Verlag OntoPrax Berlin

Im strategischen Niemandsland

Zwischen unerwünschtem Frieden und erfolglosem Krieg

Übersicht

1. Krieg statt Frieden
2. Ratlosigkeit und strategische Naivität der US-Russlandpolitik
3. Eine verfehlte deutsche Diskussion
4. Die Fehlkonstruktion der europäischen Sicherheitsordnung

Anmerkungen

„Мы не позволим разговаривать с собой в менторском
повелительном ключе, как это заведено у Вашингтона.“
(Wir werden nicht zulassen, dass man mit uns in einer
belehrenden und befehlenden Weise spricht, wie es in
Washington üblich ist.) 
(Sergej Rjabkov, 29.11.2023)

  1. Krieg statt Frieden

Nun ist „die Katze aus dem Sack“. Kein geringerer als der Fraktionsvorsitzende der regierenden Partei „Sluha narodu“ („Diener des Volkes“) in der Werchowna Rada, David H. Arakhamia, hat in einem Interview mit dem Fernsehsender 1+1 am 24. November 2023 die längst bekannten Berichte bestätigt, dass Moskau sich bei den im März/April 2022 stattgefundenen Friedensverhandlungen vertraglich verpflichtete, den am 24. Februar 2022 ausgebrochenen Krieg in der Ukraine bereits ein Monat später zu beenden, falls Kiew sich bereit erklären sollte, der Nato nicht beizutreten.

Wörtlich sagte Arakhamia: „Unsere Neutralität war für sie das Allerwichtigste. Sie waren bereit, den Krieg zu beenden, wenn wir, wie einst Finnland, die Neutralität akzeptieren und uns verpflichten, der Nato nicht beizutreten“. Für die russische Delegation war das – betonte er – „die Schlüsselfrage“.

Nun hat Arakhamia eigentlich nichts Neues gesagt und spätestens seit März/August 2023 waren die entsprechenden Berichte im Umlauf.1 Neu ist aber, dass er es so unverblümt öffentlich kundgetan hat. Bereits im Juni 2023 teilte Putin den in Moskau anwesenden Staats- und Regierungschefs afrikanischer Länder mit, dass nach den Verhandlungen in Istanbul im März 2022 das „Abkommen über dauerhafte Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ von Arakhamia paraphiert worden sei, Kiew es dann aber „in den Mülleimer der Geschichte geworfen hat“.

Des Weiteren bestätigte der Fraktionsvorsitzender der regierenden Partei des ukrainischen Staatspräsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass der britische Ex-Premier Boris Johnson Selenskyj bei seinem Besuch in Kiew am 9. April 2022 davon überzeugte, das Friedensabkommen mit Russland aufzugeben und die Militäraktionen fortzusetzen.

Johnson habe laut Arakhamia der Ukraine geraten, nichts zu unterzeichnen und „einfach zu kämpfen“.

Arakhamias Äußerung kommentierend, sagte Wladimir Medinski (der russische Delegationsleiter bei den Friedensverhandlungen) am 28. November 2023 in einem Interview: „Die Forderung nach Neutralität der Ukraine und Nichtbeitritt zur Nato war sehr wichtig, aber ich möchte betonen, dass darüber hinaus die Anerkennung der russischen Souveränität über die Krim eine bedingungslose Forderung unsererseits war.“

„Wenn Kiew im April letzten Jahres einen Friedensvertrag unterzeichnet hätte, hätte es hunderttausenden Soldaten der ukrainischen Streitkräfte das Leben gerettet“, fügte Medinski hinzu.

Ferner bestätigte und ergänzte er Arakhamias Äußerung, dass „im April 2022 neben dem britischen Premierminister  Boris Johnson auch die Leiter des Außenministeriums und des Pentagons sowie weitere >Berater< in die Hauptstadt der Ukraine geflogen seien, die vom Abschluss dieses Abkommens abgeraten hätten.“

Schenkt man nun den beiden Delegationsleitern Glauben (und es gibt keinen Grund daran zu zweifeln), so liegt der Schluss nahe: Die britische Regierung unter Führung von Boris Johnson und die Biden-Administration wollten keinen Frieden, sondern befürworteten dezidiert die Fortsetzung des Krieges. Dieser lag in ihrem geopolitischen Interesse.

Vor allem die US-Geostrategen witterten offenbar eine einmalige Chance, erneut wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ sozusagen den Afghanistan-Effekt zu wiederholen und Russland ein für alle Mal eine „strategische Niederlage“ zuzufügen.

Als alter Haudegen des „Kalten Krieges“ hat Biden das sowjetische Afghanistan-Desaster der 1980er-Jahre und dessen Folgen noch gut in Erinnerung. Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 und der darauffolgende langjährige Afghanistankrieg haben mutmaßlich auch zum Untergang des Sowjetreiches beigetragen.

Dass sich die Geschichte aber nicht ohne weiteres wiederholt, bewahrheitet sich auch in dem Ukrainekonflikt, in welchem der Afghanistan-Effekt bis jetzt jedenfalls ausgeblieben ist und bei näherem Hinsehen auch keine Chance hat, realisiert zu werden.

Das Bemerkenswerte an Arakhamias Enthüllung ist aber etwas ganz anderes, nämlich die Bestätigung dessen, worum es Russland in diesem Krieg eigentlich geht und nicht das, was die westliche und ukrainische Kriegspropaganda der europäischen Öffentlichkeit suggeriert. Folgt man Arakhamias Eingeständnis, so war der Ukrainekrieg trotz anderweitigen Beteuerungen weder „unprovoziert“ noch unvermeidbar.

Was Russland in den vergangenen dreißig Jahren auf einem friedlichen Wege nicht erreichen konnte, versucht es heute mit militärischer Gewalt durchzusetzen. Der Neutralitätsstatus der Ukraine ist für Russland unverhandelbar, ob man das hören will oder nicht. Hätten die Ukraine und die Nato dem Neutralitätsstatus des Landes zugestimmt, wäre dieser blutige und sinnlose Konflikt mit hunderttausenden Opfern bereits im April 2022 zu Ende.

Das stand aber im Widerspruch zu der US-Geostrategie in Europa und Eurasien in den vergangenen dreißig Jahren, in deren Mittelpunkt eben diese Nato-Expansionspolitik war.2

Arakhamias Enthüllung macht jedenfalls ganz deutlich, dass Russland an der Fortsetzung des Krieges nicht interessiert war. Darum ist auch die ganze westliche Kriegspropaganda nichts anderes als eine Verschleierung der Mitverantwortung des Westens an diesem überflüssigen Krieg. Der Vorwurf des Imperialismus“, „Revanchismus“ bzw. „revanchistischen Imperialismus“ (Olaf Scholz)3 an die Adresse der russischen Führung ist damit obsolet geworden und muss in diesem geostrategischen Kontext gesehen werden.

2. Ratlosigkeit und strategische Naivität der US-Russlandpolitik

Warum haben die US-Geostrategen die Fortsetzung des Krieges befürwortet? Ging es ihnen allein darum, Russland ökonomisch und militärisch zu schwächen? Oder hegen sie viel weitgehendere Pläne, etwa die Zerschlagung Russlands, wie manche Repräsentanten der russischen Macht- und Funktionseliten glauben?

Sicher ist, dass die Biden-Administration sich beim ursprünglich geplanten Sanktionskrieg verkalkulierte – im Glauben, Russland mit einem ökonomischen Blitzkrieg in die Knie zwingen zu können. Als Russland dann anfänglich zahlreiche taktische und militärstrategische Fehler begangen hat, glaubte sie, Russland womöglich militärisch zu schwächen oder gar „besiegen“ zu können.

Auch das ist gescheitert! Und jetzt? Wo stehen wir heute? Vor dem Scherbenhaufen der Russland- und Ukrainepolitik gleichermaßen, weil die Biden-Administration die Ukrainepolitik allein als Anti-Russlandpolitik konzipiert hat!

Der Traum von einer „strategischen Niederlage“ Russlands angesichts der gescheiterten ukrainischen Konteroffensive ist ausgeträumt und immer mehr US-amerikanische Russlandexperten sind der Meinung, dass „es … an der Zeit (ist), dem magischen Nachdenken über die Niederlage Russlands ein Ende zu setzen“ (It’s Time to End Magical Thinking About Russia’s Defeat).

So lautet der Titel des in The Wall Street Journal am 16. November veröffentlichte Artikel von zwei namhaften US-Russlandexperten Eugene Rumer und Andrew S. Weiss. Und im Untertitel steht geschrieben: „Putin hat allen Bemühungen des Westens, seine Invasion in der Ukraine rückgängig zu machen, standgehalten und seine Macht hat er fest im Griff. Die USA und ihre Verbündeten brauchen eine neue Strategie der Eindämmung“ (Putin has withstood the West’s best efforts to reverse his invasion of Ukraine, and his hold on power is firm. The U.S. and its allies need a new strategy: containment).

Der Westen habe – schreiben Rumer/Weiss – „auf Sanktionen gesetzt“, „diplomatische Isolierung Russlands“, „eine erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive“, auf „neue Waffentypen“ usw. Nichts davon habe zum Erfolg geführt: Die Gegenoffensive sei gescheitert, die russische Wirtschaft stehe besser da als gedacht, Putin werde von der Bevölkerung weiterhin unterstützt.

Darum müsse man einen Kurswechsel einleiten und sich auf einen langfristigen Machtkampf einstellen, wozu u. a. die Ukraine weiter gefördert und hochgerüstet werden müsse, die Sanktionen gegen Russland in Kraft bleiben müssen. Es gelte weiterhin Moskau konsequent zu isolieren. Anstatt auf schnelle militärische Erfolge der Ukraine zu hoffen, müssten die Nato-Staaten sich selbst massiv gegen Russland hochrüsten.

Ungeachtet des Eingeständnisses des Scheiterns aller denkbaren und undenkbaren Maßnahmen des Westens gegen Russland beharren Rumer/Weiss weiterhin auf die gescheiterten Rezepte von gestern und merken nicht, wie sie sich mit ihrer Ratlosigkeit bloßstellen und die gescheiterte Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik unbeirrt weiterempfehlen.

Ins gleiche Horn blasen nun auch Liana Fix and Michael Kimmage mit ihrem Artikel „A Containment Strategy for Ukraine“ (Foreign Affairs, 28. November 2023).

Die Transatlantiker scheinen derart ideenlos geworden zu sein, dass sie nichts Besseres im Sinne haben, als die aus der Mottenkiste des „Kalten Krieges“ ausgegrabene „Containment Strategy“ zum neuen Leben zu erwecken, was im Falle der Ukraine völlig deplatziert erscheint und an der russischen Ukrainepolitik und der russisch-ukrainischen Front entgegen den Beteuerungen der Autoren im Wesentlichen nichts ändern wird.

Nicht anders verhält es sich auch mit den anderen Vorschlägen, nachdem das Scheitern der erfolglosen ukrainischen Konteroffensive offensichtlich geworden ist. Nun versuchen die alten Haudegen des „Kalten Krieges“, Richard Haass und Charles Kupchan zwanghaft „einen Erfolg in der Ukraine neu zu definieren“ (Redefining Success in Ukraine), wie der Titel Ihres in Foreign Affairs am 17. November 2023 veröffentlichten Artikels zeigt.

Zunächst stellen sie nüchtern fest, dass Kiews Kriegsziele, Russland vom eigenen Territorium zu vertreiben, „für die nahe Zukunft und möglicherweise auch darüber hinaus unerreichbar sind“. Darum plädieren sie für „eine neue Politik“, die Mittel und Zweck in Einklang bringe. Und wie lautet diese „neue Politik“?

Da das US-Militär „nur über begrenzte Ressourcen und die US-Verteidigungsindustrie über begrenzte Produktionskapazitäten (verfügen)“ und die Ukraine selber ihre Verluste an Menschen und Ressourcen begrenzen sollte, müsse sie einen Waffenstillstand anstreben, sich auf Verhandlungen einlassen und von der Offensive auf die Verteidigung umstellen.

Der Westen sollte dabei die Ukraine – beschwichtigen Haass/Kupchan – „nicht dazu drängen, die Wiederherstellung der Grenzen von 1991 aufzugeben oder Russland für den Tod und die Zerstörung verantwortlich zu machen, die seine Invasion verursacht hat.“

Nach Arakhamias Enthüllung klingt die Forderung, allein „Russland für den Tod und die Zerstörung verantwortlich zu machen“ wie ein Hohn. Der Krieg in der Ukraine wäre schon nach einem Monat zu Ende gewesen, hätten Boris Johnson und Pentagon die Ukraine nicht auf die Fortsetzung des Krieges gedrängt.

Für den Tod und die Zerstörung in der Ukraine tragen die USA und Großbritannien spätestens seit April 2022 eine direkte und unmittelbare Verantwortung. Hunderttausende Menschen wären heute am Leben, hätten die Angelsachsen auf einen Frieden und nicht auf die Fortsetzung des Krieges gesetzt.

Auch eine weitere Beteuerung von Haass/Kupchan: „Putin hegt immer noch expansive Kriegsziele in der Ukraine“ hält einer Realitätsüberprüfung nicht stand. Ganz im Gegenteil: Hätte der Westen sich mit dem Neutralitätsstatus der Ukraine einverstanden erklärt, wären Russlands „expansive Kriegsziele“ bereits im März/April 2022 zu Ende gewesen.

Nun wollen Haass/Kupchan der Ukraine „eine bittere Pille“ des Waffenstillstands „versüßen“, indem sie dafür plädieren, dass der Westen „sich nicht nur zu einer langfristigen wirtschaftlichen und militärischen Hilfe, sondern auch zur Gewährleistung der Unabhängigkeit der Ukraine verpflichten sollte“.

Sie haben offenbar immer noch nicht verstanden, dass das einzige Land, das der Ukraine die Unabhängigkeit garantieren könnte, Russland wäre und sonst niemand, wie paradox das auch aus westlicher Sicht klingen mag. Die Friedensverhandlungen im März/April 2022 sind der beste Beweis dafür, von einer jahrhundertelangen friedlichen Koexistenz zwischen den beiden „Brüdervölkern“ ganz zu schweigen. Jetzt ist es aber womöglich schon zu spät, viel zu spät.

Denn Russland möchte heute den Krieg nur zu seinen Bedingungen beenden. Weder ein Waffenstillstand noch die Unabhängigkeit der Ukraine kommt unter der amtierenden ukrainischen Regierung für Russland heute trotz anderweitigen Beteuerungen der russischen Führung in Frage. Da bauen Haass/Kupchan mit ihren Vorschlägen Luftschlösse, die unerfüllbar bleiben werden.

Und zuallerletzt plädiert der ehem. US-Botschafter bei der Nato, Ivo Daalder, in seinem in Politico am 27. November 2023 veröffentlichten Artikel „Stalemate best describes the state of war in Ukraine“ dafür, dass Washington und seine europäischen Verbündete erwägen sollten, der Ukraine eine sofortige und verbindliche bilaterale Sicherheitsgarantie zu geben und Moskau zu signalisieren, dass die Sicherheit der Ukraine für die USA und ihre Verbündeten von dauerhafter Bedeutung ist.

Nun ja, solche „geistreiche“ Ratschläge zeigen nur noch die ganze strategische Ratlosigkeit und Naivität des außenpolitischen US-Establishments.

Und so schlittert die Biden-Administration immer tiefer in eine selbstgestellte Falle. Noch vor wenigen Wochen und Monaten träumte sie vom Ruin der russischen Ökonomie und den siegreichen ukrainischen Streitkräften, die den russischen Invasoren eine „strategische Niederlage“ zufügen können. Und heute?

Heute wären sie froh, wenn sie einen Waffenstillstand erzielen und Putin zu Verhandlungen bewegen könnten, die sie ja im Frühjahr 2022 brüsk, machtarrogant und selbstüberschätzend abbrechen ließen. Zu spät! Die Russen werden sich die ukrainische „Beute“ nicht ohne weiteres nehmen lassen und auf Verhandlungen nur zu eigenen Bedingungen einlassen. Das bedeutet aber ein Friedensdiktat!

Wie könnte die Biden-Administration sich so verschätzt haben? Eine Antwort darauf glaubt Ted Galen Carpenter (Redakteur bei The American Conservative, Senior Fellow am Randolph-Bourne-Institute und am Libertarian Institute) zu kennen und in der „strategischen Überdehnung“ der USA den Grund allen Übels zu sehen.

In seinem bereits am 16. Oktober 2023 in The American Conservative veröffentlichten Artikel „Strategic Overextension“ vertritt Carpenter die Auffassung, dass es von Washington törisch sei, gleichzeitig auf Konfrontation gegen Russland und China zu gehen.

Mit Verweis auf Kissingers bekanntes Grundprinzip der US-Außenpolitik zu Zeiten des „Kalten Krieges“: „Washington muss immer viel bessere Beziehungen mit Moskau und Peking als Moskau und Peking untereinander haben“ warnt Carpenter vor den schwerwiegenden Konsequenzen für die US-Außenpolitik, sollte dieses Grundprinzip weiterhin ignoriert werden.

Seit der Bush-Administration habe man Kissingers Rat ignoriert und die USA begannen nach und nach einen „Kalten Krieg“ an zwei Fronten zu führen. „Diese Torheit hat sich im Laufe der Jahre noch verschärft“, empört sich Carpenter und fügt gleich hinzu: „Wenn die US-Führung entschlossen ist, eine Konfrontation gegen eines der beiden Länder zu führen (was an sich keine kluge Politik ist), so ist es zwingend erforderlich, die Beziehungen zum schwächeren Gegner wiederherzustellen. Leider schlägt die derzeitige Administration den entgegengesetzten Kurs ein.“

Und er fährt fort: Die Intensität der Zusammenarbeit zwischen Russland und China sei „größtenteils die Folge unserer Politik gegenüber den beiden Ländern, insbesondere aber gegenüber Russland. Die Beziehungen zwischen Moskau und Washington haben sich mindestens seit 2008 verschlechtert, als George W. Bush erfolglos auf die Aufnahme der Ukraine in die Nato drängte. Ende 2013/Anfang 2014 verschlimmerte sich die Lage deutlich, als die Obama-Administration die Demonstranten in der Ukraine zumindest dazu ermutigte, den gewählten prorussischen Präsidenten des Landes zu stürzen. Der Kreml reagierte mit der Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim. Die USA reagierten ihrerseits auf diesen Schritt, indem sie Wirtschaftssanktionen gegen Russland verhängten und seine Verbündeten dazu drängten, dasselbe zu tun.“

Was schlägt Carpenter nun vor, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen? Er empfiehlt der Biden-Administration einen Spaltpilz zwischen Russland und China zu treiben und gleichzeitig zu versuchen, Formularendeso schnell wie möglich die Beziehungen zu Moskau zu verbessern. „Zugegebenermaßen wäre eine solche Annäherung nicht einfach“, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil „die Propagandaflut, die in der westlichen Öffentlichkeit einen tiefsitzenden Hass auf alles Russische weckt, nicht leicht rückgängig zu machen“ sei.

Bei aller Sympathie für Carpenters Vorschlag ist er einerseits fern jeder Realität und hat keine Chance auf Realisierbarkeit. Folgt man aber andererseits einer Analyse von Nona Mikhelidze (Senior Fellow at the Istituto Affari Internazionali) in ihrem in Foreign Policy am 27. November 2023 veröffentlichten Artikel „The West’s False Choice in Ukraine“, dann sieht die geopolitische Gemengelage in Europa für den Westen noch schlechter aus.

Der Westen sei an die Grenzen seiner aktuellen Strategie gestoßen. Er konzentriere seine Strategie darauf, das Überleben der Ukraine zu sichern, ohne ihr einen entscheidenden Sieg zu ermöglichen. Und so stehen die westlichen Unterstützer der Ukraine am Scheideweg.

Dabei gehe es ihrer Meinung nach nicht um die Wahl zwischen Krieg und Kompromiss, sondern um die zwischen Niederlage und Sieg. Das Dilemma, vor dem der Westen stehe – die Beibehaltung des derzeitigen Unterstützungsniveaus oder eine Reduzierung dieser Unterstützung und Aufnahme von Verhandlungen – erhöhe nur noch die Wahrscheinlichkeit einer Niederlage.

Putin setze darauf, dass Russlands Durchhaltevermögen größer sei als das des Westens (und damit auch der Ukraine). Im Gegensatz zu einer trüben Hoffnung des Westens auf einen Kompromiss habe Putins Strategie „eine klare Logik“.

Und so bleibt Mikhelidze nichts anderes übrig, als am Schluss ihrer Auslassungen resigniert zu konstatieren: Die Ukraine, die einen jahrelangen Krieg führen würde, würde große Herausforderungen mit sich bringen und ihre Integration in die euroatlantischen Strukturen würde nicht reibungslos verlaufen. Der Westen würde sich dessen ungeachtet viel lieber damit befassen als mit den viel bedrohlicheren Problemen, die sich aus der Niederlage der Ukraine für den Westen ergeben würden.

Die Annahme, dass die Niederlage der Ukraine automatisch zur akuten Bedrohung des Westens führen sollte, kann allein mit einer historischen Ignoranz und einer strategischen Ratlosigkeit als Folge der gescheiterten US-Russlandpolitik erklärt werden.

Sieht man von Ostgalizien ab, so war die Ukraine nie ein Teil des sog. „Westens“, wohl aber ein integrierter Bestandteil des ostslawischen Raumes. Und eine ukrainische Niederlage würde nicht die Bedrohung des Westens mit sich bringen, sondern das Scheitern der USA als Ordnungsmacht in Europa offenlegen. Das hätte freilich weitreichende geopolitische Konsequenzen für die US-Weltstellung und US-Weltdominanz zur Folge.

3. Eine verfehlte deutsche Diskussion

Die neue Generation der kalten Krieger in Deutschland, die in der Öffentlichkeit meinungsbildend ist, stets Ressentiment und Angst vor Russland schürt, ist im Gegensatz zu ihren US-Kollegen über alle Zweifel erhaben.

Gleich zu Beginn ihres Gastbeitrags „Was, wenn Russland gewinnt?“ für Zeit Online vom 19. November 2023 stellen Nico Lange und Carlo Masala die kühne These auf, dass Putins Krieg „der europäischen Sicherheitsordnung (gilt). Kommt er damit durch, ist es das Ende der Welt, wie wir sie kennen: Niemand in Europa wäre mehr sicher.“

Diesen Angstmachern und Weltuntergangspropheten, die „das Ende der Welt“ prophezeien, fehlt freilich das Objekt der Angst: die „europäische Sicherheitsordnung“. Man kann nämlich nicht etwas bekriegen, was gar nicht existiert.

Sie setzen die von den USA seit dem Ende des „Kalten Krieges“ oktroyierte Sicherheitsordnung in Europa mit einer „europäischen Sicherheitsordnung“ gleich. Die Nato-Sicherheitsordnung und die europäische Sicherheitsordnung sind allerdings nicht ein und dasselbe. Da Russland nicht der Nato-Allianz angehört, gibt es auch keine (gesamt)europäische Sicherheitsarchitektur. Und ohne die Beachtung der (vitalen) russischen Sicherheitsinteressen gibt es mittlerweile auch keine Sicherheit mehr in Europa.

Im Mittelpunkt der Nato-Sicherheitsordnung steht die exzessive Nato-Expansionspolitik, wogegen sich Russland bereits seit drei Dekaden ebenso vehement wie vergeblich wehrt und immer wieder eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung fordert, welche die Sicherheitsinteressen Russlands zu beachten hat. Es herrschte aus russischer Sicht bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine eine sicherheitspolitische Macht-Dysbalance in Europa zu Lasten Russlands.

Nachdem alle friedlichen Versuche, sich Gehör zu verschaffen und das Sicherheitsproblem friedlich zu lösen, gescheitert sind, sucht Russland nunmehr seine Sicherheitsinteressen auf dem Schlachtfeld militärisch durchzusetzen. Man mag das verfluchen und verdammen, denunzieren und diffamieren; an der entstandenen sicherheitspolitischen Realität ändert das nichts.

Der Ukrainekonflikt wäre vermeidbar gewesen, hätte man die Warnungen des Urgesteins der US-Russlandforschung und des Erfinders der Containment-Politik, George F. Kennan (1904-2005), ernst genommen.

Bereits vor einem Vierteljahrhundert warnte Kennan die Clinton-Administration eindringlich vor der Nato-Expansion gen Osten: „Eine Ausweitung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“4

In einem dem bekannten New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman im Frühjahr 1998 gegebenen Interview fügte er hinzu: „Ich denke, dass die Nato-Osterweiterung der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist und dass die Russen darauf allmählich feindselig reagieren und ihre Politik in verschiedenen Fragen verändern werden. Ich glaube, das sei ein tragischer Fehler. Für eine solche Vorgehensweise bestand gar keine Notwendigkeit. Keiner hat jemanden bedroht … Ist es denn nicht offenkundig, dass wir während des Kalten Krieges allein mit dem Sowjetkommunismus Meinungsverschiedenheiten hatten? Jetzt aber kehren wir denjenigen den Rücken, welche die größte Revolution in der Geschichte ohne Blutvergießen realisierten, um das Sowjetregime zu beseitigen … Darin bestand das Ziel meines ganzen Lebens und es tut mir weh zu sehen, wie all das zunichte gemacht wird.“5

Entweder in Unkenntnis der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts oder wider besseres Wissen warnen Lange/Masala davor, dass „niemand in Europa“ im Falle von Russlands Sieg „mehr sicher (wäre)“. Dem setzt Russland freilich seine Warnung entgegen: Wenn Russland keine Sicherheit hat, dann soll im Zweifel auch „niemand in Europa“ (mehr) Sicherheit haben.

Ob Russland deswegen „mehr als nur die Ukraine (will)“, wie Wolfgang Ischinger in seinem Artikel „Russland will mehr als nur die Ukraine“ (Handelsblatt, 30. November 2023, S. 9) behauptet, ist eine These, die zeigt, wie wenig die deutschen „Russlandexperten“ nach wie vor sowohl die russische Geo- und Sicherheitspolitik als auch die russische Ukrainepolitik kennen.

In seiner Auseinandersetzung mit dem erwähnten Artikel von Lange/Masala und dem Widerspruch, den sie seitens des Politikwissenschaftlers Thorsten Benner erfahren haben, kritisiert Ischinger zu Recht die unergiebige Beschäftigung der Diskutanten mit der „Definition von Sieg oder Niederlage“ und wirft ihnen vor, dass sie „am eigentlichen Kern des Problems“ vorbeidiskutieren.

Der „eigentliche Kern des Problems“ liege seiner Meinung nach vielmehr darin, „dass Intensität und Dauer der strategischen Herausforderung durch Russland nicht vom Ausgang der aktuellen Kämpfe in der Ostukraine abhängig sein werden. … Wir müssen davon ausgehen, dass die revisionistische und auf Expansion abzielende russische Politik zumindest so lange mehr oder weniger unbeirrt fortgesetzt werden wird, wie es in Russland nicht zu einem grundsätzlichen Politikwechsel kommt.“

Die „revisionistische und auf Expansion abzielende russische Politik“ soll also nach Ischinger der „eigentliche Kern des Problems sein“.

Es ist doch erstaunlich, ausgerechnet von einem Repräsentanten eines Nato-Staates zu hören, dass die „russische Politik“ „revisionistisch“ und „expansionistisch“ sei, wo es doch gerade die Nato war, die in den vergangenen dreißig Jahren nichts anderes getan hat, als gen Osten gegen einen erbitterten Widerstand der Russen zu expandieren,6 und die Sicherheitsarchitektur in Europa nach dem Untergang der bipolaren Weltordnung nach eigenem Gusto einer weitgehenden Revision unterzog.

Ist es nicht vielmehr an der Zeit für den Westen über einen „grundsätzlichen Politikwechsel“ nachzudenken und den Balken im eigenen Auge, statt den Splitter im Auge des Rivalen, zu sehen? Und von welcher „strategischen Herausforderung durch Russland“ redet Ischinger überhaupt?

Im Wesentlichen bestehe die „strategische Herausforderung“ darin, „die Konsequenz aus dem russischen Revisionismus und der sich daraus langfristig ergebenden militärischen Bedrohungslage zu ziehen.“

„Die Sowjetunion des Kalten Krieges“ – beteuert Ischinger am Schluss seiner Ausführungen – „war eine Status-quo-Macht, deren Zielsetzung sich im Festhalten an den territorialen Errungenschaften des Zweiten Weltkriegs erschöpfte. Das Russland Putins ist eine revisionistische Macht und deshalb gefährlicher als die Sowjetunion. Sich dem zu stellen, das ist die strategisch-historische Dimension der Zeitenwende.“

Dieser „Revisionismus“-Vorwurf hält keiner Kritik stand. Er ist allein dadurch zu erklären, dass Ischinger – stellvertretend für die transatlantischen Hardliner – sowohl die Natur des Ukrainekonflikts7 verkennt als auch die geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen in Europa seit dem Ende der bipolaren Weltordnung ignoriert. Wer heute vom russischen „Revisionismus“ spricht, darf ihn nicht losgelöst von der US-Expansionspolitik betrachten.

Was nach dem Ende des „Kalten Krieges“ in Europa geo- und sicherheitspolitisch entstanden ist, war eine Sicherheitsarchitektur, in der das „Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip“ etabliert wurde.8

Es ist eine typisch westliche Ignoranz, welche das eigene außen- und geopolitische Handeln und dessen Auswirkung auf die Außenwelt ausblendet und sich stets und immer wieder darüber empört, dass eine harsche Gegenreaktion auf den Fuß folgt. Hinzu kommt eine beharrliche Weigerung die eigene Außenpolitik als expansionistisch und hegemonial wahrzunehmen.

Statt Russland einen „Revisionismus“- und „Expansionismus“ vorzuwerfen, wäre es seitens Ischinger angebrachter die Frage zu stellen: Warum wehrt sich Russland so vehement gegen die Nato-Expansionspolitik, sei doch die Nato-Allianz nach eigener Selbstwahrnehmung ein defensives Bündnis? Sieht man davon ab, ob die Nato defensiv oder offensiv sei, so liegt die Antwort auf der Hand.

Die Nato-Expansionspolitik bedeutet tendenziell eine potenzielle geopolitische Erpressbarkeit Russlands infolge eines unaufhaltsamen „Verlustes der strategischen Tiefe und Sicherheit“ (the loss of strategic depth and security), worauf Eugene Rumer und Richard Sokolsky in ihrer 2019 erschienenen anspruchsvollen Studie „Thirty Years of U. S. Policy Toward Russia: Can The Vicious Circle Be Broken?“ (Carnegie Endowment for International Peace, 20. Juni 2019) längst hingewiesen haben.

Nach dem Untergang der UdSSR verlaufe die westliche Grenze weniger als 500 km von Moskau. Russlands Bestreben – fügten Rumer/Sokolsky zutreffend hinzu -, „diese empfundene Verwundbarkeit“ (perceived vulnerability) zu kompensieren und zumindest teilweise „die strategische Tiefe“ (strategic depth) zurückzugewinnen, bestimmen im Wesentlichen die russische Außenpolitik (a major driver of Russian foreign policy).

Und sollte die Nato-Infrastruktur auf ukrainischem Boden implementiert werden, dann stünde die Nato praktisch vor den Toren Moskaus. Wer diese geo- und sicherheitspolitische Lage Russlands nicht begreifen will oder kann, begreift nicht, worauf er sich einlässt, wenn er wie Ischinger von „einer künftigen Nato-Mitgliedschaft“ der Ukraine träumt. Das wird niemals passieren, es sei denn man nimmt einen dauerhaften Krieg in Europa mit unabsehbaren Folgen billigend in Kauf.

Ohne eine radikale Änderung der westlichen bzw. US-Russlandpolitik dahin gehend, dass nicht nur die Nato ihre Expansionspolitik stoppt und die Ukraine einen neutralen Status akzeptiert, sondern auch ein Machtgleichgewicht wiederhergestellt wird, bleibt der Ukrainekonflikt im besten Falle ungelöst. Im schlimmsten Falle wird die Ukraine entweder zerschlagen oder sie verliert gänzlich ihre staatliche Souveränität.

4. Die Fehlkonstruktion der europäischen Sicherheitsordnung

Nun vertritt Ischinger die These, dass Putins Russland „eine revisionistische Macht und deshalb gefährlicher als die Sowjetunion“ sei. Denn diese „war eine Status-quo-Macht, deren Zielsetzung sich im Festhalten an den territorialen Errungenschaften des Zweiten Weltkriegs erschöpfte.“ Damit reduziert Ischinger den Status-quo-Begriff allein auf das Territorialitätsprinzip, das zurzeit der Bipolarität zwar blockbildend wirkte und die Unantastbarkeit der Grenzen der beiden Blöcke konstituierte.

Es ging in Stalins Europapolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht so sehr darum, „an den territorialen Errungenschaften“ festzuhalten, sonst hätte er Ost- und Mitteleuropa ganz in die Sowjetunion integrieren können, als vielmehr um die Errichtung eines Cordon sanitaire. Davon abgesehen, blendet Ischinger aber eine ganz andere Bedeutung des Status-quo-Begriffs, nämlich dessen ideologische Komponente der Systemkonfrontation des „Kalten Krieges“, aus.

Der „Status quo“ des „Kalten Krieges“ bedeutete zugleich eine ideologische Abschottung und folgerichtig die Zementierung des ideologischen Credos im Systemwettbewerb der beiden gegeneinander konkurrierenden Blöcke, sodass jede (ideologische) Expansionsbestrebung eines Blocks in das Revier eines anderen in welcher Form auch immer von vornherein unterbunden wurde.

Man kann darum nicht ohne Weiteres eine Parallele zwischen dem „Kalten Krieg“ und der Gegenwart ziehen. Zurzeit der bipolaren Weltordnung herrschte zudem das sog. „Gleichgewicht des Schreckens“ in Europa und es fehlte eben das Expansionsprinzip als ein den sicherheitspolitischen Status quo destabilisierendes Ordnungsprinzip, wohingegen das heute bestehende Machtungleichgewicht zu Gunsten der Nato-Allianz den Nato-Expansionsdrang regelrecht anspornt.

Denn dieses Machtungleichgewicht konstituiert heute ordnungspolitisch das Nato- Expansionsprinzip, das wiederum im eklatanten Widerspruch zum territorialen und ideologischen Status-quo-Prinzip des „Kalten Krieges“ steht. Das ist der wesentliche ordnungspolitische Unterschied zu Zeiten des „Kalten Krieges“.

Als die auf Expansion ausgerichtete Ordnungsmacht treten die USA in Europa nicht so sehr als eine Status-quo- als vielmehr als eine Revisionsmacht auf. Darum verkennt Ischinger die heute von der Nato-Allianz dominierende Sicherheitsarchitektur in Europa, der eben die ordnungsbildende Macht-Dysbalance zugrunde liegt.

Und das ist der wesentliche Grund für die sicherheitspolitisch unüberwindbaren Spannungen zwischen Russland und den USA bzw. den Nato-Staaten.

Die USA sind nach der erfolgreichen Beendigung des „Kalten Krieges“ zum Hegemonen aufgestiegen und haben im Verlauf der vergangenen dreißig Jahren eine Hegemonialordnung aufgebaut, die sie für immer und ewig festschreiben wollen. Als die „Siegermacht“ des „Kalten Krieges“ haben sie ein Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip in Europa etabliert und sind nicht mehr bereit, daran irgendetwas zu ändern.

So gesehen, erweisen sie sich gleichzeitig als eine „Status-quo-Macht“, die freilich ordnungspolitisch und nicht räumlich definiert wird, und als eine Revisionsmacht, die auf Expansion hinaus ist. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Janusköpfigkeit der US-Sicherheitspolitik sprechen, was naturgemäß einen heftigen Widerspruch der aufsteigenden und immer selbstbewusster werdenden Großmacht Russland provoziert.

Russland ist nicht mehr gewillt, die USA als eine auf Expansion ausgerichtete Ordnungsmacht in Europa zu tolerieren.

Wir erleben hier nicht so sehr eine Großmächtekonfrontation zwischen einer Status-quo-Macht und einer Revisionsmacht, als vielmehr eine Konfrontation zwischen zwei Revisionsmächten auf Grundlage der unterschiedlichen sicherheitspolitischen Doktrinen, die sich unversöhnlich und kompromisslos gegenüberstehen.

Die als die „Open Door-Politik“ der Nato verklärte US-Expansionspolitik steht im schroffen Gegensatz zu Russlands Kontinentalmachtstrategie.9 Hier prallen zwei sich selbst aufhebende geo- und sicherheitspolitische Doktrinen aufeinander.

Die Nato-Politik der „offenen Tür“ ist nichts anderes als dasjenige, was Doug Bandow „eine umgekehrte Monroe-Doktrin“ (a reverse Monroe Doctrine) nennt. Sie zielt darauf, die US-Vorherrschaft bis auf die russische Grenze (vgl. „domination, the desire to impose a reverse Monroe Doctrine up to Russia’s border“)10 und – möchte man hinzufügen – auch darüber hinaus auszudehnen.

Russland beharrt demgegenüber auf eine russische „Monroe-Doktrin“, indem es sich vehement gegen die Kolonisation des ostslawischen Raumes wehrt und für das – um Carl Schmitts Terminologie zu benutzen – „Interventionsverbot raumfremder Mächte“ in diesem Raum ausspricht.

Da die Ukraine ein Teil des ostslawischen Raumes sei, in dem Russen, Ukrainer, Weißrussen und die anderen zahlreichen Völker und Völkerschaften jahrhundertelang friedlich miteinander lebten, verbietet sich von selbst jede Einmischung der raumfremden Mächte in die innerslawischen Angelegenheiten.

Kurzum: Es geht hier nicht um die Infragestellung der Unabhängigkeit der Ukraine bzw. Aggression oder Nichtaggression Russlands, sondern um die Nichtkolonisation des ostslawischen Raumes und Nichtintervention außerostslawischen Mächte.

Als Anti-Monroe-Doktrin negiert die „open door policy“ hingegen diese fundamentalen Grundprinzipien der russischen Geo- und Sicherheitspolitik und ignoriert so die vitalen russischen Sicherheitsinteressen.

Wer im Westen heute immer noch vom Sieg der Ukraine träumt – im Glauben das Rad der Geschichte doch noch wieder zurückzudrehen und zu den Irrungen und Wirrungen der 1990er-Jahre zurückzukehren -, der befindet sich auf dem geostrategischen Holzweg und versteht nicht die Zeichen der Zeit.

Die 1990er-Jahre waren eine absolute Anomalie der russischen Geschichte und sind nicht mehr reanimierbar. Ein Konflikt zwischen den beiden Doktrinen war vorprogrammiert und unausweichlich. Russland konnte diesen westlichen Affront der Nato-Expansion in der Ukraine nie zulassen und hat – wie man heute sieht – auch nicht zugelassen.

Kennans Warnung hat sich auch hier bewahrheitet. Denn die Beziehungen zwischen Russland und den USA könnte man nach dem Ende des „Kalten Krieges“ auch anderes gestalten, als die Clinton-Administration es getan hat.11

Der kurzlebige Triumphalismus der 1990-Jahre rächt sich umso mehr, als sich heute herausstellt, dass Russland mit dem Aufstieg Chinas zur geoökonomischen Supermacht und einer zunehmenden Emanzipation des sog. „Globalen Südens“ eine ganz andere und womöglich viel bessere geostrategische Alternative zum Westen bekommen hat.

Heute rächt sich auch die machtarrogante Ignoranz der transatlantischen Macht- und Funktionseliten, wovor Brzezinski immer schon gewarnt hat. In seinem berühmten, 1997 erschienenen Werk „The Grand Chessboard“ schrieb der einflussreiche US-Geostratege: „Das Schlechteste, was den USA widerfahren könnte, ist das Auftreten einer strategischen Allianz zwischen Moskau und Peking, der sich noch Iran anschließen würde.“

Und es ist genau das eingetreten, wovor Brzezinski gewarnt hat: das Entstehen der Achse Russland-China. Iran und Nordkorea kommen mittlerweile als Teil einer vertieften Partnerschaft noch hinzu und es entsteht womöglich ein gigantischer eurasisch-indopazifischer Koloss als Gegengewicht zum Westen.

Sollten sich die USA und Russland auf eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur nicht einigen können oder wollen (und es sieht danach aus), dann müssen wir auf alles gefasst sein.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022. 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Silnizki, M., „The Global Zeitenwende“. Russlandbild des Bundeskanzlers. 20. Dezember 2022,
www.ontopraxiologie.de.
4. Kennan, G. F., „A Fateful Error“, in: The New York Times, 5.2.1997, S. A23; zitiert nach Greiner, B.,
Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, 195, 171.
5. Zitiert nach Александр Крамаренко, Расширение НАТО: предистория >рокового решения<. Что делать?
25. Januar 2018.
6. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 2).
7. Zur Natur des Ukrainekonflikts siehe Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines
nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Vgl. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
9. Vgl. Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25. Juli
2022, www.ontopraxiologie.de.
10. Bandow, D., Ukraine`s Vain Search Wonder Weapons. The American Conservative, 24. August 2023.
11. Näheres dazu Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober
2023, www.ontopraxiologie.de.

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