Verlag OntoPrax Berlin

Geschichte als Verklärung und Aufklärung

Anlässlich der Münchener Sicherheitskonferenz 2023

Übersicht

1. Putins Münchener Rede und der Revisionismus-Vorwurf
2. „Im Antlitz des Sieges“

Anmerkungen

„Лгущий самому себе и собственную ложь свою
слушающий до того доходит, что уж никакой
правды ни в себе , ни кругом не различает.“
(Wer sich selbst belügt und seinen eigenen Lügen
zuhört, kommt so weit, dass er weder in sich
noch um sich herum eine Wahrheit erkennt.)
(Dostojewski, Brüder Karamasow)

1. Putins Münchener Rede und der Revisionismus-Vorwurf

In seinem Beitrag „Münchener Hoffnungssignale“ (Handelsblatt, 9.02.23, S. 13) erzählt Wolfgang Ischinger die Entstehungsgeschichte der Münchener Sicherheitskonferenz, deren Gründer Ewald-Heinrich von Kleist (1922-2013) war. Vor dem Hintergrund der Kubakrise im Herbst 1962 beschloss von Kleist laut Ischinger einen alljährlichen deutsch-amerikanischen Gesprächskreis in München einzurichten, in dem sich im Wesentlichen um die Frage drehte: „Was muss geschehen, um Moskau wirksam abzuschrecken und einen weiteren Krieg in Europa zu verhindern?“

Dass von Kleist mit seinem Münchener Gesprächskreis das Ziel verfolgt haben soll, „Moskau wirksam abzuschrecken“, scheint in Anbetracht der erfolgreich überwundenen Kubakrise eher unwahrscheinlich zu sein. Da versucht Ischinger die Gründungszeit der Münchener Sicherheitskonferenz vor dem Hintergrund des tobenden Krieges in Europa zu instrumentalisieren, spricht er doch im gleichen Atemzug von „der brutalen russischen Aggression gegen die Ukraine“.

Dass von Kleist das Gesprächsziel verfolgte, „einen weiteren Krieg in Europa zu verhindern“, liegt hingegen auf der Hand. Ewald-Heinrich von Kleist gehörte zu jener Generation der Deutschen, die den Krieg, Tod und Zerstörung hautnah erlebt haben. Bis zum Ende seines Lebens hat er den Krieg nie vergessen können. Kurz nach seinem Ableben hat Focus nachträglich am 13. November 2013 ein Interview mit ihm unter der bezeichnenden Überschrift „Wir haben das Sterben gesehen“ veröffentlicht. In diesem Interview mahnte von Kleist die neue Generation, der „einfach bestimmte Erfahrungen fehlen“, nicht leichtfertig, „militärische Gewalt einzusetzen“.

Viele aus seiner Generation haben ihr Leben lang nie vergessen können, wie grausam der Krieg sein kann. Überliefert ist, wie der US-Außenminister Alexander M. Haig – besorgt um den angeschlagenen gesundheitlichen Zustand des sowjetischen Generalsekretärs Leonid Brežnev 1981 sagte: Er bete für seine Gesundheit. Der Grund für Haigs Besorgnis war seine Sorge um den Weltfrieden. Haig fürchtete, dass die nächste Generation der Sowjetführer aus Männern bestehen würde, „die einen Krieg nie kennengelernt haben und für die Stalingrad ein Filmtitel ist“1 und dass eine solche personalpolitische Konstellation die Sowjets zu forschen und halsbrecherischen Entscheidungen mit unkalkulierbaren Folgen für den Weltfrieden verleiten könnte.

Haigs Sorge hat bis heute nichts an ihrer Aktualität eingebüßt. Sie trifft nur nicht mehr die Sowjetführung, die von der Weltbühne der Geschichte längst verschwunden ist, sondern die politische Klasse des Westens, die jung, forsch und unerschrocken in die Zukunft blickt und glaubt, einen Frieden unter Einsatz militärischer Gewalt schaffen zu können. Für diese „unerschrockene“, weil ahnungslose und darum verantwortungslose Generation insbesondere der Jungpolitiker ist nicht nur „Stalingrad ein Filmtitel“, sondern sie weiß auch gar nicht mehr, was Stalingrad überhaupt war.

Verstört und irritiert blickt unsereiner auf das westliche Management des Ukrainekonflikts, das von der Logik des Krieges – der Logik der Bestraffung, der Vergeltung und des Hasses – geradezu besessen ist.

Gefangen in dieser Logik des Krieges ist auch Wolfgang Ischinger (geb. 1946), der zu jener Nachkriegsgeneration gehört, die von der „Gnade der späten Geburt“ (Helmut Kohl ) profitiert und den Krieg persönlich nie erlebt hat. Getreu dieser Kriegslogik empfehlt Ischinger in einem Focus-Interview unter dem bezeichnenden Titel „Für Diplomaten ist eine Welt zerbrochen“ vom 13. Februar 2023: „Solange Präsident Putin glaubt, den längeren Atem zu haben …, müssen wir die Ukraine unterstützen … Ernst gemeinte Verhandlungen kann man leider nur unter Einsatz militärischer Mittel herbeiführen.“

Ischingers Kriegslogik ist darüber hinaus einer noch viel subtileren Natur: Sie hetzt nicht gegen den Feind. Nein, nein, sie verklärt lieber schnörkellos die Geschichte und betreibt dadurch eine Geschichtsklitterung. „Wenn man bedenkt“ – empörte sich Bismarck einst -, „wie über eine politische Periode, welche selbst nur drei Jahre zurückliegt, mit Erfolg gelogen wird, so ist es schwer, alles das zu glauben, was einem die Geschichte aus alten Zeiten überliefert hat.“2

Seit Bismarcks Empörung hat sich im Grunde nicht viel geändert. In vielerlei Hinsicht ist es sogar viel schlimmer geworden. So blendet Ischinger die geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen im Europa der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre komplett aus und datiert den Beginn aller Spannungen zwischen Russland und dem Westen wider besseres Wissen mit dem Jahr 2007. „Viele Beobachter“ – schreibt Ischinger in seinem oben zitierten Beitrag – „sehen Putin-Rede von 2007 heute als Auftakt der revisionistischen Phase der russischen Außenpolitik, als damals im Westen leider nicht hinreichend ernst genommene Warnung.“

Dabei unterschlägt Ischinger die Hintergründe dieser „Putin-Rede von 2007“:

(a) die US-Absichten zur Errichtung eines groß angelegten Raketenabwehrsystems der Nato gegen den Iran, was aus russischer Sicht als gegen Russland gerichtet angesehen wurde, wodurch die russische Führung die strategische Stabilität als gefährdet ansah;
(b) eine zunehmende Militarisierung der westlichen bzw. US-amerikanischen Außenpolitik und nicht zuletzt
(c) die nicht enden wollende Nato-Osterweiterungspolitik.

Zu (a) : Bereits am 13. Dezember 2001 kündigte US-Präsident George W. Bush den ABM-Vertrag aus dem Jahr 1972, der die Raketenabwehr der USA und der UdSSR drastisch begrenzt hatte, mit den lakonischen Worten auf: „Heute habe ich Russland dem Vertrag entsprechend formell mitgeteilt, dass die USA sich aus diesem fast 30 Jahre alten Vertrag zurückziehen.“ Ein Jahr später hat der US-Präsident den Aufbau einer Raketenabwehr in Fort Greeley (Alaska) bekannt gegeben, die bis zum Jahr 2004 einsatzbereit sein sollte.

Als es darum ging, auch in Europa ein US-Raketenabwehrsystem zu errichten, war der Irak als möglicher „Bösewicht“ bereits ausgeschaltet. Und so hieß es in den Medien (August 2006): „Raketenschild: Bush will Europa vor dem Iran schützen“. „Die USA wollen in den kommenden Monaten Standorte für Abfangraketen in Europa vorschlagen, mit denen mögliche iranische An-griffe verhindert werden sollen. Die USA planen, bis 2011 zehn Abfangraketen in Europa zu stationieren.“

Am 2.6.2007 meldete dann Radio Prag: „US-Präsident Bush hält Tschechien und Polen für den Aufbau des geplanten Raketenabwehrsystems am besten geeignet, da das System dort am effektivsten eingesetzt werden könnte. … Der amerikanische Präsident wiederholte, dass sich das Raketenabwehrsystem nicht gegen Russland richten werde. Russland lehnt den Aufbau des Systems ab. Bush verteidigte die Pläne zum Aufbau der Raketenabwehr mit der Bedrohung aus dem Iran. Bush sagte, er habe große Befürchtungen, dass der Iran Raketen mit Atomsprengköpfen bauen könnte.“3

Wie Iran seine nicht vorhandenen Langstreckenraketen abfeuern sollte, damit sie ausgerechnet über Polen und Tschechien abgeschossen werden könnten, blieb das Geheimnis der Bush- Administration. Dass eine solche Entwicklung die russische Führung beunruhigt und bei ihr die Besorgnis um die strategische Stabilität ausgelöst hat, versteht sich von selbst.

Zu (b) : Auch über eine wachsende Militarisierung der US-Außenpolitik war die russische Führung besorgt. Und so sprach Putin in seiner Münchener Rede am 10. Februar 2007 darüber, dass „wir heute eine fast unbegrenzte, hypertrophierte Anwendung von Gewalt – militärischer Gewalt – in den internationalen Beziehungen (beobachten) – einer Gewalt, welche eine Sturmflut aufeinander folgender Konflikte in der Welt auslöst. Im Ergebnis reichen dann nicht die Kräfte für eine komplexe Lösung wenigstens eines dieser Konflikte.“

Zu (c) : Die Nato-Expansionspolitik gen Osten war erst recht der Stein des Anstoßes in Putins Rede. „Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen“, betonte er und fügte gleich hinzu: Die NATO-Erweiterung sei ein „provozierender Faktor“. „Ich denke“ – beklagte sich Putin bitter -, „es ist offensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung keinerlei Bezug zur Modernisierung der Allianz selbst oder zur Gewährleistung der Sicherheit in Europa hat. Im Gegenteil, das ist ein provozie-render Faktor, der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr.“

Vor diesem Hintergrund erweist sich die Putin-Rede von 2007 entgegen der Beteuerung von Ischinger nicht so sehr als ein Auftakt der „revisionistischen Phase der russischen Außenpolitik“, als vielmehr als Klagelied und Verzweiflungsgeschrei in Richtung Westens, die russischen Sicherheitsinteressen ernst zu nehmen. Dem wurde aber kein Erfolg beschieden. Ganz im Gegenteil: Putins Rede wurde belächelt, mit Unverständnis zur Kenntnis genommen und mit kaum verhohlener Arroganz ins Lächerliche gezogen.

Das war nun mal die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene geopolitische Realität in Europa, die von der US-Hegemonialmacht dominiert wurde. Noch im Jahr 2014 verspottete Obama Russland als „Regionalmacht“ zum Entsetzen mancher Zeitgenossen.

Und so missdeutet Ischinger bis heute „die Putin-Rede von 2007“, wenn er anschließend mit Verweis auf das Jahr 2008 und die „brutale russische Aggression gegen die Ukraine – seit 2014, nicht erst seit 2022“ feststellt: „Das deutsche Glücksgefühl, seit 1990 nur noch von Freunden umgeben zu sein, hat sich … genauso aufgelöst, wie die Hoffnung auf eine nachhaltige und regelbasierte europäische, ja globale Friedensordnung.“ Das gleiche ist auch im „Munich Security Report 2023“ (Munich, February 2023) zu lesen: Die russische Invasion auf die Ukraine sei „der unverfrorenste Angriff auf die regelbasierte Ordnung“.

Ohne sich dessen bewusst zu sein, hat Ischinger und seine Protagonisten mit ihren gleichlautenden Äußerungen den Revisionismus-Vorwurf an die Adresse Putins regelrecht entkräftet. Es war nämlich nicht Putin , sondern ganz im Gegenteil der Westen selber, der nach dem Untergang des Sowjetimperiums einen Revisionsprozess in Gang gesetzt hat. Statt der nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges etablierten UN-Ordnung weiter auszubauen, wurde sie in eine vom Westen bzw. US- Hegemon dominierte „regelbasierte europäische, ja globale Friedensordnung“ transformiert.

Und jetzt liegt für Ischinger – man sehe und staune – auf einmal die Welt in Trümmern. Wörtlich sagt er in eben genannten Focus-Interview: „Für eine ganze Generation von Diplomaten und Politikern ist eine Welt in Scherben zerbrochen. Ich habe meine ersten diplomatischen Gehversuche unter Bundeskanzler Helmut Schmidt gemacht und später unter Außenminister Hans-Dietrich Genscher gearbeitet – mit der Vorstellung, dass das zentrale Ziel deutscher Sicherheitspolitik eine dauerhafte Friedensordnung für Europa einschließlich der früheren Sowjetunion sein muss. Das war ein wunderbares Ziel schon in den 70er und 80er Jahren, während des Kalten Krieges.“

Nun ja, die Zeiten, in denen das „Gleichgewicht des Schreckens“ herrschte und man einander Respekt zollte, sind längst vorbei. Heute leben wir in einer anderen „regelbasierten“ Welt- bzw. Friedensordnung. Diese sog. „regelbasierte Friedensordnung“, die wir spätestens seit dem Kosovo-Krieg 1999 eine unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen nennen, hat Putin in seiner Münchener Rede angeprangert und heftig kritisiert, als er u. a. feststellte: „Man darf die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen.“ Und wenn man Ischingers Revisionismus-Vorwurf gelten lässt, so geht es hier im Grunde genommen um eine Revision der Revision.

Der Kosovo-Krieg (1999) und nicht „die Putin-Rede von 2007“ war ein Auftakt der revisionistischen Phase der US-amerikanischen Weltordnungspolitik. Er offenbarte mit aller Deutlichkeit die Folgen des Untergangs der Sowjetunion. Die ganze Tragweite des Transformationsprozesses von der Nachkriegsordnung in eine unipolare Weltordnung ging zunächst verborgen vor sich, bis die nachfolgenden militärischen US-Interventionen und Invasionen ihn sichtbar werden ließen. Mit dem Kosovo-Krieg demonstrierten die USA und die Nato ihr neues Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“.

Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Volksrepublik Jugoslawien, legte aber gleichzeitig ein Fundament für einen Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung.

Dieses (neue) revisionistische Weltordnungssystem zeichnete sich dadurch aus, dass es sich selbst im Namen der Menschenrechte legitimiert , das Gewaltverbot der UN-Charta umdefiniert und das UN-Recht ins NATO-„Völkerrecht“ transformiert. Auf der Grundlage dieser Neulegitimation, Umdefinition und Transformation entstand eine unipolare Weltordnung mit noch mehr Gewalt und Zerstörung, begleitet von zunehmenden Spannungen zwischen dem US-Hegemon und seinen geopolitischen Rivalen China und Russland.

Mit dem Kosovo-Krieg wurde die UN-Nachkriegsordnung einer Revision unterzogen, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Weltordnung überging. Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle , 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).

In dieser Äußerung von Richard Perle verdichtet sich die Quintessenz der sog. „regelbasierten Friedensordnung“. Sie und nur sie dürfte über Krieg und Frieden entscheiden. Jeder, der dieser Regel im Wege steht, ist nach dieser Lesart ein Rechts- und Friedensbrecher und darum ein Kriegsverbrecher . Und genau in diesem Kontext prangert Ischinger Putin – ohne ihn beim Namen zu nennen – als „Kriegsverbrecher“ an.

„In der internationalen Krisendiplomatie muss man mit den schlimmsten Kriegsverbrechern reden“, meint Ischinger in seinem Focus-Interview unerschrocken und selbstsicher, „egal ob sie verurteilt sind oder nur von uns als solche bezeichnet werden. Ich bedaure keine Sekunde, dass ich Wochen meines Lebens mit dem später als Kriegsverbrecher angeklagten Slobodan Milosevic verbracht habe. Ohne diese intensiven Gespräche hätten wir die Friedensregelung für Bosnien-Herzegowina 1990 nicht hingekriegt oder später die Beilegung des Kosovokrieges. Das diplomatische Geschäft hat leider auch schmutzige Seiten.“

Es wäre nur dann legitim, Putin als „Kriegsverbrecher“ zu stigmatisieren, wenn Ischinger im gleichen Atemzug auch die Kriegsverbrechen des Westens thematisiert hätte. Wo war Ischinger denn in den vergangenen zwanzig Jahren, in denen die USA und ihre Nato-Verbündeten zahlreiche völkerrechtswidrigen Angriffskriege geführt und welche Hunderttausende Menschenleben gekostet haben.

Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“ geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen“. In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ usw.4

Davon will nicht nur Ischinger , sondern auch die gesamte westliche politische Klasse nichts hören und nichts wissen. Indem sie Putin als „Kriegsverbrecher“ denunzieren, lenkt sie nur von den eigenen Untaten ab.

Putin hat mit seiner Münchener Rede nicht die „revisionistische Phase der russischen Außenpolitik“ eingeleitet, sondern die Revision der Nachkriegsordnung durch den US-Hegemon in Frage gestellt. Das war aus westlicher Sicht das Ungeheure an seiner Rede. Putin, dessen Land den Kalten Krieg „verloren“ hat, wagte es den US-Hegemon herauszufordern und die von den USA geführte unipolare Weltordnung zu konterkarieren.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine schickte sich Putin nunmehr im Jahr 2022 – fünfzehn Jahre nach seiner Münchener Rede – an, diese unipolare Weltordnung zu überwinden, um die Revision der Nachkriegsordnung rückgängig zu machen bzw. zu revidieren. Ob diese Revision der Revision erfolgreich sein wird, hängt vom Ergebnis des Ukrainefeldzugs ab.

2. „Im Antlitz des Sieges“?

Nun rechnet Ischinger fest mit dem Sieg der Ukraine und in dieser Siegesgewissheit ruft er gönnerhaft die deutsche Öffentlichkeit dazu auf: „im Antlitz des Sieges Zurückhaltung zu üben“. Wofür will Ischinger denn „Zurückhaltung“ üben? Um Gnade des Siegers für den Besiegten walten zu lassen? Woher kommt diese beinahe „mystische“ Selbstgewissheit und Selbstsicherheit über den Sieg der Ukrainer und die Niederlage der Russen?

Wie auch immer, enttäuscht und verbittert fragt Ischinger selbstmitleidend: „Waren denn alle unsere Bemühungen um Versöhnung und Entspannung, um Ausgleich umsonst?“ Die Gegenfrage: Von welcher Versöhnung, Entspannung und Ausgleich ist hier die Rede?

Meint Ischinger mit „Versöhnung“ etwa Brzezinskis „imperiale Geostrategie“5 oder noch besser das von Paul D. Wolfowitz bereits im Jahr 1992 konzipierte Präventivstrategiepapier „Defense Planning Guidance“? In diesem Strategiepapier propagierte Wolfowitz als Hauptziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien“.

Oder meinte Ischinger mit „Entspannung“ die Nato-Expansionspolitik gegen den erbitterten Widerstand Russlands und eine bewusste Ignorierung dessen vitaler Sicherheitsinteressen? Und um welchen „Ausgleich“ geht es hier überhaupt? Nicht um den „Ausgleich“ ging es dem Westen, sondern um eine Anpassung Russlands den sog. westlichen „Standards“ und in deren Schlepptau eine Angleichung des russischen politischen Systems an den vom Westen proklamierten Wertuniversalismus von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten. Daran hat sich die westliche Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre ihre Zähne ausgebissen und ist letztendlich kläglich gescheitert.

Russland stand nach dem Untergang des Sowjetreiches vor einem doppelten Dilemma: Es musste sich zum einen für die Übernahme oder Nicht-Übernahme des westlichen Wertsystems entscheiden; zum anderen ging es Russland um die Teilnahme oder Nicht-Teilnahme an den vom Westen geleiteten politischen Einrichtungen. Kurzum: Russland war gezwungen, sein Verhältnis zum Westen zu definieren. Das Ergebnis dieser Selbstverortung fiel negativ aus.

„Das Modell der unipolaren Weltordnung, welches sich um die USA und ihre Verbündeten zentriert und Vierteljahrhundert lang als naturgegeben und unausweichlich gilt, hat die ersten Risse bereits Anfang des 21. Jahrhunderts … bekommen,“ diagnostizierten Aleksej Miller und Fjodor Lukjanov bereits 2016 in einer programmatischen Studie.6

Das infolge der ideologischen Blockkonfrontation der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte westliche Modell hat nach Meinung unserer Autoren 2014 seine Grenze erreicht, als die EU und die Nato begannen, die Ukraine institutionell an sich zu binden, bei gleichzeitiger Weigerung mit Russland darüber diskutieren zu wollen, was dann dessen harte Reaktion provozierte. Moskau sei endgültig zu dem Schluss gelangt, dass die „geopolitische Gier“ des Westens nur mit „eiserner Faust“ (Sergej Karaganov ) entgegenzutreten sei.

Russland akzeptierte Anfang der 1990er-Jahre zunächst vorbehaltslos, gegen Ende des Jahrhunderts aber mit zunehmender Distanz die bestehende, vom Westen für selbstverständlich gehaltene „neue Weltordnung“. Der Westen ging davon aus, dass die Expansion seines Modells und seiner Institutionen historisch unumkehrbar sei und deswegen keiner Diskussion bedürfe. Der unaufhaltsame Zerfall der internationalen Einrichtungen habe allerdings nicht so sehr etwas mit Russland zu tun, als vielmehr mit tiefgreifenden Problemen des Kernbestandes der nach dem „Kalten Krieg“ geschaffenen unipolaren Weltordnung.

Vom Standpunkt des Westens – stellen Miller /Lukjanov fest – würde die Rückkehr zum Dialog über vertrauensbildende Maßnahmen, Russland als einen gleichberechtigten Partner zu legitimieren, was der Philosophie der 1990er und 2000er Jahre vollkommen widersprach. Der Versuch, die euro-atlantische Nachkriegsordnung in Eurasien zu etablieren, installieren und zu implementieren, sei jedoch aus heutiger Sicht grandios gescheitert.

Dieser Befund stammt aus dem Jahr 2016. Seitdem hat sich die geo- und sicherheitspolitische Lage in Europa infolge des Kriegsausbruchs in der Ukraine 2022 und im globalen Raum nicht zuletzt wegen der zunehmenden Spannungen zwischen China und den USA dramatisch verschlimmert. Statt aber diese geo- und sicherheitspolitischen Prozesse analytisch zu vergegenständlichen, versteckt sich Ischinger hinter den wohlklingenden, aber nichts sagenden Schlagworten wie Versöhnung, Entspannung und Ausgleich.

Diese geo- und sicherheitspolitische Selbstdarstellung ist nichts weiter als eine Verschleierung und Verharmlosung der westlichen bzw. US-Geostrategie zur Domestizierung und Marginalisierung Russlands als Großmacht. Da bleibt kein Platz für eine Selbstreflexion. Ganz im Gegenteil! Ischinger zählt alle Taten und Untaten der russischen Außenpolitik seit 2008 auf, verschweigt aber gleichzeitig die vorangegangene westliche „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock ): „In den 14 Jahren seit 2008, die ich die MSC führen durfte“ – entrüstet sich Ischinger -, ist eine Krise der anderen gefolgt: vom Krieg in Georgien 2008 über die Finanz- und Euro-Krise und dem Syrienkrieg bis zur Annexion der Krim 2014 und zur Migrationskrise von 2016…“.

Man fragt sich irritiert: Wo war Ischinger im Jahr 1997 – dem Beginn der Nato-Expansionspolitik gegen den heftigen Widerstand Russlands? Auf dem Nato-Gipfel in Madrid 1997 wurden Polen, Tschechien und Ungarn Beitrittsverhandlungen angeboten. Bereits am 12. März 1999 traten Polen, Tschechien und Ungarn der Nato bei, die Slowakei folgte im Jahr 2004.

Wo war Ischinger im Jahr 1999 , als die Nato einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien vom Zaun gebrochen hat, womit die Nato ihr neues Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“ demonstrierte. Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Keine Empörung hat man damals von Ischinger vernommen.

Noch gravierender war der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der USA gegen Irak im Jahr 2003 . Und es war der georgische Staatspräsident Michail Saakaschwili und nicht Putin , der den Augustkrieg im Jahr 2008 vom Zaun gebrochen hat. Es ist nicht überliefert, dass Ischinger den georgischen Staatspräsidenten aufs Schärfste verurteilt hat.

1997 – 1999 – 2003 – 2004 sind die Marksteine der westlichen bzw. US-Geo- und Außenpolitik, die der Putin-Rede von 2007 vorausgegangen und die im Wesentlichen für die Depravierung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verantwortlich sind.

„40 Staats- und Regierungschefs und etwa 100 Minister und andere hochrangige internationale Regierungsvertreter werden“ -frohlockt Ischinger – an der MSC-Konferenz 2023 teilnehmen. Nun fragt der Focus-Journalist verwundert: „Aber wie, wenn keine Russen eingeladen sind? Wer soll da mit wem reden?“ Die Reaktion Ischingers : „Wenn alles klappt, wird der bisherige chinesische Außenminister, der jetzt zum Staatsrat upgegradet wurde, die chinesische Delegation anführen. Ich halte es für wahrscheinlich, dass führende Persönlichkeiten aus den USA mit dem chinesischen Delegationschef hinter verschlossenen Türen sprechen … Allein oder mit anderen wäre China vielleicht imstande, einen Friedensvorschlag zu machen. Das würde in den USA vermutlich nicht größte Freude auslösen. Aber Chinas Führung ist eine der wenigen auf der internationalen Bühne, die Moskau nicht ignorieren kann.“

Seit wann ist China Russlands „Big Brother“? Verwechselt Ischinger die russisch-chinesischen Beziehungen nicht etwa mit dem deutsch-amerikanischen Vasallenverhältnis? Russland ist eine Groß- und Nuklearmacht! Sie kann alle und jeden ignorieren, solange es um seine vitalen Sicherheitsinteressen geht. Ischingers Äußerung zeigt nur eines, wie hilf- und machtlos die westliche Kriegsdiplomatie agiert, wie sehr sie mit ihrer Kriegslogik in eine Sackgasse geraten ist und wie wenig sie begriffen hat, woran die westliche Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre gescheitert ist.

Darüber hinaus ist Ischinger offenbar über die chinesische Russlandpolitik unzureichend informiert. Nach Einschätzung der am 6. September 2022 veröffentlichten russischen Studie „Die Strategische Partnerschaft zwischen Russland und China unter den Bedingungen der europäischen Krise“7 hat der Westen die Möglichkeit einer tiefgehenden strategischen Partnerschaft zwischen Russland und China in der neuen Epoche der geopolitischen Machtrivalität schlicht und einfach unterschätzt.

Die Ereignisse der letzten Monate haben die Erwartung an die „Zerbrechlichkeit“ der Moskau-Peking-Beziehungen widerlegt. Vielmehr haben diese Ereignisse die strategische Vision der beiden Großmächte nur noch untermauert und die Bereitschaft unterstrichen, sich gegenseitig in der Lösung der schwierigen außenpolitischen Probleme zu unterstützen.

Bereits Mitte März 2022 war sich Washington der ganzen Aussichtslosigkeit bewusst, China auf die Seite der USA zu ziehen und dazu zu bewegen, eine weniger prorussische Position im Ukrainekonflikt anzunehmen. Als Folge dieser Einsicht ging Washington zur Konterattacke auf den anderen für China wichtigen Politikfeldern mit Schwerpunkt Taiwan über.

Die diplomatischen Aktivitäten Moskaus und Pekings auf der Weltbühne haben – resümieren die Autoren am Ende ihrer Studie – gezeigt, dass die russisch-chinesischen Beziehungen ein solch hohes Entwicklungsniveau erreicht haben, welches es nie in der Geschichte der beiden Staaten gegeben habe.

Der Grund für ein solch enges Zusammenwirken zwischen Moskau und Peking sei nicht – unterstreichen sie – der russisch-ukrainische Konflikt, sondern ein natürlicher Zustand der langwierigen strategischen Partnerschaft.

Zudem ist China wegen der wachsenden Konfrontation mit den USA mehr denn je auf Russland angewiesen. In China und Russland ist mittlerweile der Spruch weit verbreitet: Russen und Chinesen stehen Rücken an Rücken zueinander.

Und was macht die Münchener Sicherheitskonferenz 2023? Russen wurden nicht eingeladen, um laut dem neuen Chef der MSC, Christoph Heusgen , keine Arena für Propaganda zu bieten. Nun ja, was Propaganda ist, entscheidet heutzutage nicht die Evidenz, sondern die Gegenmacht, die das als bloße Propaganda denunziert, was mit ihrer eigenen Propaganda nicht übereinstimmt.

Und die Chinesen? Chinesen werden einen Teufel tun, als Vermittler zwischen Russland und dem Westen aufzutreten. Den westlichen Konferenzteilnehmern bleibt sodann nichts anderes übrig, als sich selbst auf die Schulter zu klopfen, sich gegenseitig Mut zu machen, den „Kriegsverbrecher“ Putin zu beschimpfen und nicht zuletzt Selbstgespräche unter Gleichgesinnten zu führen.

Das ist allerdings ziemlich wenig in Zeiten des Krieges! Nun äußert Ischinger seine „Hoffnung und die des gesamten MSC-Teams, dass sich an dem Konferenzwochenende Impulse und Initiativen ergeben, die den Weg zu einer baldigen Kriegsbeendigung ebnen können.“ Wie soll das denn bewerkstelligt werden, ohne Gespräche mit Russland zu führen? Soll schon wieder über die Köpfe der Russen entschieden und irgendetwas in der Hoffnung „initiiert“ werden, damit „die Ukraine sich erfolgreich behaupten kann“?

Gefangen in der Logik des Krieges, predigt Ischinger eine Kriegs- und keine Friedensdiplomatie „im Antlitz des Sieges“. Getreu dieser Siegesgewissheit forderte er unlängst in tagesschau.de am 14. Februar 2023, „eine politisch-strategische Kontaktgruppe“ einzurichten, „um die westlichen Kriegsziele so klar zu definieren, dass wir alle wissen …, wo es hingeht.“

„Westliche Kriegsziele“? Führt der Westen etwa doch einen Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden? Hat Annalena Baerbock mit ihrem peinlichen Ausrutscher „We are fighting a war against Russia“ (25. Januar 2023) doch recht? Mit ihrer Kriegsrhetorik befinden sich die westlichen Machteliten im Blindflug und merken nicht, wie gefährlich ihr Weg ist. „Wen Gott verderben will, den schlägt er mit Blindheit“ (Sophokles, Antigone).

Anmerkungen

1. Zitiert nach Lewis, F., Wenn Europa an Krieg denkt, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der Atomkrieg rückt näher. Hamburg 1981, 199-201 (199).
2. Zitiert nach Matthias, L. L., Die Kehrseite der USA. Rowohlt 1964, 81.
3. Zitiert nach Steinbicker, O., Die Lüge vom Raketenabwehrschild gegen Iran, in: Aachener Friedensmagazin aixpaix.de.
4. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. 2. Aufl., Wien 2019, 131-152 (132, 141 f.).
5. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022.
6. Миллер, А./Лукьянов, Ф., Отстраненность вместо конфронтации: постевропейская Россия в поисках в самодостаточности. 2016, 4.
7. Стратегическое партнёрство России и Китая в условиях европейского кризиса. Доклад Международного дискуссионного клуба „Валдай“. Сентябрь 2022. 18.

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