Verlag OntoPrax Berlin

„The Black Box of Moscow“

Stellungnahme zu Sam Greenes gleichnamigem Artikel

Übersicht

  1. Zwischen Schein und Sein der Russlandanalyse
  2. Abnutzungsstrategie versus Angriffsstrategie?
  3. Zwischen Kritik und Ratlosigkeit

Anmerkungen

„Selbst der günstigste Ausgang des Krieges wird niemals zur Zersetzung der Hauptstreitmacht Russlands führen.“
(Otto von Bismarck)1

  1. Zwischen Schein und Sein der Russlandanalyse

Sam Greene (Prof. f. russ. Politik am King’s College London und Direktor des Democratic Resilience Programm am Center for European Policy Analysis) hat das alte Thema erneut in Erinnerung gerufen -das Problem einer adäquaten Beurteilung des „russischen Regimes“ (the Russian regime). Das Thema ist so alt wie die längst vergessene Sowjetologie. Bereits diese tappte immer wieder im Dunkeln, wenn es um eine adäquate Erkenntnis der sowjetischen Realität ging.

Die sog. Kremlologie artete schon zu „glorreichen“ Sowjetzeiten oft in Astrologie aus und die Kreml-Astrologen konnten bestenfalls nur noch Mutmaßungen darüber anstellen, was hinter den Kreml-Mauern geschieht, statt realitätsnahe Erkenntnisse über die sowjetische Wirklichkeit zu gewinnen. So hatten sie einen möglichen Untergang des Sowjetimperiums nie auf ihrem Schirm, obschon manche Zeitgenossen ihn vorausgesagt haben.

Inmitten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“ veröffentlichte George F. Kennan einen Aufsatz „America and Russian Future“ in Foreign Affairs 1951, in dem er eine aufschlussreiche und zukunftweisende Voraussage machte, dass nämlich die kommunistische Periode der russischen Geschichte „ein sowjetisches Zwischenspiel“ bleiben und „die Sowjetmacht“ sich eines Tages totlaufen werde.2

Der sowjetische Dissident Andrej Amalrik (1938-1980) war ebenfalls so ein verkannter Prophet. 1969 schrieb er einen im Westen veröffentlichten Essay unter dem Titel „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 überleben?“. „Ich zweifle nicht daran“, schreibt Amalrik, „dass dieses riesige … ostslawische Imperium … in das letzte Jahrzehnt seiner Existenz eingetreten ist.“3 Er hat sich nur um wenige Jahre geirrt.

Und heute? Wie adäquat beurteilen wir heute die russische Innen- und Außenpolitik? Verstehen wir überhaupt, was im heutigen Russland vor sich geht? Genau mit diesem wiederentdeckten Thema setzt sich Sam Greene vor dem Hintergrund des Ukrainekonflikts in seinem Artikel „The Black Box of Moscow“ auseinander.

Der in Foreign Affairs am 22. September 2023 erschienene Artikel trägt den bezeichnenden Untertitel: „The West Struggles to Understand Russia – but Can Still Help Ukraine Win“ (Der Westen hat die Mühe, Russland zu verstehen – kann der Ukraine aber dennoch zum Sieg verhelfen).

Worin besteht nun die „Mühe“, „Russland zu verstehen“? Greene unterscheidet zwei Typen von Russlandexperten: Die einen sehen einen baldigen Zerfall des „russischen Regimes“ (the Russian regime), da Putins Macht erodiere. Dafür spreche Prigožins Aufstand und „die Tatsache, dass sich Prigožin wenige Tage nach seinem Marsch auf Moskau mit Putin traf“, was angeblich darauf hindeute, dass Putin nicht mehr Herr der Lage sei.

Die anderen weisen hingegen darauf hin, dass Prigožins Aufstand nichts weiter als eine Aktion „unter falscher Flagge“ wäre, „die von Putin entworfen wurde, um die illoyalen Offiziere auszuräuchern. Nachdem diese Mission erfüllt war, so die Geschichte, wurde Prigožin entweder getötet, um Putins Spuren zu verwischen, oder er wurde womöglich gar nicht getötet.“

Diesen beiden Pseudoanalysen erteilt Greene zu Recht eine klare Absage. Sie verstünden seiner Meinung nach „sehr wenig von der heutigen russischen Politik“ (that they understand very little about Russian politics today).

„Die Wahrheit“ sei – fügt Greene hinzu -, dass ungeachtet von einer Flut der geheimdienstlichen Informationen „das westliche analytische Establishment“ (the Western analytical establishment) nicht in der Lage wäre, „Prigožins Motive, auf Moskau zu marschieren, zu würdigen“.

Nun ja, wenn die Kenntnisse der russischen Innenpolitik allein von einer „richtigen“ Würdigung der geheimdienstlichen Informationen abhängig sind, dann ist es in der Tat mit der Russlandanalyse und Russlandforschung sehr schlecht bestellt ist.

„Die Verfügbarkeit solcher Informationen“ führe nach Greenes Meinung nicht „zu verlässlichen Analysen, was wiederum die Kriegspolitik untergräbt“ (vgl. the availability of such information is not systematically leading to reliable analysis, which in turn undermines wartime policymaking). Man dürfe darum weder „einen Sinneswandel im Kreml“ noch „einen Führungswechsel“ erwarten. Vielmehr sollte man sich stattdessen „auf die Hilfe für die Ukraine konzentrieren“, empfiehlt er.

Was soll man nun von einer solchen Beurteilung der „russischen Politik“ halten? Und wie erklärt Greene diese verfehlte Russlandanalyse? Mit einer methodischen Vorgehensweise, die darin besteht, Russlands Politik mittels „statistischer Modellierung“ (statistical modeling) deuten zu wollen.

„Das Modell von der russischen Politik, mit dem die meisten westlichen Analysten vor dem Krieg arbeiteten (The model of Russian politics that most Western analysts worked before the war), ging davon aus, dass die Sanktionierung des von den russischen Eliten in den Westen transformierten Vermögens die politischen Koordinaten in Russland verändern würde.

Dieses „Modell“ rechtfertigt Greene mit Verweis auf eine namentlich nicht genannte „akademische Forschung“ (academic research), die eine „russische Kleptokratie“ (Russian kleptocracy) bzw. „eine Clique von Menschen“ postuliere, welche heute Russland regieren und in erster Linie daran interessiert seien, dem russischen Staat und der russischen Wirtschaft illegal Reichtum zu entziehen.

Diese Forschung impliziere, dass Putin das übergeordnete Ziel habe, die Kleptokraten reich zu machen und die Bevölkerung zum Schweigen zu bringen. Zu Ende gedacht, suggeriert dieses „Model“, dass Putin – sollten die „russischen Kleptokraten“ auf die westlichen Sanktionen „explosiv“ reagieren – vom Sockel gestürzt werden könnte.

Das vorgestellte, geradezu verschwörungstheoretisch anmutende „Modell“ zeigt dreierlei:

  • wie wenig die ungenannten „Russlandanalysten“ die politische bzw. Herrschaftstradition Russlands begreifen,
  • wie sehr sie Opfer ihrer eigenen Propaganda geworden sind und
  • wie weit sie vom Verständnis der russischen außen- und geopolitischen Intentionen entfernt sind.

Zwar war laut Greene das Russlandbild als „Kleptokratie“ bis jetzt „eine vernünftige Beschreibung Russlands“ (a reasonable description of Russia), seit dem 24. Februar 2022 sei es aber zusammengebrochen (it has broken down since February 2022). Mit anderen Worten, Greenes Kritik richtet sich im Grunde auch gegen sich selbst – gegen sein eigenes „Modell“ von Russland als „Kleptokratie“ und jetzt stellt er mit Entsetzen fest: Das „Modell“ erweist sich in Zeiten des Krieges als unbrauchbar und untauglich.

Denn ungeachtet des noch nie dagewesenen Sanktionskrieges gegen Russland spielen die russischen Eliten nicht mit – wie das „Model“ eigentlich vorgesehen hat – und die „gewöhnlichen russischen Bürger“ (ordinary Russian citizens) lassen sich von den Bildern mit „Gräueltaten und Leichensäcken“, „die aus der Ukraine nach Hause kommen“, nicht sonderlich beeindrucken.

Auch alle westlichen Versuche mit Millionen von Dollars, die „Proteste in Regionen mit ethnischen Minderheiten zu Beginn des Krieges“ zu fördern sowie die „Selbstbestimmung und Dekolonisierung zu finanzieren, um interne Spaltungen zu schüren“, seien „inzwischen im Sande verlaufen“, stellt Greene ernüchternd fest.

Diese verfehlte Russlandwahrnehmung verdeutliche – merkt Greene auch selbstkritisch an – „den Unterschied zwischen Information und Verständnis“ (the difference between information and understanding).

Hier zeigt sich in der Tat die ganze Misere der angelsächsischen Russlandforschung. Sie versucht stets die fremde Realität mit dem Maßstab der eigenen zu messen und kommt nicht umhin, resigniert festzustellen, dass sie nicht weiterkommt. Verkrampft sucht sie daraufhin irgendwelche Modelle zu erfinden, quantitative Größen zu eruieren, „statistische Modellierung“ zu fabrizieren, als wäre die politische Realität eine quantitativ messbare Größe, um die imaginäre Irrealität in ein theoretisch realitätsfremdes Korsett zu zwängen.

Nur eines fehlt bei einer solchen „statistischen Modellierung“: die immanente Analyse der russischen Außen-, Geo- und Sicherheitspolitik der Gegenwart. Diese setzt freilich geisteswissenschaftliche, verfassungshistorische und/oder außen- und geopolitische Kenntnisse Russlands genauso voraus, wie die mentalen und kulturellen Eigenarten des russischen Geistes, sprich dessen eigenartiges durch die russische Orthodoxie geprägtes „Grundgefühl des Lebens“.4

„Was will der Soldat, der in den Krieg geht?“ fragt Dostojewski. „Er will siegen und er setzt dafür sein Leben ein“, antwortet der Westler. „Er will sein Leben opfern“, antwortet der Russe. Das Leiden gewinne – so Max Schelers Kommentar dazu – „für die orthodoxe Denkweise einen heilsschaffenden Charakter, es führt irgendwie von selbst in den Himmel.“5

Dieses eigenartige Entsagungsethos der spezifisch orthodoxen Geisteskultur lässt sich weder mit mathematischen Modellen fassen noch mit „statistischen Modellierungen“ begreifen. Steht beispielsweise die Askese im Westen vor allem im Dienst der Gottes- und Nächstenliebe, so ist es hier umgekehrt die Nächstenliebe nur eines der Mittel, von sich selbst loszusagen; „sie ist wesentlich Selbstflucht, oft Selbsthass“6.

Und so könnte ein solcher Entsagungskünstler mit Euripides fragen:

„Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist,

Das Sterben aber Leben?“

Ohne die fundierten Kenntnisse der russischen Kultur kann es eine realitätsnahe Würdigung der russischen Gegenwart gar nicht geben.

2. Abnutzungsstrategie versus Angriffsstrategie?

Nun geht Greene in seinen weiteren Ausführungen von der These aus, dass die westliche Ukrainepolitik (einschließlich die Militärhilfe an Kiew, die Sanktionspolitik gegen Russland und „selbst die Definition des ukrainischen Sieges“) davon abhänge, was in Moskau entschieden bzw. nicht entschieden sein könnte. Das führe aber dazu, dass die Biden-Administration zwar im Laufe der Zeit das meiste von dem, was Kiew forderte, geliefert habe, aber in einem viel langsameren Tempo als erforderlich wäre, um der Ukraine bei ihrer Gegenoffensive im Sommer 2023 zu helfen.

Und er mutmaßt weiter: Der Grund für dieses langsame Tempo sei „die Sorge vor einer Eskalation“ gewesen, die auf der Vermutung basierte, „dass die russische Entscheidung, einen nuklearen Sprengsatz einzusetzen, aus Panik erfolgen würde. Diese Theorie beruht auf einer jahrzehntelangen Forschung und Analyse der russischen Nukleardoktrin, auch wenn gar nicht klar ist, ob diese Forschung jetzt zutrifft, falls sie überhaupt jemals zutraf.“

„Der Chor der außenpolitischen Denker in Moskau“ (The chorus of foreign policy thinkers in Moscow)“, beteuert Greene, „die den Einsatz von Atomwaffen in der Ukraine befürworten, scheint sich von keinen derartigen Ideen leiten zu lassen, von denen die westlichen Analysten glauben, dass sie die russische Außen- und Sicherheitspolitik bestimmen.“

In Wahrheit scheinen sich „ihre Argumente auf eine andere angebliche russische Doktrin zu stützen, nämlich die Idee der >Eskalation zur Deeskalation< (escalating to de-escalate), um den Gegner mit einem nuklearen oder einem anderen ähnlich katastrophalen Angriff zu schocken.“

Sieht man von der absurden Unterstellung ab, dass Russland angeblich die Ukraine mit Nuklearwaffen angreifen würde, so stellt sich in der Tat erneut die Frage sowohl nach einer zunehmenden Eskalation des Ukrainekonflikts als auch nach den Konsequenzen, die sich aus einer solchen Eskalation ergeben könnten.

Das Thema ist so alt wie die nie enden wollende Konfrontation zwischen Russland und dem Westen und geht weit in die Zeit des „Kalten Krieges“ zurück. Es war Robert S. McNamara, der John F. Kennedy die Kriegsführungsmethode einer „kontrollierten Eskalation“ empfahl. Genau diese „kontrollierte Eskalation“ kritisiert Greene, wenn er ein viel zu langsames Tempo der Waffenlieferung an die Ukraine aus Furcht vor einer nuklearen Zuspitzung des Ukrainekonflikts bemängelt.

Im Vietnamkrieg hat sich übrigens gezeigt, was diese „kontrollierte Eskalation“ konkret bedeutete.7 Die USA schickte sich, einen Krieg zu führen, welcher allein der Erhaltung des Status quo dienen sollte. Das Pentagon dosierte den militärischen Einsatz genauso groß, wie das beschlossene Ziel erforderlich machte. „Man wollte nicht gewinnen, sondern war von vornherein auf den Kompromiss aus. Man wollte den Kommunisten nur zeigen, dass sich Amerika nichts vom Brot nehmen lässt.“

Und so schlitterte die US-Supermacht von Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, „immer tiefer in diesen Kriegssumpf hinein“, ohne dass man im Weißen Haus und im Pentagon gemerkt hat, dass McNamaras Methode einer „kontrollierten Eskalation“ der Sowjetunion die Initiative überließ. „Moskau bestimmte die Höhe des Einsatzes in diesem Krieg. Es lieferte Waffen, konterte die Schläge der amerikanischen Luftwaffe gegen Nordvietnam mit dem Aufbau des effektivsten Luftabwehrsystems, das es je in der Welt gegeben hat“ (ebd., 31).

Die Eskalation schaukelte sich immer weiter auf und zwang die USA zu einer ständigen Steigerung ihres militärischen und finanziellen Kriegseinsatzes. „Sowjetische Luftabwehrraketen SAM 2 zwangen die amerikanischen Jagdbomber-Verbände in einem ungeheuer aufwendigen und kräfteraubenden elektronischen Krieg, den am Boden sowjetische Spezialisten zu einem wahren Katz- und Mausspiel entwickelten. … Die Verluste stiegen und machten sich im amerikanischen Wehrhaushalt in Milliardensummen für rasch ansteigende Ersatzbeschaffungen bemerkbar“ (ebd.).

Die Lehre aus der Geschichte für den Ukrainekonflikt liegt auf der Hand. Setzen die USA heute mangels anderer Alternativen und aus Angst vor einer nuklearen Zuspitzung des Konflikts erneut auf eine dossierte, sprich „kontrollierte Eskalation“, um Russland selbstredend eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, so kann sie genau das Gegenteil bewirken und Russland statt einer „strategischen Niederlage“ eine strategische Initiative überlassen, die zu einem erneuten „Katz- und Mausspiel“ führen kann und womöglich bereits schon geführt hat.

Russland setzt momentan offenbar auf eine Hinhaltetaktik und lässt die Gegenseite über die eigene militärische Vorgehensweise im Unklaren, ob es nämlich eine Abnutzungs- oder Angriffsstrategie verfolgt. Da Russland mehrere strategische Optionen und eine absolute Luftüberlegenheit über die Ukraine hat, zugleich aber im beschleunigten Tempo massiv die eigene Kriegswirtschaft ankurbelt, kann es sich leisten, im Zweifel auf Zeit zu spielen, um nicht zuletzt das eigene Militärpersonal zu schönen und der Gegenseite so viel wie möglich Schaden zuzufügen bzw. einen Blutzoll zahlen zu lassen.

Schenkt man den Russen Glauben über die berichteten ungeheuren Verluste der ukrainischen Armee, dann scheint diese Zermürbungsstrategie aufzugehen. Ein Abnutzungskrieg in der Ukraine scheint voll im Gange zu sein und dessen polit-psychologische Wirkung ist kaum zu unterschätzen, sodass die US-Strategie einer „kontrollierten Eskalation“ so oder so nicht aufgehen kann.

Wird sie aus welchen Gründen auch immer enthemmt, kann sie unkontrollierbar werden; bleibt sie hingegen in ihrer Entfaltungsmöglichkeit gehemmt, können die geopolitischen Folgen derart dramatisch sein, dass man im Nachhinein bedauern würde, den Krieg provoziert bzw. mitverschuldet zu haben.8 Wie zu Zeiten des Vietnamkriegs würde man dann fragen: „Was ist Amerika, wenn man auf Amerika nicht stolz sein kann?“ (ebd., 34).

Washington ist heute im Begriff, erneut das Opfer seiner „kontrollierten Eskalation“ zu werden. Zwar greift es nicht unmittelbar mit den eigenen Truppen in das Kriegsgeschehen ein und hält sich mit eigenem direktem Engagement zurück, was die Kontrollierbarkeit der Eskalation erst überhaupt präjudiziert. Umso mehr engagiert es sich aber mit exzessiven Waffenlieferungen und der Finanzierung des Krieges, was die Kontrollierbarkeit unkontrollierbar machen und das gesetzte Ziel in sein Gegenteil umkehren könnte. Diese „Coincidentia oppositorum“-Strategie ist dasjenige, was Greene verleitete, „keine klare Abschreckungsstrategie“ (no clear deterrence) zu diagnostizieren.

Die Biden-Administration zögert aus Furcht vor einer nuklearen Eskalation an einem ihr letztendlich nur als Nebenschauplatz der Welt- und Geopolitik erscheinenden Ort, eskaliert aber zur gleichen Zeit umso mehr auch aus Furcht vor dem Scheitern eben dieser „kontrollierten Eskalation“.

Diese inkonsistente US-Strategie kann auf Dauer nicht aufgehen. Denn auf diese Weise werden die Kräfteverhältnisse an der Front stets und beharrlich zu Ungunsten der Ukraine verändert, sodass sie in eine solche ausweglose Lage geraten könnte, dass die USA selber entweder direkt und unmittelbar eingreifen oder die Ukraine ganz fallen lassen würden. Das wäre aber dann ein Eigeständnis des eigenen Versagens.

3. Zwischen Kritik und Ratlosigkeit

Nun vertritt Greene die These, dass der Westen im Ukrainekrieg „einen Moskau-zentrierten Ansatz“ (a Moscow-centric approach) verfolgt. Die US-Administration und die Washingtoner Think-Tank-Welt verbringen nämlich viel zu viel Zeit damit, „die Feinheiten der Kremlologie zu debattieren, als Strategien für einen ukrainischen Sieg zu untersuchen, was zu einer verzerrten Wahrnehmung sowohl des aktuellen Stands des Krieges als auch dessen, was ihn beenden könnte, führt“, kritisiert Greene.

„Das Problem für Washington und vor allem für die Ukraine“ sieht Greene darin, „dass Russland, das vom Westen strategisch hätte besiegt werden können, nicht dasselbe Russland ist, mit dem sich die Ukraine im Krieg befindet. Blinken und andere gehen davon aus, dass sich die russische Führung um das nationale Interesse kümmert und für die Schädigung dieses nationalen Interesses zur Rechenschaft gezogen werden könnte. Die Tatsache, dass Russland trotz seiner Verluste weiterkämpft, deutet darauf hin, dass eine andere Logik am Werk ist.“

Welches andere Russland und welche „andere Logik“ sind hier gemeint? Darauf gibt Greene keine Antwort. Wenn man sich statt mit Realität mit Virtualität beschäftigt, wundert das nicht.

Trotz aller Kritik verkündet Greene sodann „die gute Nachricht“ (the good news), dass Washington und seine Verbündeten immer noch einen beträchtlichen Einfluss haben, die Fähigkeit der Ukraine zu stärken, um auf dem Schlachtfeld Fortschritte zu erzielen.

Was der Westen dafür tun soll, ist laut Greene ganz einfach: Er solle in erster Linie alles tun, um die erlassenen Sanktionen vollumfänglich durchzusetzen, die Widerstandsfähigkeit Russlands zu schwächen und die der Ukraine zu stärken, indem er die Fortschritte des Landes bei der europäischen Integration beschleunige und Investitionen in die Infrastruktur und Technologie ankurbele, die die Ukraine benötige, um ihre Wirtschaft wieder auf die Beine zu bringen.

Dass das Land weitgehend zerstört ist und Millionen von Menschen auf der Flucht sind, spielt bei dieser Argumentation offenbar gar keine Rolle. Warum soll aber dem Westen überhaupt etwas gelingen, was bis dato nicht gelingen will?

Und hier offenbart sich Greenes ganze Ratlosigkeit. Zwar beteuert er am Ende seiner Schrift, dass „die westlichen Analysten und politischen Entscheidungsträger“ (Western analysts and policymakers) enorme Datenmengen über die Auswirkungen des Einsatzes neuer Waffensysteme auf dem Schlachtfeld und der Verteidigung des ukrainischen Luftraums gesammelt haben. Sie haben auch die handfesten Beweise dafür, dass die Maßnahmen zur Unterstützung der ukrainischen Wirtschaft und zur Schwächung der finanziellen Fähigkeit Russlands, den Krieg zu führen, wirken.

„Leider sind (aber) die Analysten selbst, den Autor eingeschlossen“ (Alas, those same analysts – this author included) – gesteht Greene selbstkritisch ein – „nach wie vor verblüfft über die Ereignisse in Russland (remain flummoxed by events within Russia itself).“

„Im Laufe der Zeit“ – tröstet er sich – werde das Problem gelöst und „die Lücke zwischen Bewusstsein und Analyse“ (the gap between awareness and analysis) geschlossen. „Bis dahin sollte sich die westliche Politik auf die Dinge konzentrieren, die die Westler verstehen, und nicht auf die Dinge, die sie nicht verstehen“ (Until it does, however, Western policy should focus on the things Westerners understand rather than the things they do not).

Greenes Selbstkritik und seine Kritik der westlichen Russlandanalyse zeigen die ganze Malaise der Russlandforschung seit dem Ende des „Kalten Krieges“. Als hätte er mit Fjodor Tjutschevs berühmtem Gedicht aus dem Jahr 1866 sagen wollen:

„Умом Россию не понять,
Аршином общим не измерить

У ней особенная стать —
В Россию можно только верить.“

(Ganz fremd ist Russland dem Verstand;

An keine Messlatte zu schrauben;

Hier herrscht ein sonderbarer Stand:

An Russland kann man einzig glauben!)

Nein, hier geht es nicht um einen „Glauben an Russland“, sondern um die elementaren Kenntnisse der russischen Außen- und Geopolitik sowie der US-Geo- und Sicherheitspolitik der vergangenen dreißig Jahre9, um Russland „mit Verstand“ begreifen zu können. Und man muss immer wieder Otto von Bismarcks Mahnung in Erinnerung rufen: „Erwarten Sie nicht, dass Sie, sobald Sie Russlands Schwäche ausnutzen, für immer Dividenden erhalten werden. … Daher lohnt es sich, entweder fair mit den Russen zu spielen oder gar nicht zu spielen.“10

Anmerkungen

1. Bismarck an Botschafter in Wien Heinrich VII. Prinz Reuß (Nr. 349 Vertraulich (geheim) Berlin 03.05.1888).
2. Näheres dazu Silnizki, M., George F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. Russlandbild im Lichte der ideologischen Konfrontation des „Kalten Krieges“. 4. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Woller, R., Der unwahrscheinliche Krieg. Stuttgart 1970, 66.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Spiritualität als leidende Rationalität, in: des., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017, 29 ff.
5. Scheler, M., Über östliches und westliches Christentum, in: des., Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre. München 21963, 99-114 (107).
6. Scheler (wie Anm. 5), 106.
7. Die nachfolgende Analyse stützt sich im Wesentlichen auf das Werk von Rodolf Woller „Der unwahrscheinliche Krieg“. Stuttgart 1970, 31ff.
8. Näheres dazu Silnizki, M., Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges? Über die Friedensverhandlungen
im März/April 2022, 29. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Siehe dazu Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts, 2. Oktober 2023, www.ontopraxiologie.de.
10. Bismarck (wie Anm. 1).

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