Verlag OntoPrax Berlin

Wer delegitimiert, dämonisiert

Zum Begriff des „Putinismus“

Überblick

  1. „Ein Imperium ohne Modernisierung“?
  2. Was ist „Putinismus“?
  3. Die Tragödie der russischen Inteligencija

Anmerkungen

„Was nicht mehr begriffen werden kann, ist nicht mehr.“
(Hegel)

  1. „Ein Imperium ohne Modernisierung“?

Andrej Kolesnikov, der zuletzt mit seinem Artikel „How Russians Learned to Stop Worrying and Love the War“ (Wie die Russen lernten, sich keine Sorgen mehr zu machen und den Krieg zu lieben) in der Zeitschrift Foreign Affairs vom 1. Februar 2023 auf sich aufmerksam machte,1 holte erneut in der gleichen Zeitschrift zum Rundumschlag gegen den sog. „Putinismus“ aus.

Kolesnikov (geb. 1966) war ein langjähriger Mitarbeiter des Carnegie Moscow Center, das nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine von der russischen Regierung am 24. Februar 2022 geschlossen wurde, und zuständig für die russische Innenpolitik. In seiner geistigen Prägung ist er ein Kind der 1990er-Jahre und steht in einer innerrussischen Opposition zu „Putins Russland“, die immer noch von den „glorreichen“ Zeiten der 1990er-Jahre träumt, aber gar keine Chance auf eine Machtübernahme hat.

Bereits in seinem Februar-Aufsatz empörte er sich über den Ukrainekrieg und bezeichnete das Jahr 2022 als Russlands schrecklichstes Jahr in seiner postsowjetischen Geschichte.

In seiner jüngsten Veröffentlichung „The End of the Russian Idea. What It Will Take to Break Putinism’s Grip“ (Das Ende der russischen Idee. Was es braucht, um den Griff des Putinismus zu brechen) in Foreign Affairs vom 22. August 2023 entwickelt er nun ein halbes Jahr später erneut empört und verbittert seine neue These vom „Putinismus“ als einem „Imperium ohne Modernisierung“ (an empire without modernization).

Zur Begründung seiner These verwendet er zahlreiche Schlagwörter, die nichts erklären, aber viel vernebeln. So spricht er vom „stalinistisch-nationalistischen Imperialismus“, der „zur De-facto-Ideologie des Putin-Regimes geworden ist“ (Stalinist nationalist imperialism has become the de facto ideology of the Putin regime), als würde diese Beschreibung irgendetwas erklären oder verständlich machen.

Putin wird sodann mit Stalin gleichgesetzt, der „in seiner Sprache der Macht und seiner Intoleranz gegenüber abweichenden Meinungen Stalin in seiner Endphase in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren“ (in his language of power and his intolerance of dissent, Putin has come to resemble Stalin in his final phase in the late 1940s and early 1950s) ähnele, womit Kolesnikov in gleichem Atemzug die Stalins Terrorherrschaft verharmlost.

Es wird zudem kolportiert, wie sehr „Putins Russland“ die Restalinisierung mit dem antimodernen Imperialismus verbunden habe (vgl. What is particularly striking about Putin’s Russia, however, is the extent to which it has combined re-Stalinization with antimodern imperialism), für einen „brutalen militarisierten Expansionismus“ (raw militarized expansionism) stehe und natürlich „seine tiefen Wurzeln im antiwestlichen Denken“ (deep roots in anti-Western thought) habe. Gibt es etwa einen „modernen Imperialismus“ als Alternative zum „antimodernen Imperialismus“?

Kurzum: Putins Russland stehe in der Tradition von Graf Sergej Uwarows Doktrin „Orthodoxie, Autokratie und Volkstum“ (православие, самодержавие, народность). „Liberalismus sei zu Putins Hauptfeind geworden.“ Im Zentrum stehe vielmehr „die russische imperiale Idee“ und „ein russischer Messianismus“. Putin versuche „ein Imperium mit nackter Gewalt wiederzubeleben“. Russland befinde sich „auf dem Weg zum Totalitarismus“ usw. usf.

Offenbar hat Kolesnikov immer noch nicht seine Traumata überwunden, die er in seinem Februar-Artikel erwähnt hat. Der Artikel spiegelte die Empörung, das Entsetzen und die Fassungslosigkeit des Autors darüber, was im Jahr 2022 geschehen ist, wider. Hier schrieb ein Empörter und kein Urteilender, ein Moralist und kein Analytiker, ein innenpolitischer Gegner von „Putin Regime“ und kein außenpolitisch denkender Beobachter.

Kolesnikov ist nach seinen eigenen Angaben ein Beschädigter des „Putinismus“. So berichtete er in seinem Februar-Artikel betroffen über seinen Großvater, der „1938 – im Jahr des Great Terror – aus politischen Gründen verhaftet wurde. Das bedeutete, dass meine Mutter im Alter von neun Jahren die Tochter eines >Volksfeindes< (>enemy of the people<) wurde. … Sie erlebte nicht mehr, dass ihr Sohn ein >ausländischer Agent< (>foreign agent<) wurde – ein Geschenk des Staates an mich am 24. Dezember 2022. Innerhalb von (nur) drei Generationen fanden sich also zwei Feinde autokratischer Regime: der Großvater als >Volksfeind< und sein Enkel als >ausländischer Agent<“, entrüstet sich Kolesnikov.

Aus einer innenpolitischen Frustration macht er eine außenpolitische Denunziation: Russland wende – meint er in seinem Februar-Artikel – „stalinistische Methoden an. Russen fliehen in Scharen aus dem Land, um nicht getötet oder zum Mörder zu werden.“ Putin baue ein neues Imperium auf, aber es laufe nicht gut usw. usf.

Das Hauptproblem der innerrussischen Opposition ist, dass sie die russische Außen- und Geopolitik aus innenpolitischen Erwägungen verdammen, ohne dabei die eigene und die westliche bzw. US-Geopolitik zu kennen. Eine solche methodische Vorgehensweise verkennt völlig sowohl die sicherheitspolitischen Intentionen Russlands als auch die geopolitischen Ziele der USA und substituiert sie durch eine innenpolitische Dämonisierung des „Systems“. Statt einer Analyse der geo- und sicherheitspolitischen Prozesse werden innenpolitisch motivierte Schlagwörter über Schlagwörter produziert.

Ein Schlagwort denunziert, ohne dessen Sinngehalt erklären zu müssen. Es bedient Vorurteile und Ressentiments, ohne es begreifen zu wollen.

Genau dieselbe Methode wendet Kolesnikov auch in seiner jüngsten Veröffentlichung mit dem Gebrauch des Begriffs „Putinismus“ an. Der Begriff „Putinismus“ ist im Westen schon längst zu einem geopolitischen Kampfbegriff verkommen und zum Symbol eines zum „Feind“ auserkorenen geopolitischen Rivalen geworden, der vernichtet, ja ausgelöscht werden soll, damit unsere wolkenfreie Gegenwart wiederhergestellt und unsere rosarote Zukunft nie mehr in Frage gestellt werden kann.

Was dieses inhaltsleere Schlagwort uns freilich sagen will, sind allein unverbindliche Assoziationen mit dem, was nicht ist, aber sein könnte. In jedem Schlagwort lauert eine Fiktion, die im realen Leben gar nicht vorkommt. Alle überlieferten politischen Schlagwörter verbrauchen sich infolge einer unaufhaltsamen Abnutzung ihrer Bedeutung in der Kampfarena der Macht.

Es geht heute mehr denn je darum zu begreifen, was ist, statt zu denunzieren, diffamieren, delegitimieren und schließlich zu dämonisieren. Nichts ist anmaßender, als ein Versuch, die Deutungshoheit zu beanspruchen, womit man dann den geopolitischen Rivalen vorzuführen und/oder zu beeindrucken glaubt.

Wer die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands ignoriert oder gar delegitimiert, provoziert entweder einen großen europäischen Krieg, der schnell in einen Weltkrieg ausarten kann. Eine Dämonisierung Putins verkennt zudem die Tatsache, dass sich hinter seiner Außenpolitik eine traditionsgeleitete, von der breiten Bevölkerungsmehrheit getragene Sicherheitspolitik verbirgt, ob man das hören will oder nicht.

2. Was ist „Putinismus“?

Was versteht Kolesnikov aber konkret unter „Putinismus“? Während die Zaren Peter I. und Alexander II. einerseits und Stalin andererseits „das Imperium als Mittel zu dem, was sie unter einem modernen Staat (a modern state)“ ansahen, verstanden, war „Putins Öffnung gegenüber dem Westen ganz im Gegenteil nur von kurzer Dauer und endete mehr oder weniger im Jahr 2003 – weniger als vier Jahre nach seinem Amtsantritt, als er die volle Kontrolle über das Parlament übernahm und die Obrigkeit Michail Chodorkowski, den milliardenschweren Investor und eines der Symbole des freien Marktes und unabhängigen Denkens in Russland, unter erfundenen Anschuldigungen verhaftete,“ beteuert Kolesnikov.

Man sieht hier einen Nostalgiker, der den Westen zum „Maß aller Dinge“ macht, immer noch von den „glücklichen“ 1990er-Jahren träumt, und Michail Chodorkowski als den Kämpfer für „einen freien Markt“ in Russland verklärt. Der Transformationsprozess der 1990er-Jahre war freilich alles anderes als eine Entwicklung zu einer freien Marktwirtschaft.2

Bis heute streitet man in Russland darüber, ob die russische Wirtschaftsverfassung „Kapitalismus“, „Quasi-Kapitalismus“ oder eine Marktwirtschaft nach westlichem Muster sei. Der Streit zeigt, wie umstritten das eigene Wirtschaftssystem bis heute geblieben ist. Die meisten sind sich immerhin darüber einig, „dass wir einen ganz anderen Kapitalismus bekommen haben, als wir uns eigentlich vorgestellt haben.“3

Wie auch immer, wendet man sich dem zu, was Kolesnikov unter einem „modernen Staat“ verstanden wissen will, dessen Befürworter seiner Meinung nach sogar Stalin sein sollte, so sah der Modernisierungsprozess wie folg aus: „Im frühen 18. Jahrhundert lieh sich Peter I. westliche Innovationen, darunter Fortschritte im Schiffbau und anderen Technologien, sowie westliche Vorstellungen von Regierungsmanagement und sogar Kleidungsstilen. Ein Jahrhundert später schaffte Alexander II. die Leibeigenschaft ab und führte fortschrittliche Justizreformen durch, die von europäischen Vorbildern beeinflusst waren. Was Stalin betrifft, so drängte er in den 1930er Jahren auf eine Industrialisierung und Aufholentwicklung nach westlichem Vorbild, während er den Marxismus, eine moderne europäische Ideologie, auf Kosten unzähliger Menschenleben in einen sowjetischen Marxismus-Leninismus verwandelte.“

Was hier als eine „moderne“ Staatswerdung „nach westlichem Vorbild“ verklärt wird, ist eine sowjetische Geschichtsschreibung, der Kolesnikov anscheinend bis heute verhaftet ist. Selbst im Marxismus sieht er „eine moderne europäische Ideologie“ (a modern European ideology), die nur von Sowjets verfälscht „in einen sowjetischen Marxismus-Leninismus verwandelt wurde“.

Folgt man dieser sowjetischen Geschichtsschreibung, so bedeutet ein „moderner Staat“ eine technische, technologische und industrielle Entwicklung des Landes „nach westlichem Vorbild“. Übersetzt man sie in den Jargon der Sowjetideologie, so lautet der „moderne Staat“ getreu Lenins berühmtem Schlachtruf: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“

Und so wird es auch verständlich, warum Kolesnikov selbst Stalin neben den erwähnten Zaren zum Befürworter des „modernen Staates“ zählt. Daraus ergibt sich Kolesnikovs Begriff des „Putinismus“ als Abwendung von der westlichen „Modernität“ oder – wie er es formuliert: „Putinismus“ sei ein „Imperium ohne Modernisierung“ (an empire without modernization).

„Modernization“ nach „westlichem Vorbild“ ist freilich etwas ganz anderes und etwas mehr als nur eine technische und industrielle Entwicklung des Landes.

Die Idee des modernen bzw. „souveränen Staates“ ist „nicht ablösbar von der gleichzeitigen Umdefinition der Herrschaftsbeziehungen vom Personalverband auf die Vorstellung eines durch Rechtsgebot beherrschbaren Raums.“4 Die auf dem Personenverband ruhende Macht über den durch das fehlende Rechtsgebot beherrschbaren Herrschaftsraum ist aber genau das ausstechende Merkmal des russischen „Staates“ (gosudarstvo).

Von einem „modernen Staat“ nach westlichem Vorbild kann darum zu keiner Zeit der russischen Geschichte die Rede sein. Selbst die russische Etymologie spricht gegen den (westlichen) Begriff des Staates als „status“. Der Begriff „Gosudarstvo“ stammt etymologisch vom „Gosudar`“ (Herrscher). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löst sich der Begriff gosudarstvo von seiner belastenden Etymologie infolge der Rezeption der deutschen Staatsrechtswissenschaft und der Etablierung der russischen Staatsrechtslehre. Bereits in seinem Werk „Russisches Staatsrecht“ definiert Ivan Andreévskij (1831-1891) Gosudarstvo in Anlehnung an das deutsche Staatsrecht als „Gemeinschaft freier Menschen, die ein bestimmtes Territorium bewohnen und unter gemeinsamer (oberster) Herrschaft vereinigt sind.“5

„Staat“ (gosudarstvo) wird aber von der russischen politischen Kultur bis heute immer noch de facto (nicht de jure) als eine Herrschergewalt begriffen, der die „volja“ (ein uralter russischer Freiheitsbegriff) entgegengesetzt wird. „Volja“ sei – wie Reinhard Wittram es einst umschrieb – ein Freiheitsverlangen, „das der Übereinstimmung mit der Weite des Landes bedarf und sich im ausholenden Schwung der Kraft verwirklicht.“6

Dieses Freiheitsverständnis steht im krassen Gegensatz zum westlichen Freiheitsbegriff, der an die neuzeitliche Rechtsidee gekoppelt ist, und genau darin besteht ein grundsätzlicher Dissens zwischen den sog. „westlichen Werten“ und der russischen Lebenskultur und Lebenstradition.

Das Freiheitsverständnis, sofern es „volja“ heißt, negiert den neuzeitlichen Rechtsbegriff der mitteleuropäischen Rechts- und Verfassungskultur. Die Gründe liegen nicht zuletzt in der russischen Rechts- und Geistesgeschichte. Diese hat die seit dem 16./17. Jahrhundert in verschiedenen Etappen und in einem allmählichen Prozess stattgefundene neuzeitliche Rechtsentwicklung nie nachvollzogen.

Gerechtigkeit (spravedlivost`) ist und bleibt darum ein inhärenter Bestandteil des russischen Rechtsbewusstseins, wie im antiken Griechenland, in dem to dikaion (das Gerechte) und nicht das römische ius das Rechtsdenken prägte. Das russische Rechtsverständnis entzog sich zum einen der neuzeitlichen Rechtsentwicklung und ist zum anderen nicht mit der russischen Rechtswirklichkeit zu verwechseln.7

Es ist darum völlig abwegig von irgendeinem „modernen Staat“ in Russland nach „westlichem Vorbild“ zu sprechen. Dieser existierte zu keiner Zeit (auch nicht in den 1990er-Jahren) der russischen Geschichte, von der Zeit des Stalinismus ganz zu schweigen. Der sog. „Putinismus“ ist darum keine Abwendung vom Westen, weil Russland auch nie Teil des Westens war. Russland ist heute das, was es immer schon war – eine Raummacht,8 die sich nach Irrungen und Wirrungen der 1990er-Jahre erneut ihrer eigenen Herrschaftstradition bewusst (geworden) ist.

3. Die Tragödie der russischen Intelligencija

Mit Verweis auf Michail Chodorkowski, den er zu „einem der Symbole des freien Marktes und unabhängigen Denkens in Russland“ (one of the symbols of a free market and independent thinking in Russia) stilisiert, erinnert sich Kolesnikov, wie gesehen, geradezu nostalgisch an die 1990er-Jahre. Dem „freien Markt“ und „freien Denken“ im Russland der 1990er-Jahre setzt er „die russische imperiale Idee“ (the Russian imperial idea) des „Putinismus“ und den „russischen Messianismus“ als Gegenentwurf zum Westen entgegen.

Denn Putin ließ laut Kolesnikov „mit der Annexion der Krim 2014 die russische imperiale Idee wieder aufleben … Gestützt auf die abstrakten und archaischen Lehren der russisch-orthodoxen Kirche, hat er sich auch eine ältere Strömung nationalistischer Ideologie zu eigen gemacht.“

Kolesnikovs Idealisierung der prowestlich orientierten 1990er-Jahre entpuppt sich freilich als eine Mythenbildung, sobald man beispielsweise die Gedankenwelt eines Michail Chodorkowski näher kennenlernt. In einem bereits sieben Jahre zurückliegenden zornigen FAZ-Artikel „Putin erhöht den Einsatz bis ins Endlose“ vom 25. Oktober 2016 hat Chodorkowski sich zur folgenden Prognose hinreißen lassen: Der Kreml werde „kein Modernisierungsprogramm mehr auflegen. Denn nähme das Regime tatsächlich den Kampf mit der systemischen Korruption auf, würde seine Macht wegbrechen. Ließe man … unabhängige Gerichte zu, würde das Machtgefüge in sich zusammenfallen. Würden Ämter nicht nach Loyalität, sondern Professionalität besetzt, würde alles zusammenbrechen. Wollte man der eigenen Effizienz mit wirklich freien Wahlen auf die Sprünge helfen, würde alles einstürzen.“

„Korruption“, fehlende „unabhängige Gerichte“, Ämterpatronage, „Loyalität“ statt „Professionalität“, fehlende „freie Wahlen“ etc. Nun ja, das sind Phänomene, welche die Machtstrukturen in Russland zwar durchaus zutreffend beschreiben. Sie prägen aber Russland nicht erst seit Putins Machtübernahme, sondern sind der russischen Geschichte (inklusive den verklärten 1990er-Jahre) inhärent.

Würden all die genannten Missstände auf wundersamer Weise behoben, dann würde nicht etwa das „Machtgefüge“ des „Regimes“ zusammenfallen, sondern der russische Machtraum ganz auseinanderfallen.

„Für Russland“ – glaubt Chodorkowski – „kann es einfach kein anderes Schicksal geben als ein europäisches“ und „das Land“ werde sich „unweigerlich wieder dem Westen als Modernisierungsquelle zu wenden“. Woher weiß Chodorkowski das so genau? Projiziert er nicht sein eigenes Wunschdenken in eine „glorreiche“ Zukunft Russlands ohne den „Putinismus“? Das haben wir doch schon mehrmals in der russischen Geschichte erlebt: Ein Sprung aus der entzauberten Gegenwart in eine glorifizierte Zukunft. Die russische Geistes- sowie Rechts- und Verfassungsgeschichte lehren uns etwas ganz anderes: Russland geht seinen eigenen, „ein europäisches Schicksal“ transzendierenden Weg.

Chodorkowski wünscht sich aber noch mehr: „Die westlichen Länder müssen ein präzises, langfristig angelegtes Russland-Bild erarbeiten, das meinem Land dabei helfen könnte, auf den historisch vorbestimmten europäischen Entwicklungsweg zurückzukehren.“

Russland sei auf Abwege geraten und müsse endlich auf den „vorbestimmten europäischen Entwicklungsweg zurückkehren“! Hat die russische Geistes-, Rechts- und Verfassungsgeschichte Chodorkowskis „Prädestinationslehre“ nicht schon längst widerlegt? Einen solchen imaginären „Entwicklungsweg“ hat Russland nie gekannt. Das ist nichts weiter als ein hohles Pathos.

Wie Kolesnikovs Verdammung des „Putinismus“ zeigt, besteht dieses Pathos bis heute in den prowestlich gesinnten Teilen der russischen Intelligencija uneingeschränkt.

Was schlägt Chodorkowski nun an Stelle von „Putins Russland“ vor? Seine Vorschläge hören sich ziemlich hilflos und vor allem naiv an: Die „westlichen Länder“ können sich „besser als 1991 auf die in Russland anstehenden Veränderungen vorbereiten. In der Post-Putin-Übergangsphase sollte der Westen bereit sein, Russland im Grunde nur drei Dinge zu offerieren: europäische Werte und die Erfahrung ihrer praktischen Anwendung, Technologien sowie Re-Integration“.

Offenbar ist es Chodorkowski entgangen, dass der Westen nach dem Untergang des Sowjetreiches nichts anderes tat, als seine „europäischen Werte“ erfolglos zu „offerieren“.

Ausgerechnet die Entwicklung der 1990er-Jahre ist der Beweis dafür, warum der russische „Liberalismus“ versagt hat. Das Russland der 1990er-Jahre befand sich nicht nur im Zerfall an den Außenrändern des Reiches, sondern auch in einem rechtsfreien Schwebezustand bei gleichzeitiger, dem Zentrum entglittener Machtfülle.

Wer diesen Machtschwund des Zentrums als „Liberalismus“ in Russland verklärt, idealisiert das postsowjetische Russland der 1990er-Jahre und missversteht zudem die Idee des Liberalismus. Der europäische Liberalismus war und ist per definitionem eine Rechtsidee. Der Rechtsstaat war und ist eine liberale und keine demokratische Veranstaltung. Das Russland der 1990er-Jahre kennt keine rechtsgebundene Freiheit, sondern ein rechtsentbundenes Machtvakuum – ein Übergangszustand zwischen einem Machtschwund des Zentrums und einer zunehmenden, durch zahlreich entstandene regionale, individuelle und gruppenbezogene Machtzentren verursachten Machtzersplitterung.

Diese „progressive“, fortschreitende, die Einheit des russische Machtraumes gefährdende Entwicklung hat Putin Anfang des Jahrhunderts nach seiner Machtübernahme zunächst gestoppt und dann radikal umgedreht. Die wiedergewonnene Machtkonzentration des Zentrums erfolgte natürlich im Sinne der tradierten Herrschaftsauffassung und selbstverständlich zu Lasten der in den damaligen Wirren entstandenen individuellen und ökonomischen „Willkür“ (im Sinne des russischen Wortes >volja<), die man als „Freiheit“ im westlichen Sinne missverstanden hat.

Die Rückkehr zu dieser „Freiheit“ der 1990er-Jahre würde die Einheit des russischen Machtraumes erneut gefährden, sodass Putin aus seiner Sicht durchaus erfolgreich das Machtprinzip der russischen Herrschaftstradition wiederhergestellt hat.

Als Konstante der russischen Verfassungsgeschichte bleibt dieses Machtprinzip, wie man sieht, voll intakt und bis auf weiteres unangefochten bestehen. Dieser Befund hat eine mittelbare und eine unmittelbare Auswirkung auf die russische Gegenwart. Die russische Kultur war schon immer zwischen Tradition und der westlichen Moderne, Geopolitik und Liberalität hin und her gerissen. Wer auch immer in diesem immerwährenden Wettstreit obsiegt, eins sollte klar sein: Beides gleichzeitig wird es nicht geben.

Gewinnt die innerstaatliche Liberalität am Boden, dann ist eine Zentralsteuerung des Machtraumes akut gefährdet. Dass eine solche Entwicklung alles andere als abwegig erscheint, beweist Gorbačevs Perestrojka, an deren Ende der Zerfall des Sowjetimperiums stand. Gorbačev selbst hat im Übrigen das mit der russischen Gegenwart vergleichbare Dilemma seiner Perestrojka zwar viel zu spät, aber immerhin ganz genau erkannt, als er auf einem Treffen mit Vertretern der Intelligencija Ende November 1990 zugegeben hat: Er könne entweder fortfahren, „die Sowjetunion zu reformieren“, oder er müsse versuchen, „sie zusammenzuhalten; beides gleichzeitig sei ihm jedoch nicht möglich“.9

Die innerstaatliche Liberalität wird unweigerlich zur Dezentralisierung und folglich zur Schwächung der Zentralsteuerung des russischen Machraumes mit der Gefahr eines erneuten Zerfalls der russischen Raummacht führen.

Diese verfassungshistorisch, macht- und geopolitisch bedingte Komplexität der russischen Gegenwart verkennt Kolesnikov, wenn er sie auf eine denunziatorische Formel: „Putinismus“ = „ein Imperium ohne Modernisierung“ (an empire without modernization) reduziert und daraus karikierend und persiflierend schlussfolgert: Während „Stalins Diktatur auf Nationalismus, Imperialismus, nackter Gewalt und einem wachsenden Anti-Westernism basierte und zu Millionen von Toten im Gulag führte“, fügte „Putins Autokratie, die diesen Strömungen eine messianische, antiwestliche Weltanschauung“ hinzu und ist „nun in der Ukraine in einen sinnlosen Sumpf gestürzt.“

Als „Imperium ohne Modernisierung“ verkörpere der „Putinismus“ laut Kolesnikov „ein antimodernes Bewusstsein“ (an antimodern consciousness). Diese bildungsferne Analyse der russischen Gegenwart deklassiert Kolesnikovs pseudowissenschaftliche Betrachtung von selbst und entlarvt ihn als einen der Vertreter jener russischen Machteliten, die in den „glücklichen“ 1990er-Jahren an der Macht waren und bis heute das Scheitern der Transformation und damit das eigene Versagen weder begriffen oder aufgearbeitet noch eingestanden haben.

Jetzt lecken sie ihre Wunder, verdammen Gott und die Welt und glauben – wie Kolesnikov -, dass allein der „Putinismus“ an allem schuld sei, ohne sich eingestehen zu wollen oder zu können, dass sie es selbst waren, die die einmalige Chance der russischen Geschichte in den Sand gesetzt haben. Russland ist heute weder Stalins Diktatur, die „auf der nackten Gewalt basierte“ und „zu Millionen von Toten im Gulag führte“, noch eine Inkarnation der russischen „Autokratie“.10

Diese Trivialisierung und Simplifizierung der außen-, geo- und sicherheitspolitischen Auseinandersetzungen der Gegenwart und eine völlige Unkenntnis und Ignoranz der langwierigen Konfrontation zwischen den USA, dem Westen und dem postsowjetischen Russland führen zu einer geradezu absurden Reduktion allen Übels dieser Welt auf die „nackte Gewalt“ des sog. „Putinismus“ und verstellen den Blick auf die komplexen Probleme der Gegenwart, die mit Verunglimpfung und Verdammung nicht aus der Welt zu schaffen sind.

Eine solche Karikatur der russischen Gegenwart hat letztlich eine Dämonisierung Russlands zum Ziel und folglich die Entmenschlichung des geopolitischen Rivalen, der für vogelfrei erklärt wird. Kolesnikovs Pamphlet verstellt den Blick auf die spannungsgeladenen Beziehungen zwischen dem Westen und Russland nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und verkennt vollkommen die Ziele und Intentionen der russischen Außen- und Geopolitik.

Kolesnikovs Auslassungen sind keine Analyse, sondern eine Karikatur auf das heutige Russland. Wer aber statt einer nüchternen Analyse seinen Emotionen freien Lauf lässt, denunziert; wer denunziert, delegitimiert; wer delegitimiert, dämonisiert, und wer dämonisiert, entmenschlicht. Am Ende dieses unsäglichen Weges steht dann letztendlich einen Feldzug gegen Russland selbst, der sich ideologisch hinter dem Kampf gegen den „Putinismus“ versteckt.

Dass Kolesnikov stellvertretend für die innerrussische Opposition diese durch die leidvolle Geschichte Russlands mehrmals erhärtete Erkenntnis nicht begreifen will und/oder kann, ist die eigentliche Tragödie der russischen Intelligencija.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Irrungen und Wirrungen in Zeiten des Krieges. Im Lichte von Urteilen, Vorurteilen und Kriegspropaganda. 15. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Siehe dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
3. Маслов, О. Ю., Какой капитализм построен в России начала ХХI в. 20.08.2007; siehe auch statt vieler Работяжев, Н. В., Почему в России не получился капитализм? 14.12.2017.
4. Stolleis, M., Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. Berlin 1996, 63-85 (83).
5. Андреевский, I. E., Русское государственное право. Москва 1866, § 1.
6. Wittram, R., Die Freiheit als Problem der russischen provisorischen Regierung (März bis Juli 1917). Gottingen 1973, 4.
7. Näheres dazu Silnizki, Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017, 83 f., 111 ff.
8. Zum Begriff siehe Silnizki, M., Vom Dichten und Träumen in der US-Außenpolitik. Zum Problem der US- amerikanischen Russlandexpertise. 31 Juli, 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Zitiert nach Mommsen, M., Wohin treibt Russland? Eine Großmacht zwischen Anarchie und Demokratie. München 1996, 138.
10. Silnizki, M., Autokratie in Russland? Zur Sinnentleerung eines Begriffs. 7. August 2023, www.ontopraxiologie.de.

Nach oben scrollen