Verlag OntoPrax Berlin

Wer ist schuld an der Fortsetzung des Krieges?

Über die Friedensverhandlungen im März/April 2022

Überblick

  1. Die Chronik der Ereignisse
  2. Die US-Geostrategie im Ukrainekrieg

Anmerkungen

„Zwischen den auf Macht und den auf Ohnmacht begründeten Frieden schiebt sich … eine dritte Form ein: der auf Befriedigung begründete Frieden.“

(Raymond Aron)1

  1. Die Chronik der Ereignisse

The American Conservative hat am 16. August 2023 eine Studie „Why Peace Talks, But No Peace?“ veröffentlicht. Der Verfasser Ted Snider hat die im März/April 2022 stattgefundenen Friedensgespräche zum Ukrainekonflikt detailliert und minutiös einer Analyse unterzogen und ist zum Ergebnis gekommen, das er bereits im Untertitel seiner Studie zusammenfasste: „The U.S. prevented earnest negotiations and prolonged the war in Ukraine“ (Die USA haben ernsthafte Verhandlungen verhindert und den Ukrainekrieg prolongiert).

Kurz nach dem Kriegsausbruch am 24. Februar 2022 wurden drei Versuche unternommen, um den Krieg nicht weiter eskalieren zu lassen. Alle Versuche wurden laut Snider von den USA mit der Unterstützung von Großbritannien torpediert. Sie hatten nicht annährend eine Chance auf Realisierbarkeit, obschon die Gespräche – folgt man den in der Studie skizzierten Verhandlungsabläufen – auf beiden Seiten ernsthaft, verantwortungsbewusst und kompromissbereit geführt wurden.

Bereits am 25. Februar – einem Tag nach dem Beginn der Invasion – signalisierte Selenskyj, dass er bereit sei, die Nato-Mitgliedschaft aufzugeben. Dieses Zugeständnis interpretiert Snider als „ein erstes Zeichen dafür, dass der Krieg mit einer diplomatischen Einigung beendet werden könnte.“

„Wenn man in Moskau sagt, man wolle Gespräche über einen Neutralitätsstatus führen, dann haben wir keine Angst auch darüber zu reden,“ sagte Michail Podoljak (Berater des ukrainischen Präsidenten) am gleichen Tag, dem 25. Februar 2022.

Nur drei Tage nach dem Kriegsausbruch kündigten Russland und die Ukraine am 27. Februar an, Gespräche in Weißrussland führen zu wollen. Die ukrainische Delegation war bereit, über Neutralität zu verhandeln und die Gespräche fanden tatsächlich am 3. März in Weißrussland an der weißrussisch-ukrainischen Grenze statt.

Diese Gespräche wurden von den USA torpediert. Am selben Tag, dem 25. Februar, an dem Selenskyj seine Bereitschaft ankündigte, über einen Neutralitätsstatus zu verhandeln, wurde der Sprecher des Außenministeriums, Ned Price, auf einer Pressekonferenz gefragt, was die USA über die Wirksamkeit solcher Gespräche denken.

Prices Reaktion war ablehnend: Moskau biete Verhandlungen mit der Waffe in der Hand an und ziele mit Raketen, Mörser und Artillerie auf das ukrainische Volk. Wörtlich sagte er: „Das ist keine echte Diplomatie. Es sind keine Voraussetzungen für eine echte Diplomatie gegeben“ (This is not real diplomacy. Those are not the conditions for real diplomacy).

„Die USA lehnten die Gespräche mit Belarus ab“ (The U.S. said no to the Belarus talks), stellte Snider apodiktisch fest. Die erste Gesprächsrunde ist damit ergebnislos verlaufen. „Die US-Blockade war kein isoliertes Ereignis“ (The U.S. roadblock was not an isolated event), schreibt Snider weiter.

Am 6. März, nur wenige Tage nach dem Abschluss eines zweiten Gesprächs in Weißrussland, berichteten israelische Medien darüber, dass der damalige Premierminister Naftali Bennett Moskau überraschend einen Besuch abstattete, um sich mit Putin im Rahmen eines Vermittlungsversuchs zu treffen. Nach dem Treffen mit Putin sprach Bennett zweimal mit Selenskyj, mit Emmanuel Macron und flog zu Gesprächen mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz nach Deutschland.

Die Gespräche lösten hektische Telefonate zwischen Bennet und Putin sowie zwischen Bennett und Selenskyj aus. Bennett flog erneut nach Moskau und dann wieder nach Deutschland. Es folgte ein „Verhandlungsmarathon der Entwürfe“ (negotiation marathon of drafts).

„Alles, was ich getan habe“, sagte Bennet, „war vollständig mit Biden, Macron, Johnson, Scholz und natürlich mit Selenskyj abgestimmt“ („Everything I did,“ Bennet says, „was fully coordinated with Biden, Macron, Johnson, with Scholz and, obviously, Zelensky“).

Putin habe laut Bennett „große Zugeständnisse“ gemacht. Und Bennetts Frage, ob er Selenskyj töten würde, verneinte Putin. Zugleich „verzichtete“ er auch auf die von Russland geforderte „Abrüstung der Ukraine“ (Bennet says Putin made „huge concessions.“ When Bennett asked Putin if he was going to kill Zelensky, Putin answered, „I won’t kill Zelensky.“ Putin also „renounced“ Russia’s demanded „disarmament of Ukraine“).

Nachdem Selenskyj versprochen habe, der Nato nicht beizutreten, wollte er Sicherheitsgarantien. Laut Bennets Angaben war Sicherheitsabkommen mit Großmächten für Putin gleichbedeutend mit einem Nato-Beitritt. Bennett schlug daraufhin vor, Nato-ähnliche Garantien aufzugeben und stattdessen dafür zu sorgen, dass die Ukraine „das israelische Modell“ übernehme und eine starke, unabhängige Armee aufbaue, die sich selbst verteidigen könne. Diese Lösung wurde sowohl von Putin als auch von Selenskyj akzeptiert.

Daraufhin flog Bennett erneut nach Deutschland und brachte Scholz, die US-Amerikaner, Macron und Johnson auf den neuesten Stand. „Boris Johnson hat eine aggressive Linie vertreten. Macron und Scholz waren pragmatischer. Biden war beides.“ Bennett sagte, dass „eine gute Chance bestand, einen Waffenstillstand zu erreichen“. Die US-Blockade, die erstmals in Weißrussland zu beobachten war, setzte sich allerdings auch hier fort.

Der Westen – behauptete Bennett – habe die Entscheidung getroffen, „Putin weiter anzugreifen“. Die Frage des Interviewers, ob der Westen blockierte, bejahte er: „Sie haben es blockiert“ (vgl. „So, they blocked it?” his interviewer asked. „They blocked it,“ Bennett replied).

Der israelische Journalist Barak Ravid berichtete  in „Axios“: Russland habe zugestanden, dass die Entmilitarisierung auf den Donbass beschränkt werden könne, es in Kiew keinen Regimewechsel geben werde und die Ukraine ihre Souveränität behalten könne. Selenskyj ging daraufhin auf Distanz zum Nato-Beitritt und fand Putins Vorschläge „gar nicht so extrem“.

Wie in Weißrussland stellte sich freilich auch hier heraus, dass das ukrainische Zugeständnis, nicht der Nato beizutreten, von den USA „blockiert“ wurde, sodass auch die zweite Gesprächsrunde ergebnis- und erfolglos verlaufen ist.

Im März/April 2022 verlagerten sich sodann die Verhandlungsbemühungen nach Istanbul. Die Türkei war durchaus ein geeigneter Kandidat für die Friedensverhandlungen kraft ihrer guten Beziehungen zu den beiden Kriegsparteien. Die Gespräche in der Türkei waren darum laut Snider die aussichtsreichsten überhaupt und führten tatsächlich zu einer „vorläufigen Vereinbarung über die Konfliktbeilegung“ („tentatively agreed“ upon settlement).

„Bis zum 20. März hat Selenskyj anscheinend akzeptiert“ – schreibt Snider -, dass „die Open-Door-Politik der Nato für die Ukraine ein Taschenspielertrick“ sei. Selenskyj sagte  einem CNN-Interviewer, dass er die Nato-Führung nach einer ukrainischen Mitgliedschaft fragte, und die Antwort der Nato war unmissverständlich: „Sie werden kein Nato-Mitglied sein, aber öffentlich bleiben die Türen offen.“

Bei den Istanbuler Gesprächen Ende März reagierte Selenskyj auf diese Erkenntnis und versprach, der Nato nicht beizutreten. Am 29. März sagten die ukrainischen Unterhändler, Kiew sei bereit, Neutralität zu akzeptieren , wenn die westlichen Staaten wie die USA, Frankreich und Großbritannien im Rahmen eines internationalen Abkommens verbindliche Sicherheitsgarantien geben würden.

Am 13. Juni 2023 bestätigte Putin auf die Fragen von Kriegsberichterstattern im Kreml, dass „wir in Istanbul eine Einigung erzielt haben“ und enthüllte dabei, dass die vorläufige Vereinbarung nicht nur mündlich war. Er ging sogar so weit, ein unterzeichnetes Dokument vorzulegen, das von beiden Seiten in Istanbul paraphiert wurde.

Vier Tage später, am 17. Juni 2023, ging Putin noch weiter, als er bei seinem Treffen mit einer Delegation von Staats- und Regierungschefs afrikanischer Länder, welche die Friedensgespräche zu vermitteln versuchten, den paraphierten Vertragsentwurf vorstellte, das Dokument hochhielt und sagte: „Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, dass mit der Unterstützung des Präsidenten Erdogan, wie Sie wissen, in der Türkei eine Reihe von Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine stattgefunden hat, um für beide Seiten vertrauensbildende Maßnahmen zu treffen und einen Vertragstext auszuarbeiten. … Dieser Vertragsentwurf wurde vom Leiter des Kiewer Verhandlungsteams paraphiert. Dort hat er seine Unterschrift hinterlassen. Hier ist es.“

In dem Abkommen mit dem Titel „Vertrag über ständige Neutralität und Sicherheitsgarantien für die Ukraine“ hieß es, dass die Ukraine „permanente Neutralität“ zu einem Bestandteil ihrer Verfassung machen werde. Nach einem Bericht von RT werden „Russland, die USA, Großbritannien, China und Frankreich als Garanten aufgeführt“.

Wenn es zutrifft, was RT berichtet, dann ist das vorgestellte Abkommen sogar eine Abschwächung von Putins ursprünglicher Weigerung, ein Sicherheitsabkommen mit Großmächten zu akzeptieren, das er als gleichbedeutend mit einem Nato-Beitritt ansah. Wie bei den Verhandlungen mit Bennett verzichtete Russland Berichten zufolge auch auf die Forderung nach einer vollständigen Entmilitarisierung der Ukraine.

Doch dann blockierten die USA erneut (vgl. But then the U.S. obstruction happened again). „Wir haben das tatsächlich getan“, sagte Putin den Kriegskorrespondenten im Kreml, „aber sie haben es später einfach weggeworfen und das war’s.“ Auch die dritte Gesprächsrunde scheiterte.

Im Gespräch mit der oben erwähnten afrikanischen Delegation sagte Putin: „Nachdem wir unsere Truppen wie versprochen aus Kiew abgezogen haben, warfen die Kiewer Behörden ihre Verpflichtungen in den Mülleimer der Geschichte (into the dustbin of history).“ Putin beschuldigte dabei implizit die USA: Wenn die Interessen der Ukraine nicht mit den US-Interessen übereinstimmen, bleiben die US-Interessen ausschlaggebend. Wir wissen, dass sie der Schlüssel zur Lösung von Problemen seien (vgl. Putin implicitly blamed the U.S., saying that when Ukraine’s interests „are not in sync“ with U.S. interests, „ultimately it is about the United States’s interests. We know that they hold the key to solving issues“).

Im Zentrum aller Friedensgespräche stand im Wesentlichen – wie man sieht – der Neutralitätsstatus der Ukraine. Ungeachtet einer grundsätzlichen Einigung zwischen Russland und der Ukraine haben die USA alle drei Gesprächsrunden platzen lassen. Es lag offenbar – wie die nachfolgende Analyse noch zeigen wird – im geostrategischen US-Interesse den Krieg fortzusetzen. Man hatte es schließlich mit keinem geringeren als mit Joe Biden, einem altbekannten „Friedensapostel“, zu tun.

In seiner Zeit als Senator von Delaware plädierte der „friedensliebende“ Biden 1999 vehement für einen Krieg gegen Serbien und forderte die Hauptstadt Belgrad in Schutt und Asche zu legen. Ebenso unterstützte er als Hardliner unter den Demokraten die militärischen Interventionen in Afghanistan (2001) und im Irak (2003) und galt als ein „vehementer Verfechter“ einer Militarisierung der US- Außenpolitik.

Alle Anschuldigungen des Westens an die Adresse Putins: Er betreibe eine neoimperiale Eroberungspolitik, wolle die Ukraine zerstören, neue Territorien dazu gewinnen und schließlich die Sowjetunion wiederherstellen, entpuppen sich darum vor dem Hintergrund der geschilderten Friedensverhandlungen als eine westliche bzw. US-Kriegspropaganda sowie eine Ablenkung von den eigenen geostrategischen US-Interessen an der Fortsetzung des Krieges.

2. Die US-Geostrategie im Ukrainekrieg

Hält man Sniders Bericht für glaubwürdig (und vieles spricht dafür), so stellt sich die Frage aller Fragen: Warum waren die USA an einer Fortsetzung und nicht an einer Beendigung des Krieges interessiert? Diese Frage stellt auch Snider am Schluss seiner Ausführungen: „Why No Peace?“ Warum wollten die USA nicht, dass Selenskyj unterzeichnet?

Snider beantwortet die Frage nicht. Er verweist lediglich darauf, dass die USA den Krieg in der Verfolgung der eigenen und nicht der ukrainischen Interessen weiterlaufen bzw. eskalieren ließen. Statt darauf näher einzugehen, zitiert Snider immerhin eine bemerkenswerte Äußerung vom Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price.

Auf einer Pressekonferenz vom 21. März 2022 wurde er gefragt, ob Selenskyj „offen für eine … diplomatische Lösung“ sei.  Price reagierte darauf mit dem Satz: „Das ist ein Krieg“ … „das (Problem) ist in vielerlei Hinsicht größer als Russland und größer als die Ukraine“ („This is a war,“ Price answered, „that is in many ways bigger than Russia, it’s bigger than Ukraine“).

Was ist aber dasjenige, was „größer als Russland“ und „größer als die Ukraine“ sei? Die US-Demokraten leben immer noch mental und ideologisch in der bipolaren Welt des „Kalten Krieges“, auch wenn ihnen Chinas Aufstieg und dessen Bedrohung der US-Hegemonie nicht entgangen und Russland keine Sowjetunion mehr ist. Ohne die Bekämpfung des Kommunismus als das zentrale Leitmotiv des „Kalten Krieges“ hat die US-Russlandpolitik aber ihre ideologische Legitimationsgrundlage verloren und befindet sich heute darum in einer geopolitischen Sackgasse. Die Propagierung von Demokratie und Menschenrechten kann den Antikommunismus des „Kalten Krieges“ nicht ersetzen, weil sie weder eine sicherheitspolitische noch eine geoökonomische Funktion erfüllen kann. Sie kann zwar als Funktion der Geopolitik eine massenpsychologische bzw. massenmanipulierende Wirkung auf die nichtwestlichen Kultur- und Machträume ausüben, indem sie innenpolitische Unruhen und soziale Verwerfungen auslösen kann, aber keinen liberalen Rechts- und Verfassungsstaat implementieren.

Von Anfang an war klar, worum es den USA im Ukrainekonflikt geht. Die Biden-Administration verfolgte und verfolgt immer noch zwei aufeinander bezogene und voneinander untrennbare geostrategische Ziele: (a) die Wiederholung des Afghanistan-Effekts und (b) die Verwirklichung von Brzezinskis „imperialer Geostrategie“.

Bereits drei Wochen nach dem Kriegsausbruch schrieb ich am 16. März 2022: Der Ukrainekrieg ist „zweifellos das gelungenste und seit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 das erfolgreichste geostrategische Kunststück, das die Biden-Administration vollbracht hat und in die Geschichte der US-amerikanische Geopolitik womöglich als Bidens brillanteste geostrategische Aktion eingehen wird. Nicht nur die Russen, sondern auch die EU-Europäer wurden hier von der Biden-Administration vorgeführt, ohne dass die letzteren dies überhaupt verstanden haben.

Dieses geostrategische Kunststück schadet vor allem und in erster Linie der europäischen Sicherheitsordnung ebenso wie der europäischen und Weltwirtschaft, am wenigsten aber den USA. … Die Biden-Administration (destabilisiert) … in höchstem Maße die europäische Sicherheitsordnung zwecks Schwächung des geopolitischen Rivalen Russland und der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit Europas. Mit anderen Worten: Hier prallen Europas Sicherheits- und Wirtschaftsinteresse einerseits und die US-Geopolitik andererseits hart aufeinander. Der Krieg in der Ukraine ist nicht im Interesse Europas, wohl aber im Interesse der US-Geopolitik.2

Soweit die Äußerung vom 16. März 2022. Siebzehn Monate später sieht die weltpolitische Lage dergestalt aus, dass man die Kriegspolitik der Biden-Administration nicht ohne weiteres als „brillant“ bezeichnet kann. Beim Kriegsausbruch in der Ukraine witterte Biden zweifellos die Chance, Putin eine Lehre zu erteilen.

Als alter Haudegen des „Kalten Krieges“ hat er zum einen das sowjetische Afghanistan-Desaster der 1980er-Jahre und dessen Folgen noch gut in Erinnerung. Der Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 und der darauffolgende langjährige Afghanistankrieg haben mutmaßlich auch zum Untergang des Sowjetreiches beigetragen. Dass sich die Geschichte aber nicht ohne weiters wiederholt, bewahrheitet sich anscheinend auch in diesem Konflikt, in dem der Afghanistan-Effekt bis jetzt jedenfalls ausgeblieben ist.

Noch ist Bidens Kriegspolitik nicht aufgegangen, und zwar nicht zuletzt deswegen, weil die USA zu Recht eine direkte Konfrontation mit Russland auf ukrainischem Boden scheuen. Eine direkte US- Involvierung im Ukrainekonflikt kam für Biden zu keiner Zeit in Frage, sonst wäre eine nukleare Eskalation unvermeidbar. Eine solche Eskalation liegt aber weder im russischen noch im US- amerikanischen Interesse. Noch nicht! Das kann sich aber sehr schnell ändern, sollten manche US- Hardliner auf die Idee kommen, ohne Rücksicht auf Verluste „Chicken Game“ spielen zu wollen.

Zum anderen ist Biden ein US-Demokrat, der über die US-amerikanische Sowjetpolitik der Carter- Administration (1977-1981) bestens informiert sein dürfte, besuchte er doch selber als jüngster US-Senator (seit 1972) bereits 1973 die UdSSR. Sechs Jahre später, im August 1979, kehrte er zu einem offiziellen Besuch zurück und traf in Leningrad u. a. den sowjetischen Ministerpräsidenten Aleksej Kosygin. Als ein außenpolitischer Profi musste er auch die Hintergründe des US-Sowjetpolitik in Afghanistan gekannt haben.

1998 enthüllte Zbigniew Brzezinski in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel sei es gewesen, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der Sowjets zu erhöhen. Hat die Biden-Administration nicht auch den Einmarsch Russlands in die Ukraine provoziert? Warum ging sie dann bereits im Vorfeld des Einmarsches wie selbstverständlich von Putins Ukraine-Invasion aus? An geheimdienstlichen Informationen allein kann das wohl nicht liegen. Zu sehr und zu oft wurde in den vergangenen Jahren mit Verweis auf die Geheimdienste alles Mögliche gerechtfertigt, um die eigentlichen Gründe, Motive und Intentionen zu verschleiern.

Gefragt, ob er die Unterstützung des islamischen Fundamentalismus inzwischen bereuen würde, antwortete Brzezinski im erwähnten Interview unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue. Am Tag, da die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu liefern.“

Wollte auch Biden nicht, dass die Russen in die ukrainische Falle tappen und dabei scheitern? Haben die US-Geostrategen nicht schon deswegen alle Friedensgespräche im März/April 2022 torpediert? Der Frieden war das letzte, was sich die Biden-Administration in diesem Augenblick der Geschichte wünschte. Eine solch einmalige geostrategische Chance wollte und durfte er sich nicht entgehen lassen. Aus der Sicht der US-Geostrategen wäre dies sonst grob fahrlässig.

Als der Interviewer nachhakte und auf die Verknüpfung von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus hinwies, antwortete Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“3

Folgt man dieser geopolitischen Logik, so stellt sich in der Tat die Frage: Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte: die Ausschaltung eines mächtigen geopolitischen Rivalen oder ein paar verwirrte und missbrauchte Muslime oder – wie im Falle des Ukrainekonflikts – tausende und abertausende ukrainische und russische Menschenleben zwecks Aufrechterhaltung und Ausbaus der US-Hegemonie?

In den vergangenen dreißig Jahren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat die geopolitische Logik und in ihrem Schlepptau die auf Expansion ausgerichtete US-Außenpolitik die Grundannahme des „liberalen Internationalismus“ gründlich widerlegt, dass nämlich eine demokratische Verfassungsform auch ihr friedliches Außenverhalten garantiert. „Die historischen Erfahrungen“ – stellte Herbert Dittgen bereits 1996 zutreffend fest – „sprechen eindeutig gegen eine solche Behauptung.“4

Und so ist es gekommen, wie es kommen sollte: Die „liberalen Demokratien“ erkauften in den vergangenen Jahrzehnten ihren liberalen Frieden in der Innenwelt mit dem Unfrieden in der Außenwelt, ja der Unfriede wurde oft bewusst in Kauf genommen oder gar gezielt herbeigeführt. Die eigene Sicherheit und der eigene Wohlstand gingen stets vor und im Zweifel zu Lasten der Außenwelt.

Die US-Expansionspolitik war dabei der zentrale Stolperstein der gesamteuropäischen Sicherheits- und Friedensarchitektur. Wie ein roter Faden zieht sie sich durch die dreißig Jahre andauernden Spannungen zwischen dem russischen Rumpfimperium und dem Westen nach dem Ende des „Kalten Krieges“.

Das Ziel war die Ausdehnung der US-Machtprojektion auf ganz Eurasien und zugleich Russlands sicherheitspolitische Neutralisierung auf dem europäischen Kontinent. Dabei stellte sich bald heraus, dass das geschwächte Russland der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre zwar der Nato-Osterweiterung kaum etwas entgegensetzen konnte. Kraft des immer noch reichlich vorhandenen Nuklearpotentials und der Modernisierung der eigenen Streitkräfte in den vergangenen fünfzehn Jahren (seit 2008) konnte es aber militär- und sicherheitspolitisch nicht ohne weiteres neutralisiert und schon gar nicht aus der Ukraine verdrängt werden.

Die US-Expansionspolitik bedeutet freilich weder eine territoriale Annexion der „eroberten“ Gebiete noch eine Assimilation der „beherrschten“ Völker. Sie ist einer viel subtileren Natur. Denn Ziel der Expansion ist weder Annexion noch Unterwerfung, sondern eine ökonomische, ideologische und machtpolitische Domestizierung der unter ihre Kontrolle und ihren Einfluss gebrachten Territorien bzw. Machträume.

Achtzehn Monate nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist es heute allerdings schon klar, dass der Versuch der Biden-Administration, die von der Clinton-Administration eingeleitete Nato- Expansionspolitik5 und die von Brzezinski dann später reflektierte und theoretisch als „imperiale Geostrategie“ konzipierte US-Außenpolitik im postsowjetischen Raum6 mittels der Fortsetzung des Ukrainekrieges erfolgreich zu vollenden und Russland in die Schranken zu weisen, gescheitert ist.

Die Torpedierung der im März/April 2022 stattgefundenen Friedensverhandlungen durch die Biden- Administration erweist sich heute nicht nur als eine Fehlentscheidung, die ihr Ziel, Russland ökonomisch zu ruinieren, außenpolitisch zu isolieren und militärisch zu schwächen, verfehlte, sondern auch als eine geostrategische Fehlkalkulation des konsolidierten Westens.

Denn die Blockierung des Friedensabschlusses und die Entscheidung für die Kriegspolitik haben die Spaltung zwischen dem Westen und dem Nichtwesten bloßgelegt und gezeigt, dass die jahrhundertelange Weltdominanz der westlichen Hemisphäre zu Neige geht. Der Ukrainekonflikt ist eine Zäsur von welthistorischem Ausmaß und dem ist anscheinend kein Entrinnen mehr. Die Entscheidung der Biden-Administration, den Krieg laufen zu lassen, birgt Gefahren, deren Folgen heute noch nicht absehbar sind.

Anmerkungen

1. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1986, 194.
2. Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022,
www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbiegniew
Brzezinski, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 57 (2012), 89-97 (90).
4. Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Strategie, in:
Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende
des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (292).
5. Vgl. Silnizki, M., Moskaus „Neoimperialismus“ oder Washingtons Expansionismus? Zu den Hintergründen
des Ukrainekonflikts. 14. August 2023, www.ontopraxiologie.de.
6. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.

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