung zu diskutieren, geschweige irgendwelche Kompromisse einzugehen.

Die Nato-Weigerung, den russischen Forderungen in irgendeiner Weise entgegenzukommen, war zweifelsohne einer der wesentlichen Gründe für den bis heute andauernden Ukrainekrieg.3 Und nun beteuert die DGAP-Studie antifaktisch:

Putin habe „seit Langem die Motivation, die Größe Russlands wiederherzustellen und den Einfluss der Nato und EU zurückzudrängen. Diese Ziele haben er und andere wichtige ­Funktionäre zuletzt immer wieder beschrieben. Ihre historischen Denkkategorien bauen auf Analogien zum imperialen Zarenreich und der Sowjetunion der Stalin-Zeit. Russland besteht demnach auch jenseits seiner Grenzen fort – überall dort, wo jemals Russen lebten oder wo das russische Reich oder die Sowjetunion herrschten. Die nach dem Zerfall der Sowjetunion geltenden Grenzen sieht Putin als nicht bindend an. Mit Polen und den baltischen Staaten gehören Länder zur NATO, die früher Teil Russlands oder der Sowjetunion waren“ usw. usf.

Nachweise, Beweise oder Quellen für ihre Behauptungen liefern die DGAP-Autoren auch hier nicht. Putins angebliches Streben nach der Wiederherstellung des Russischen Reiches und seine vermeintliche Weigerung, die „nach dem Zerfall der Sowjetunion geltenden Grenzen“ als „nicht bindend anzuerkennen,“ sind gut gepflegte Klischees, die mit der russischen Außen- und Sicherheitspolitik nichts gemein haben.

Zwar behauptete Putin einst tatsächlich, dass der Untergang der Sowjetunion „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ sei. Er fügte aber bereits 2010 gleichzeitig hinzu: „Wer den Untergang der UdSSR nicht bedauert, hat kein Herz. Wer aber die UdSSR wiederherstellen will, hat keinen Verstand.“

Die Wiederherstellung des Imperiums in den Grenzen des untergegangenen Sowjetreiches wäre zudem allein schon deswegen unmöglich, weil im postsowjetischen Raum der Nationalismus jeder Couleur gedeiht und floriert. Nachdem der Geist des Nationalismus aus der postsowjetischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, ist es heute praktisch unmöglich, diesen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen, es sei denn mit brutalster Gewalt.

Dessen ungeachtet schreiben die DGAP-Autoren:

„Putins Ideologie und Geschichtsverständnis haben bereits die Kriege in Tschetschenien und Georgien verursacht. Die Reintegration von Belarus ins russische Reich ist in der russischen Verfassung vorgesehen und wird derzeit vollzogen. 2014 begann Putin seinen Krieg in der Ukraine. Diesen hat Moskau, obwohl es bis heute alle Kriegsziele verfehlt hat, zum größten Krieg in Europa seit 75 Jahren eskaliert. Moskau hat auch wiederholt einzelnen NATO-Staaten und der NATO insgesamt mit dem Einsatz von Nuklearwaffen gedroht.“

Der zitierte Text entbehrt derart jeder Realität, dass man sich über eine derartige Russlandexpertise nur wundern kann. Was „Putins Ideologie und Geschichtsverständnis“ genauer sein sollen, lassen die Autoren zudem völlig im Unklaren.

Sie werfen darüber hinaus alles in einen Topf. „Die Kriege in Tschetschenien und Georgien“ sind zwei völlig verschiedene sicherheitspolitische und völkerrechtlich zu qualifizierende Ereignisse. Die zwei Tschetschenienkriege waren innerstaatliche Konflikte. Der erste Tschetschenienkrieg fand in den Jahren 1994 bis 1996 statt. Kein Mensch wusste zu dieser Zeit, wer Putin überhaupt ist. Sollten also „Putins Ideologie und Geschichtsverständnis“ trotzdem diesen ersten Tschetschenienkrieg verursacht haben?

Der zweite Tschetschenienkrieg begann im Jahr 1999. Da war Putin auch noch kein RF-Staatspräsident. Was nun den Krieg in Georgien angeht, so war er ein zwischenstaatlicher Konflikt, der vom Staatspräsident Georgiens, Michail Saakaschwili (2004-2013), und nicht von Putin vom Zaun gebrochen wurde. Dieser Krieg hat darum weder mit „Putins Ideologie“ noch mit seinem „Geschichtsverständnis“ etwas zu tun. Haben die DGAP-„Russlandexperten“ etwa am falschen Geschichtsunterricht teilgenommen?

Es ist zudem auch nicht ersichtlich, welche Verfassung sie gelesen haben wollen, in der eine „Reintegration von Belarus ins russische Reich“ vorgesehen und „derzeit“ sogar „vollzogen“ werde. Die russische Verfassung sieht jedenfalls keine „Heim ins Reich“-Politik vor. Russland und Belarus bilden seit Jahren eine Staatenunion und so bleibt sie auch bis auf Weiteres bestehen.

Und völlig abwegig und geradezu abenteuerlich ist die Behauptung der Studie, dass Putin 2014 „seinen Krieg in der Ukraine (begann)“. Die DGAP-Autoren sind offenbar auch hier falsch informiert.

Ausgelöst vom im Westen als „Maidan-Revolution verklärten Staatsstreich, findet seit 2014 ein ukrainischer Bürgerkrieg zwischen der Kiewer Zentralregierung und den abtrünnigen Provinzen Donbas und Luhansk statt, der sich mit der russischen Invasion am 24. Februar 2022 darüber hinaus in einen zwischenstaatlichen Konflikt ausweitete.4

Dass sie das nicht wahrhaben wollen, grenzt an Realitätsverweigerung und beweist nur noch, dass die DGAP-„Russlandexperten“ die Vorgeschichte und die Hintergründe des Ukrainekonflikts entweder bewusst ausblenden oder gar nicht kennen.

Schlimmer noch: Gefangen in der Logik der Blockkonfrontation des „Kalten Krieges“, ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, merken sie gar nicht, dass die Welt sich mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine und als dessen Folge dramatisch verändert hat.

Der Ukrainekonflikt hat nicht nur die geopolitischen und geoökonomischen Karten neu gemischt, sondern auch die ökonomischen und militärischen Schwächen des Westens bloßgestellt.

So stellte etwa Stephen M. Walt (Kolumnist bei Foreign Policy und Prof. f. intern. Beziehungen an der Harvard University) in seinem Artikel „Congrats, You’re a Member of Congress. Now Listen Up.“ bereits Anfang des Jahres am 11. Januar 2023 nüchtern fest: „The United States’ position in the world“ sei nicht mehr das, was sie mal war.

Als die Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre kollabierte, waren die USA auf der Höhe ihrer Macht. Erst „die künftigen Historiker“ – fügt Walt hinzu – würden genauer reflektieren können, warum „unipolar moment“ von einer solch kurzen Dauer gewesen sei. Wir befinden uns erneut in der Welt der rivalisierenden Großmächte.

„Mein Rat“ – appelliert Walt an die „members of the U.S. legislature“ -: „Gewöhnen Sie sich dran,“ dass die Welt multipolarer werde. Denn das „unipolare Momentum“ sei dahin. Diese Stimme ist zugegebenermaßen immer noch unter den transatlantischen Eliten Rarität.

Die Transatlantiker wollen einfach (noch) nicht wahrhaben, dass der Nichtwesten bzw. der sog. „Globale Süden“ sich vom Westen abwendet und emanzipiert.

Dieser Emanzipationsprozess hat sich sogar mit dem erneuten Gewaltausbruch im Nahen Osten beschleunigt. Der Hauptvorwurf an die Adresse des Westens lautet dabei die Doppelmoral. Der Westen misst – so der übliche Vorwurf des „Globalen Südens“ – mit zweierlei Maß, wenn es um die zwei parallellaufenden Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten geht.

Lange Rede, kurzer Sinn: Falls die DGAP-Autoren wirklich um den Frieden und die Sicherheit in Europa besorgt sein sollten, dann sollten sie beginnen, statt Alarmismus und Ignoranz die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands ernst zu nehmen. Andernfalls gibt es bis auf weiteres keinen Frieden in Europa.

2. Ein unausrottbarer Eskapismus

Die allerschlimmste Gefangenschaft ist die Gefangenschaft der eigenen Illusionen. Getreu dieser Devise beteuern die DGAP-Autoren: Moskau habe „bis heute alle Kriegsziele verfehlt“, ohne auch hier genau zu präzisieren, welche Kriegsziele es denn eigentlich verfehlt haben soll.

Diese Art, in allem nebulös und im Ungefähren zu bleiben, ist die typische Methode einer subtilen Manipulation der Öffentlichkeit, stellt doch die Studie im nächsten Schritt geradezu atemberaubende Behauptungen auf:

„Die größten Verluste an Personal und Material mussten die ­Landstreitkräfte hinnehmen; sie werden den Schwerpunkt der Rekonstitution bilden. Auch die Luftstreitkräfte haben qualifiziertes Personal verloren, verzeichneten aber nur geringe Materialverluste (etwa 10 bis 15 Prozent). Beide Teilstreitkräfte haben gleichzeitig ihre Anpassungsfähigkeit bewiesen. Die Marine hat empfindliche Verluste in der Schwarzmeerflotte hinnehmen müssen …

Russland kann pro Jahr ca. 280.000 Rekruten ausbilden. In sechs Jahren sind das ca. 1,7 Millionen und in zehn Jahren ca. 2,8 Millionen militärisch geschulte Personen. Durch die Ausbildung in jenen Einheiten, die derzeit in der Ukraine kämpfen, werden sie von deren Kampferfahrung profitieren.

Derzeit baut Russland seine Rüstungsindustrie unter Nutzung der Einnahmen aus Öl- und Gasexporten zur Kriegswirtschaft um. Es hat die Produktion in einigen Segmenten gesteigert und wichtige Mitarbeiter in der Produktion gehalten. Die Sanktionen auf kriegswichtige Komponenten wie Mikrochips oder Kugellager und Rohstoffe konnten in vielen Bereichen umgangen werden. Zusätzlich importiert Russland Rüstungsgüter aus verbündeten Staaten wie Iran oder Nordkorea.

Russland steht vor weniger großen Herausforderungen als der Westen, was die Resilienz seiner Gesellschaft anbelangt. Der Gewaltapparat des Regimes unterdrückt jede Form von Aufbegehren. Die Bereitschaft der Gesellschaft, Verluste von Menschenleben hinzunehmen, ist offensichtlich groß: Der Krieg in der Ukraine hat Russland bereits über 250.000 Tote und Verwundete gekostet. Ökonomisch scheint der Staat in der Lage, seinen Krieg weiter finanzieren zu können.“

Woher wissen die Autoren das? Wie kommt die Studie überhaupt auf all die Urteile und Behauptungen? Quellenangabe? Fehlanzeige! „Die größten Verluste an Personal und Material“? Welche denn? „Die Luftstreitkräfte haben qualifiziertes Personal verloren“? Woher wissen sie das so genau? Russland habe „die Produktion in einigen Segmenten gesteigert“? Nur „in einigen Segmenten“?

All das ist nichts weiter als bloße Spekulationen ohne Substanz. Moskau hat sich längst auf die Kriegswirtschaft umgestellt. Und wenn man den russischen Angaben Glauben schenkt, so hat es in beinahe allen Bereichen der Rüstungsindustrie die Produktion zum Teil verfünffacht bis verzehnfacht.

Russland konnte zudem auf das Sowjeterbe der Rüstungsindustrie zurückgreifen und die stillgelegten Kapazitäten wieder reaktivieren und modernisieren. Wissen die Verfasser der Studie nichts davon?

„Der Rüstungsaufwand der UdSSR“ war immer schon „bedeutend, und er stellt(e) industriell-organisatorische Spitzenleistung in der sowjetischen Volkswirtschaft dar.“5 Kein Wunder ist daher, dass Russland sich so schnell auf die Kriegswirtschaft umstellen konnte, selbst wenn man nicht ausschließen kann, dass Moskau manche Rüstungsgüter aus den befreundeten Staaten wie Iran, Nordkorea oder China bezieht.

Auch die von der Studie angegebenen Zahlen sind völlig aus der Luft gegriffen. „250.000 Tote und Verwundete“? Auch hier fehlt jedwede Quellenangabe.

Offenbar adaptieren unsere „Militärexperten“ kritiklos die ukrainische Kriegspropaganda. Man fragt sich irritiert: Seit wann wurde die DGAP zu einer deutschen Propagandaabteilung der ukrainischen Zentralregierung umfunktioniert?

Und wenn die Autoren davon sprechen, dass Moskau „sechs bis zehn Jahre“ zum „Wiederaufbau“ seiner Streitkräfte benötige, dann fragt man sich, ob sie wirklich wissen, was heute an der ukrainischen Front geschieht? Besitzen sie wirklich ausreichende militärhistorische Kenntnisse? Vom welchen sechs- bis zehnjährigen „Wiederaufbau“ reden sie da überhaupt?

Russische Streitkräfte sind heute so stark wie noch nie seit dem Ende des „Kalten Krieges“! Der Krieg selbst ist der beste Schulmeister der russischen Streitmacht.

Auch die sowjetischen Streitkräfte des Jahres 1941 haben mit der sowjetischen Streitmacht im Jahr 1945 kaum etwas gemein. Nicht anders sieht es heute aus. Die russischen Streitkräfte haben sich in den vergangenen zwanzig Monaten reorganisiert, umorganisiert und modernisiert und sind heute schlagkräftiger und kampferprobter als zu Beginn des Krieges.

Die Sowjetarmee ist nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zur größten und mächtigsten Landstreitkraft der Welt aufgestiegen, ungeachtet der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg die Sowjetunion in die Steinzeit zurückgebombt hat.

Die kolossalen Zerstörungen des Landes waren herzzerreißend: „1.710 Städte waren vernichtet, mehr als 70.000 Dörfer, 70.000 Kilometer des Eisenbahnnetzes, 4.100 Eisenbahnstationen, 427 Museen (von insgesamt 992), 40.000 Krankenhäuser, 43.000 Bibliotheken, 44.000 Theater, Klubs und Kulturräume, 84.000 Schulen und Forschungsinstitute; zusammen wurden 6 Millionen Gebäude verbrannt oder zerstört und 25 Millionen obdachlos“6, von ca. 27 Millionen Opfern ganz zu schweigen.

Vor dem Hintergrund dieser historischen Erfahrung stellt sich die Frage: Wie kommen die DGAP-Autoren überhaupt darauf, dass die russische Streitkraft von heute noch 6 bis 10 Jahren zum Wiederaufbau benötige? Ganz im Gegenteil: Solange der Krieg dauert, wird Russland vom Kriegsjahr zum Kriegsjahr militärisch nur noch stärker, weil kampferprobter und kampferfahrener.

Von einer militärischen Schwächung Russlands zu träumen, ist darum eine gefährliche, sehr gefährliche Illusion. Davon abgesehen, hat Russland gar nicht vor, die Nato-Staaten anzugreifen.

Nein, was wir in der DGAP-Studie vorfinden, ist keine Russlandexpertise, sondern eine Desinformationskampagne zwecks Manipulation der ahnungslosen Öffentlichkeit.

3. In einer sicherheitspolitischen Sackgasse

Nun spricht die Studie – wie eingangs erwähnt – von russischen „imperialen Ambitionen“ und wiederholt nur die seit dem Kriegsausbruch unter den Transatlantikern vereinbarte Sprachregelung: Russland habe „unprovoziert“ den Krieg vom Zaun gebrochen und betreibe einen „Neoimperialismus“ bzw. „revanchistischen Imperialismus“ (Olaf Scholz).7

Würde man sich nun diese „Revanchismus“-Rhetorik zu eigen machen, dann würde man in der Tat dem zur Schau gestellten Alarmismus der DGAP-Autoren folgen und in Russland „die größte und akuteste Bedrohung der Nato-Länder“ (the greatest and most ­urgent threat to NATO countries) erblicken.

Deswegen bedürfe es laut der Studie erneut – wie zu den Zeiten des „Kalten Krieges“ – einer Abschreckungsstrategie und der Bereitschaft „zum Kampf gegen Russland“.

Dass die Nato im vergangenen Vierteljahrhundert um tausende Quadratkilometer gen Osten expandierte, stelle „natürlich“ keine Gefahr und keine Bedrohung der russischen Sicherheitsinteressen dar. Schließlich sei die Nato-Allianz laut der eigenen Selbstwahrnehmung „lediglich“ ein Verteidigungsbündnis, als wären die zahlreichen sog. „humanitären Interventionen“ und Invasionen seit dem Kosovo-Krieg bis zum Ende des Afghanistan-Abenteuers (1999-2021) allein der Selbstverteidigung der Nato-Staaten geschuldet.

Was empfehlen nun unsere Sicherheitsstrategen als Antwort auf eine imaginäre Bedrohung der Nato-Staaten durch Russland?

„Sollte Russland“ – schreiben sie – „die Nato angreifen, dann sollten seine Truppen bereits an der Grenze des Bündnisgebiets gestoppt werden … Das Bündnis soll dadurch auch der Gefahr eines >fait accompli< vorbeugen. Denn würde es Russland gelingen, ein größeres Territorium einzunehmen, könnte es den Nato-Staaten einen Gebietshandel vorschlagen, der das Bündnis politisch spalten könnte.“

Diese Passage ist sehr aufschlussreich, verrät sie doch die sicherheitspolitische Grundeinstellung und Denkweise unserer „Strategen“. Sie gehen von zwei unverrückbaren und nicht hinterfragbaren Axiomen aus:

  • Russland führe laut dem ersten Axiom einen Krieg in der Ukraine zwecks territorialer Landnahme.

Das Kriegsziel im Ukrainekonflikt ist nicht etwa die Durchsetzung und Gewährleistung der eigenen Sicherheit und einen Stopp der Nato-Expansion in der Ukraine, sondern allein eine territoriale Expansion bzw. Landnahme als Folge der unterstellten „imperialen Ambitionen“ bzw. eines eingebildeten „revanchistischen Imperialismus“.

Offenkundig haben unsere „Strategen“ weder die von der russischen Führung im Vorfeld des Kriegsausbruchs am 15. Dezember 2021 gestellten Forderungen an die Nato-Allianz gelesen noch Kenntnisse über die seit dreißig Jahren andauernden Spannungen zwischen Russland und den USA bezüglich der Nato-Expansionspolitik besitzen. Sonst hätten sie nicht die vermeintliche „Gefahr eines >fait accompli<“ beteuert. Damit verkennen sie vollkommen die Intentionen der russischen Geo- und Sicherheitspolitik in Europa.

  • Das zweite Axiom geht davon aus, dass der mögliche Krieg zwischen Russland und der Nato ein mit dem Ukrainekrieg vergleichbarer Konflikt sein würde.

Die Nato-Allianz müsse darum alle erforderlichen Maßnahmen treffen, um die nukleare Supermacht Russland „an der Grenze des Bündnisgebiets“ zu stoppen. Glauben unsere „Strategen“ allen Ernstes, dass der Krieg zwischen Russland und der Nato rein konventioneller Natur bleiben und nicht schneller, als man denkt, in einen nuklearen Konflikt ausarten würde?

Vielleicht glauben sie auch, dass die Nuklearwolke mittels der Nato-Abschreckungsstrategie von selbst „an der Grenze des Bündnisgebiets“ stehen bleibt und es nicht wagt, ins Innere des Bündnisgebietes vorzudringen?

All das ist gelinde gesagt nichts weiter als Sandkastenspiele der DGAP-Sicherheitsexperten. Nun ja, die neue Generation muss offenbar erst immer vom Neuen all das lernen, was die vorangegangene Generation des „Kalten Krieges“ schon längst gewusst hat. Sie müssen sich nur beeilen und sehr schnell lernen, um nicht ganz Europa in Flammen aufgehen zu lassen. Wen wollen sie denn mit ihrer Abschreckungsstrategie im Nuklearzeitalter „abschrecken“? Die nukleare Supermacht Russland?

Helmut Schmidt hielt bereits 1965 die sog. „glaubhafte Abschreckung“ für dummes Zeug und leeres Gerede.

Wörtlich schrieb er: „Ich habe leider noch immer den Eindruck, dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“8

Nein, beim konventionellen Krieg wird eine militärische Konfrontation zwischen Russland und der Nato nicht bleiben und schneller, als unsere „Strategen“ nur ahnen, in einen nuklearen Schlagabtausch ausarten. Und dann? Dann ist es zu spät, sich daran zu erinnern, was John Harvey Wheeler (1918 – 2004) einst inmitten des „Kalten Krieges“ sarkastisch anmerkte: „Wenn einer siegt, sind beide am Ende“.9

Die Abschreckungsstrategie folgt der Logik der Konfrontation und des Krieges – eines Vernichtungskrieges. Sie ist auf dem Holzweg. Allein eine neue Friedens- und Sicherheitsarchitektur in Europa, welche die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands anerkennt, ist die einzig brauchbare sicherheitspolitische Zukunftsvision und heute das Gebot der Stunde. Aber genau das hat man in der DGAP-Studie vermissen lassen.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin
2020.
3. Vgl. Silnizki (wie Anm. 1).
4. Näheres dazu Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai
2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 315.
6. Zitiert nach Deschner, K., Der Moloch. „Sprecht sanft und tragt immer einen Knüppel bei euch!“. Zur
Amerikanisierung der Welt. Stuttgart und Wien 1992, 283.
7. Zitiert nach Silnizki, M., „The Global Zeitenwende“. Russlandbild des Bundeskanzlers. 20. Dezember
2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Schmidt, H., Einleitung, in: Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Berlin 1965, 24. 9. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 7.

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