Israel, die Ukraine und die US-Außenpolitik
Übersicht
- Im Teufelskreis der Emotionen
- Zwischen Bestrafung, Vergeltung und Idee fixe
Anmerkungen
Das physikalische Gesetz, dass Druck Gegendruck erzeugt, ist auch auf die Außenpolitik anwendbar.
- Im Teufelskreis der Emotionen
Israel steht unter Schock. Der von der Hamas in Israel durchgeführte Terrorakt, bei dem nach heutigem Stand (16. Oktober 2023) ca. 1300 Menschen umgebracht und tausende verwundert wurden, war überraschend, brutal und vor allem derart generalstabsmäßig organisiert, dass einen ehem. US-Botschafter in Israel, Martin Indyk (1995-1997 und 2000-2001) und Obamas Sondergesandter f. israelisch-palästinensische Verhandlungen (2013-2014), verleitete, Israel „ein totales Systemversagen“ (total system failure) vorzuwerfen.
Bereits am Tag des Gewaltausbruchs – dem 7. Oktober 2023 – gab Indyk Foreign Affairs ein Interview, in dem er zu erklären versuchte, „warum die Hamas angriff und Israel überrascht wurde“ (Why Hamas Attacked—and Why Israel Was Taken by Surprise).
„Die Israelis sind daran gewöhnt“ – sagte Indyk im Interview -, „durch ihre ausgeklügelten Spionagemethoden genau zu wissen, was die Palästinenser im Detail tun. … Sie waren zuversichtlich, dass die Hamas von einem Großangriff abgeschreckt werden würde. Sie würden es nicht wagen, weil sie zerschlagen würden, weil die Palästinenser sich gegen die Hamas wenden würden, weil sie einen weiteren Krieg angezettelt hätte. Und die Israelis glaubten, dass sich die Hamas jetzt in einem anderen Modus befinde: Sie konzentriere sich auf einen langfristigen Waffenstillstand, in dem jede Seite von einem >Leben und Leben lassen<-Arrangement profitiere.“
Und jetzt dieser brutale Terrorakt! Das Neue an diesem Gewaltexzess war, „dass der Hamas eine nahezu völlige Überraschung gelang (ähnlich wie Ägypten und Syrien vor 50 Jahren im arabisch-israelischen Krieg 1973) und unerwartete Kampffähigkeiten unter Beweis stellte“, wunderte sich Stephen M. Walt (Prof. f. intern. Beziehungen an der Harvard University) in seinem Artikel „Israel Could Win This Gaza Battle and Lose the War (Israel könnte diese Gaza-Schlacht gewinnen und den Krieg verlieren) für Foreign Policy vom 9. Oktober 2023.
„Es war Hybris“ – urteilte auch Indyk nüchtern -, die die Israelis wie vor genau 50 Jahren, als es zum Überraschungsangriff der Araber auf Israel kam und dieser Angriff den Jom-Kippur-Krieg auslöste, glauben ließ, sie seien „unschlagbar“. „Sie seien die Supermacht im Nahen Osten (they were the superpower in the Middle East); sie müssten sich nicht mehr um ägyptische und syrische Belange kümmern, weil sie so mächtig seien. Dieselbe Hybris hat sich in den letzten Jahren wieder manifestiert (That same hubris has manifested itself again in recent years).“
„Die Supermacht im Nahen Osten“ (the superpower in the Middle East)! Dieser Übermut und Hochmut wurden heute genau wie 1973 entzaubert. „Und so stehen die Menschen heute unter Schock. Wie am 9/11 gibt es das bedrückende Gefühl: Wie ist es möglich, dass eine bunt zusammengewürfelte Bande von Terroristen so etwas durchziehen kann? Wie ist es möglich, dass sie die mächtigen israelischen Geheimdienste und die mächtigen israelischen Verteidigungskräfte schlagen können?“
Der Glaube an die eigene Unverwundbarkeit, Unschlagbarkeit und Unbesiegbarkeit ist dem Staat Israel zum Verhängnis geworden. Dieser Übermut und Hochmut sind auch eine Warnung an uns die EU-Europäer mehr Demut walten zu lassen, um im Ukrainekonflikt im Glauben, alles machen zu dürfen, weil das Völkerrecht vermeintlich auf unserer Seite ist, nicht nur der Logik des Krieges zu folgen, sondern einer Friedensstrategie auch eine Chance zu geben und nicht weiter zu eskalieren.
Der israelisch-palästinensisch-arabische Konflikt ist freilich von einer ganz anderen Qualität und Natur als der russisch-ukrainische Krieg. Im ersten Falle prallen der religiöse Hass und die zivilisatorischen Ressentiments und Vorurteile aufeinander, die von Rachegelüsten, Ohnmachtsgefühlen und immer wieder Vergeltungszwang bewegt und begleitet werden. Millionen und Abermillionen Araber und Muslime auf der ganzen Welt – die sog. „arabische Straße“ – lassen sich gegen Israel als ein „Teufelswerk“ des Westens religiös und zivilisatorisch mobilisieren. Dieser Konflikt ist darum ein religiös-zivilisatorischer Weltkonflikt mit explosiver Sprengkraft.
Der andere russisch-ukrainischer Krieg ist von einer ganz anderen Qualität und Bedeutung. Er ist zum einen ein innerostslawischer und darum ein regional begrenzter Konflikt und hat alle Merkmale eines Bürgerkrieges. Zum anderen ist er ein geopolitisierter Konflikt zwischen Russland und dem Westen bzw. den USA. Den USA geht es in diesem Konflikt um die Aufrechterhaltung ihrer Stellung als Ordnungsmacht in Europa und die Fortsetzung der Nato-Expansionspolitik, wohingegen Russland nach einer geo- und sicherheitspolitischen Neuordnung Europas trachtet, bei der die US-Machtstellung in Europa nivelliert und die Nato-Osterweiterung gestoppt werden sollte.
Auch dieser Krieg könnte in einen Weltkonflikt ausarten, der freilich keiner religiös-zivilisatorischen, wohl aber einer geo- und machtpolitischen Natur ist.
Welcher von beiden Weltkonflikten explosiver ist, ist momentan schwer auszumachen, besitzen die beiden doch gleichermaßen die Fähigkeit, die ganze Welt in die Luft zu sprengen. Zu viele Akteure sind darin involviert und keiner von ihnen scheint bereit zu sein, irgendeinen Kompromiss eingehen zu wollen.
Dem steht freilich nicht nur Hybris, sondern auch eine Geringschätzung und Unterschätzung des geopolitischen Rivalen im Wege. Wie sehr man Russland unterschätzt, zeigt eine Passage aus einer Studie von Michael Kimmage und Hanna Notte, die gerade in Foreign Affairs am 12. Oktober 2023 erschienen ist und unter der Überschrift „The Age of Great-Power Distraction“ veröffentlicht wurde: „Russland hat sich in der Ukraine mit einem Krieg belastet, der nicht zu gewinnen ist. Seit dem Frühjahr 2022 hat Moskau keinen nennenswerten Teil des ukrainischen Territoriums mehr eingenommen. Im Herbst wurde Russland aus der Region Charkow und aus der Stadt Cherson vertrieben. Der Krieg hat so viel russische Arbeitskraft und Material verbraucht, dass Moskau Jahre brauchen wird, um sein Militär wieder aufzubauen. Sein Missgeschick hat den Vorhang über einen einst beeindruckenden militärischen Ruf gelüftet und das russische Militär als strategisch und taktisch mittelmäßig entlarvt. Russlands Sicherheitsapparat steht vor einer nahezu unlösbaren Aufgabe. Die Mittel und das Budget, das Moskau für seine dunklen Ambitionen in der Ukraine bereitgestellt hat, sind knapp.“
Eine solche Beurteilung der aktuellen Situation an der ukrainischen Front und die Würdigung der militärischen Fähigkeiten und Kapazitäten Russlands seitens der Nichtmilitärexperten sind sehr gefährlich, verleiten sie doch zu den Schlussfolgerungen, welche das russische konventionelle und nukleare Machtpotential unterschätzen und das US-amerikanische überschätzen.
Hochmut und Übermut sind auch hier fehl am Platz. Der in der Ukraine tobende Krieg ist ein Krieg des 21. Jahrhunderts. Dieser Krieg hat keine Vorbilder, selbst wenn man sich angewöhnt, manche Elemente der Kriegsführung mit denen des Ersten Weltkrieges zu vergleichen.
Mit ihren Interventionen und Invasionen haben die USA in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren Kriege gegen die militärisch weit unterlegenen Gegner geführt. Der sog. „Ukrainekrieg“ ist hingegen eine „direkte, auch wenn nicht unmittelbare Konfrontation zwischen der Nato und Russland“ (Dmitrij Trenin) und darum zwischen gleichstarken Gegnern. Das Einzige, was die Ukraine zur Verfügung stellt, sind die Soldaten; alles andere kommt aus dem Westen.
Unlängst hat der Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius bei der Regierungsbefragung am 24. Mai 2023 öffentlich kundgetan, was man schon längst wissen konnte. Wir sind im Ukrainekrieg massiv involviert. Ohne den Westen, die USA, die EU und auch Deutschland wäre der Ukrainekrieg morgen zu Ende. Wörtlich sagte Pistorius: „Wenn wir aufhören Waffen zu liefern, wäre das Ende der Waffenlieferungen heute das Ende der Ukraine morgen.“
Die Unterschätzung des gigantischen russischen militärisch-industriellen Potenzials ist derart seltsam, dass man sich fragen muss, ob die Verfasser der Studie die elementaren militärgeschichtlichen Kenntnisse besitzen und/oder die gegenwärtige russische Wirtschaftspolitik kennen, die sich längst auf eine Kriegswirtschaft umgestellt hat.
Russland produziert momentan mehr Munition als alle Nato-Staaten zusammen. Die russische Führung kann auf das sowjetische (zum Teil stillgelegte und jetzt reaktivierte) Erbe der Rüstungsinfrastruktur zurückgreifen. Der sowjetische Rüstungsaufwand war immer schon von einer herausragenden Bedeutung für die sowjetische Vormachtstellung in Europa, Eurasien und in der Welt. Die Rüstungsindustrie stellte eine industriell-organisatorische Spitzen- und Kernleistung in der sowjetischen Volkswirtschaft dar, von der Russland bis heute profitiert.
Neuerdings hört man freilich auch besonnene Stimmen, die davor warnen, Russland zu unterschätzen und nicht weiter zu eskalieren. „Aus Sicht des Kremls ist Deutschland“ – schreibt Moritz Koch in seinem Artikel „Was, wenn Putin doch nicht blufft?“ (Handelsblatt, 10. Oktober 2023, S. 12) -, „wie die anderen Nato-Staaten, längst Kriegspartei. Nur zieht Putin daraus keine militärischen Konsequenzen. Die entscheidende sicherheitspolitische Frage lautet, wie lange das so bleibt. … Klar ist jedenfalls, dass das Eskalationsrisiko nicht null ist.“
Aber selbst Hanna Notte warnte ja in ihrer früheren Veröffentlichung vor einer Unterschätzung Russlands. „Wenn die westlichen Regierungsrepräsentanten glauben“ – schreibt sie in ihrem Aufsatz „Russia’s Axis of the Sanctioned. Moscow Is Bringing Washington’s Enemies Together“ (Russlands Achse der Sanktionierten. Moskau bringt Washingtons Feinde zusammen) für Foreign Affairs am 6. Oktober 2023 -, „wie der US-Außenminister Antony Blinken im Juni sagte, dass der Krieg in der Ukraine >Russlands Macht, seine Interessen und seinen Einfluss stark verringert<, sollten sie noch einmal darüber nachdenken: Russland hat immer noch einen erheblichen internationalen Einfluss.“
Mehr noch: Moskau unterhalte mit den meisten seiner alten Kunden wie Indien und Vietnam langfristige Rüstungsverträge, verfüge immer noch über die permanenten Luft- und Marinestützpunkte in Syrien, die dem Land direkten Zugang zum Mittelmeer verschaffen und es ihm ermöglichen, die Handlungs- und Bewegungsfreiheit der US-Streitkräfte im Nahen Osten zu beeinträchtigen.
Auch das von Moskau kontrollierte paramilitärische Unternehmen Wagner besitze mehrere Stützpunkte in Libyen, die als eine logistische Drehscheibe für seine Aktivitäten in der Sahelzone dienen. Moskau erwäge zusätzliche Stützpunkte in Afrika zu nutzen oder zu errichten usw.
Kurzum: Russland ist nicht so schwach, kraft- und harmlos, wie man denkt. Selbst die vom Westen behauptete Isolation habe für Russland einen Vorteil, diagnostiziert Notte.
Es gebe Verteidigungskooperationen mit zahlreichen Ländern, die den USA und Europa feindlich gesinnt sind und wogegen sie nichts machen können. Von Venezuela bis Nordkorea, von China, Indien bis Myanmar, Mali, Togo und Uganda ist Russland ein wertvoller und geschätzter Partner.
Die immer stärker und intensiver werdende militärische Zusammenarbeit zwischen China, Russland, Nordkorea und Iran nimmt darüber hinaus ein Ausmaß an, das selbst eine globale Ausdehnung der Nato insbesondere in der Asien-Pazifik-Region relativiert, wenn nicht gar wirkungslos macht. Hingegen scheitern manche Versuche der Nato neue Mitglieder zu gewinnen.
Erst im Juni hat ein auf China fokussierter Ausschuss des US-Repräsentantenhauses (Select Committee on Strategic Competition between the United States and the Chinese Communist Party) dafür geworben, Indien enger an die Nato zu binden, was den indischen Außenminister Subrahmanyam Jaishankar veranlasste, den US-Vorstoß mit einer Bemerkung zurückzuweisen: Die „Nato-Schablone“ lasse sich nicht „auf Indien anwenden“. Die indischen Medien kommentierten sodann Jaishankar mit den Worten: „New Delhi sei auch weiterhin nicht bereit, sich gegen Russland in Stellung bringen zu lassen und seine Eigenständigkeit einzuschränken.“1
Die Nato-Diplomaten werden auch mit der Aussage zitiert, man könne sich eine Zusammenarbeit des westlichen Militärbündnisses etwa auch mit Südafrika oder Brasilien vorstellen.“2
Der westliche Versuch, die Nato zu globalisieren, um die eigene Weltdominanz aufrechtzuerhalten bzw. zu perpetuieren, geschieht nicht zuletzt vor dem Hintergrund des immer selbstbewusster auftretenden Nichtwestes, der sich anschickt, die Weltorganisationen zu gründen bzw. die bestehenden ohne Teilnahme des Westens auszubauen, was aus westlicher Sicht an sich schon ein Affront ist.
Diese Entwicklung gilt nicht nur für die BRICS, die auf ihrem Gipfel in Johannesburg (August 2023) beschlossen haben, sechs neue Mitglieder zum 1. Januar 2024 aufzunehmen. Es gilt auch für die Shanghai Cooperation Organisation (SCO), ein um Moskau und Beijing zentriertes Sicherheitsbündnis, das von ursprünglich sechs auf inzwischen neun Mitglieder angewachsen ist, u. a. Indien, Pakistan und Iran umfasst und stets neue Interessenten gewinnt, darunter die sog. SCO-„Dialogpartner“ wie das Nato-Mitglied Türkei, aber auch Ägypten und die Staaten der Arabischen Halbinsel (Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate und Qatar).
Diese geradezu kometenhafte Erstarkung des Nichtwestens, in der Moskau eine nicht gerade unbedeutende Rolle spielt, konterkariert alle Bemühungen des Westens, Russland zu isolieren, und zeigt, wie rasant der Westen an Dominanz und Einfluss im globalen Raum verliert und wie wenig die USA heute seine geostrategischen Ziele zu realisieren vermögen.
Die US-Drohgebärden und Selbstprahlerei sind darum genauso deplatziert, wie die westliche bzw. US-Selbstüberschätzung und eine gefährliche Unterschätzung des geopolitischen Rivalen Russland. Wie die brutalen Ereignisse in Israel zeigen, folgt der Hybris das Entsetzen, dann das Gefühl der Rache, dann Vergeltung, dann Ernüchterung und schließlich Ratlosigkeit auf dem Fuß.
In diesem Teufelskreis der Emotionen befinden wir uns gerade. Es sind schlechte Zeiten, die auf uns zukommen.
2. Zwischen Bestrafung, Vergeltung und Idee fixe
Die Selbstsicherheit, welche die USA und ihre Nato-Verbündeten dazu verleiteten, die schärfsten, nicht desto weniger aber wirkungslosen Sanktionen gegen Russland einzuführen, haben genau das Gegenteil bewirkt:
Zum einen solle die russische Wirtschaft laut der neuen Herbstprognose des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) trotz aller Sanktionen um 2,3 Prozent wachsen. „Der enorme Anstieg der Militärausgaben, befeuert einen Rüstungsboom, der zusammen mit stark steigenden Reallöhnen aufgrund des akuten Arbeitskräftemangels die Konjunktur nach oben treibt“, schreibt Vasily Astrov, Russlandexperte des Instituts.3
„Zwar hätten einige Branchen unter den westlichen Sanktionen gelitten, die russische Rüstungsproduktion sei aber“ – entrüstet sich Astrov – „bisher >nicht im erhofften Ausmaß< betroffen“ (ebd.).
Zum anderen hatte der westliche Sanktionskrieg gegen Russland einen Nebeneffekt – eine zunehmende Etablierung der Gegenmächte, die immer mächtiger und bedrohlicher für die Existenz der US-Welthegemonie werden. Washington steht momentan vor den vier nie dagewesenen und gleichzeitig militärpolitisch und militärtechnisch bestehenden Herausforderungen: (a) der gerade zum wiederholten Mal ausgebrochene Krieg zwischen dem Staat Israel und der Hamas, der den ganzen Nahen Osten in Brand setzen könnte; (b) der bereits seit zwanzig Monaten tobende Krieg in der Ukraine, der potentiell ganz Europa erfassen kann, sollte die Eskalation an Fahrt gewinnen; (c) ein auf der koreanischen Halbinsel schwelender Konflikt, der jederzeit explodieren könnte und schließlich (d) eine Konfrontation zwischen den USA und China in der Indopazifik-Region.
Die USA sind heute gar nicht in der Lage allein schon mangels ihrer militärindustriellen Kapazitäten gleichzeitig zahlreiche Krisen bewältigen und Kriege auf den weit voneinander ausgedehnten Kriegsschauplätzen führen zu können.
Die geopolitischen Spannungen sind zudem allerorts und allerseits unübersichtlich geworden und hängen nicht nur von der Konfrontation und Destruktion der Großmächte ab, sondern auch von den immer selbstbewusster werdenden Klein- und Mittelmächten.
Wir leben in einer Übergangszeit, in der einerseits die US-Hegemonialmacht als Ordnungsmacht weder führen noch dominieren oder sich durchsetzen kann und andererseits eine im Entstehen begriffene neue Weltordnung (noch) nicht besteht und darum keine Wirkungsmacht entfalten kann.
Das erklärt auch zahlreiche Krisen und Kriege in der Welt sowie eine eskalierende Rivalität der Großmächte. Umso erstaunlich ist eine Äußerung, die von Thomas Graham – einem Hardliner des Council on Foreign Relations stammt und so nicht zu erwarten war: „Die USA müssen einen Weg finden, mit Russland zu leben“ (the United States must find a way to live with Russia).
Wie begründet er diese erstaunliche Äußerung vor dem Hintergrund der schärfsten und unerbittlichen Konfrontation zwischen Russland und den USA seit dem Ende des Ost-West-Konflikts? Ungeachtet der zahlreichen „russischen Transgressionen“ (Russian transgressions) und Washingtons Neigung, „Moskaus Verhalten (stets) als böswillige und dauerhafte Bedrohung der US-Interessen zu betrachten“ (to see Moscow’s conduct as a malevolent and enduring threat to U.S. interests) empfiehlt Graham „ein Kernelement der russischen Identität“ (one core element of Russia’s identity) anzuerkennen, „die die USA für ihre Zwecke nutzen könnten“.
„Russland“ verstehe sich – sinniert Graham weiter – als „eine Großmacht, die eine unabhängige Außenpolitik betreibt, um ihre nationalen Interessen zu verfolgen“ (Russia’s sense of itself as a great power that conducts an independent foreign policy in pursuit of its national interests) und begreife sich „als ein Land mit strategischer Autonomie“ (as a country with strategic autonomy), das „die Freiheit hat, Koalitionen zu bilden, um seine Interessen zu verteidigen“ (that it has the freedom to assemble coalitions to defend and and advance its interests).
Dass „ein Kernelement der russischen Identität“ eine „strategischer Autonomie“ sein sollte, ist ein Missverständnis. Offenbar verwechselt Graham eine von Macron in der EU ausgelöste und letztendlich im Sand verlaufene Diskussion über die „strategische Autonomie“ Europas gegenüber seinem US-Patron mit dem Selbstverständnis Russlands als einer „Großmacht“ (a great power).
Russland definiert seine Weltstellung im Gegensatz zu der EU nicht durch sein Verhältnis zu den USA oder China oder zu wem auch immer. Das russische Rumpfimperium, das nach dem Ende des Ost-West-Konflikts seine Kontrolle selbst im unmittelbaren geopolitischen Umfeld verloren hat, steht allein wie ein Torso da.
Die Russländische Föderation wurde ungeachtet dessen, dass viele in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre erwartet haben, nicht Teil des politischen Europas und in Asien hielt man Russland sowieso als nicht dazu gehörig. Russland sei nach Meinung von Dmitrij Trenin (ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center) weder Osten noch Westen, weder Europa noch Asien. Es reiht sich vielmehr in keine der geopolitischen Makrokonstruktionen ein. Russland sei – geopolitisch betrachtet – eine selbständige, aber einsame Entität im globalen Raum.4
Die Zurückdrängung Russlands gegen Ende des 20. Jahrhunderts aus Mittelosteuropa ging Hand in Hand mit der Nato-Expansion unter Führung des US-Hegemonen, die in gewissem Sinne eine Art Revanche für die frühere russische Expansion auf Kosten der europäischen Großmächte gewesen sei. Der Westen habe nicht nur das infolge des Zweiten Weltkrieges verlorengegangene Ostdeutschland und Osteuropa zurückgewonnen, sondern seinen Einfluss auch auf das Baltikum, die Ukraine, Georgien und Moldau erweitert, sodass der Ukrainekonflikt eine direkte Folge eben dieser westlichen Expansion gen Osten sei.
Es ist darum völlig abwegig Russland – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – auf eine Stufe mit der EU, die ja ein integrierter Bestanteil der Nato-Allianz ist, zu stellen und damit das Unvergleichbare zu vergleichen. Aus diesem grundsätzlichen Missverständnis Grahams resultiert auch seine daraufhin folgende Analyse Russlands als „Großmacht“.
Denn die sog. „strategische Autonomie“ ist kein „Kernelement der russischen Identität“, die die USA angeblich „für ihre Zwecke nutzen könnten“. Die russische Führung denkt gar nicht in derartigen Kategorien. Folgt man der neuen russischen außenpolitischen Doktrin vom 31. März 2023, so begreift Russland sich als „eine durch den Staat verkörperte Zivilisation“ (государствo-цивилизация), das sich seiner zivilisatorischen Bedeutsamkeit und der Weltstellung voll bewusst sei.
Wenn man nun Grahams „strategischer Autonomie“-These nachgeht, so wird schnell klar, was er damit bezweckt: eine Rückkehr und Wiederherstellung der US-Weltdominanz. Denn der US-Hegemon hat ein Problem: Er schrumpft allmählich und unaufhaltsam auf ein „Normalmaß“. Die USA werden spätestens mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine wie zurzeit des „Kalten Krieges“ geopolitisch auf ihre eigentliche Domain – den (um Mittelosteuropa erweiterten) Westen – zurückgedrängt.
Darum lässt sich Graham zur folgenden Äußerung verleiten: „Durch die Preisgabe der Bemühungen, Russland zu einem internationalen Paria zu machen und die Wiederherstellung der normalen diplomatischen Beziehungen könnte Washington Moskau dazu benutzen, die regionalen Machtgleichgewichte in ganz Eurasien zu schaffen, die den Interessen der USA zugutekommen. Die USA sollten mit ihren Verbündeten Russland in der Ukraine aufhalten und zugleich Schritte unternehmen, Russlands strategische Autonomie zu ermöglichen, um nicht zuletzt Moskaus wachsende Abhängigkeit von Peking zu verringern.“
Geschweige davon, dass Russland sich von den USA weder „benutzen“ noch vereinnahmen lässt, ist das ganze Gerede von „strategischer Autonomie“ Russlands nicht nur eine Fata Morgana, sondern weist auch auf Grahams eigentliche Intention seiner Idee fixe, nämlich Russland geostrategisch gegen China in Stellung zu bringen. Damit möchte sich Graham offenbar als ein „genialer“ Geostratege – sozusagen als ein zweiter Kissinger – profilieren, um Russland gegen China und nicht – wie in den 1970er-Jahren – China gegen Russland auszuspielen, damit die USA eine ihnen „gebührende“ Weltmachtstellung wieder zurückgewinnen könnten.
Diese in der letzten Zeit populär gewordene Lieblingsbeschäftigung des außenpolitischen US-Establishments, wie man nämlich Russland und China zum Wohle und Nutzen der USA gegeneinander ausspielt, ist derart realitätsfern, dass man sich wundert, wie man auf die Idee überhaupt kommen konnte. Die 2020er-Jahre sind zudem mit den 1970er-Jahren nicht vergleichbar.
Wir leben nicht mehr in einer bipolaren Weltordnung und Russland ist schon lange weder ein kommunistisches Land noch eine Supermacht, zumal die Beziehungen zwischen Russland und China vor dem Hintergrund der tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohung durch die USA für die beiden von derart existentieller Bedeutung sind, dass sie nach ihrer eigenen Selbstbeschreibung „mehr als eine Allianz“ ausmachen.
Moskau gehe es nicht darum – wie Graham beteuert – um die Wiedererlangung seiner verlorenen „strategischen Autonomie“ nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion (vgl. After the collapse of the Soviet Union, in 1991, Moscow struggled to regain its strategic autonomy), sondern um die Positionierung Russlands als ein souveräner Akteur der Weltpolitik und als eine eigenartige Zivilisation, die neben anderen Zivilisationen gleichberechtigt und gleichwertig bestehen kann und will.
Russland begreift sich als eine geopolitisch souveräne und zivilisatorische Entität, die keinem etwas diktieren will, aber auch sich nichts diktieren lässt. Das ist etwas anderes als bloß eine „strategische Autonomie“ von US-Gnaden. Graham verwechselt Russland mit Europa.
Die US-Außenpolitik erfordert darum ein neues Denken, sprich eine andere US-Russlandpolitik, die Russlands vitale geo- und sicherheitspolitische Interessen respektiert. Solange das aber nicht passiert, bleiben die russisch-amerikanischen Beziehungen auf der Strecke und die USA können auch eines Tages ihr eigenes Waterloo erleben.
Anmerkungen
1. Fareha Naaz: ‘India capable of countering Chinese aggression’, refuses to join NATO, says S Jaishankar. livemint.com 09.06.2023; Shivan Chanana: India, a NATO state? Whose gain, whose loss? wionews.com 05.06.2023. Zitiert nach deutsche-aussenpolitik.com. 12. Oktober 2023.
2. Zitiert nach deutsche-aussenpolitik.com. 12. Oktober 2023.
3. Zitiert nach Benninghoff, M., Deutschland zieht Osteuropa runter, in: Handelsblatt, 12. Oktober 2023, 5.
4. Vgl. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина
паблишер. Москва 2021, 40 f.