Verlag OntoPrax Berlin

Von der Rückkehr der Großmächterivalität

Im Zangengriff zwischen Geopolitik und Machtrivalität

Übersicht

1. Vom Primat der Geopolitik (Ivo Dalder)
2. Von der Rückkehr der Großmachtpolitik (Emma Ashford)
3. Zwei konträre Ordnungsprinzipien

Anmerkungen

Der Ukrainekrieg habe „nicht im Februar (2022)
… begonnen. Er begann im Jahr 2014.“
(Jens Stoltenberg, 13. Februar 2023)

1. Vom Primat der Geopolitik (Ivo Dalder)

Zwei beachtenswerten Studien erschienen neuerlich in „Politico“ und „Foreign Affairs“. Die erste Studie „Consequences of Putin’s war go beyond its implications for Russia“ (Politico, 15. Februar 2023) stammt vom ehem. US-amerikanischen Nato-Botschafter und Präsident des Chicago Council on Global Affairs, Ivo Dalder . Die zweite Studie „The Persistence of Great-Power Politics“ schrieb eine junge Wissenschaftlerin Emma Ashford (a term member of the Council on Foreign Relation) fünf Tage später am 20. Februar 2023 für „Foreign Affairs“.

Die beiden Studien können in ihrer geopolitischen Würdigung des Ukrainekrieges und der Ukraine- bzw. Außenpolitik der Biden-Administration kaum unterschiedlicher sein. „Während sich der Krieg selbst für Moskau als katastrophal erwiesen hat, ist das geopolitische Ergebnis für Russland, wenn überhaupt, noch schlimmer“, steht bereits im Untertitel des von Ivo Dalder veröffentlichten Schriftstücks.

Mit Hohn und Spott überzieht er die russische Kriegsführung. Je herablassender er sich über die Fähigkeiten der russischen Armee äußert, umso mehr ist er begeistert über das ukrainische Militär. „Weit entfernt von einer schnellen Niederlage und einem Leben unter einer von Moskau kontrollierten Marionettenregierung steht Kiew nicht nur trotzig da, sondern hat auch die Oberhand im Krieg. … Der endgültige Sieg der Ukraine ist noch lange nicht sicher, aber Russlands Entscheidung, in den Krieg zu ziehen, wird heute weithin als strategisches Debakel historischen Ausmaßes angesehen – und niemand hat dieses Ergebnis vor einem Jahr vorausgesehen.“

Offenbar hat Dalder eine anspruchsvolle militärstrategische Studie von Dara Massicot in „Foreign Affairs“ nicht gelesen. Trotz zahlreicher Fehler Moskaus warnt sie in ihrer Studie „What Russia Got Wrong. Can Moscow Learn From Its Failures in Ukraine?“ eindringlich davor, Russland zu unterschätzen. Unter der Schlagzeile „Der Bär lernt“ (the Bear is learning) schreibt sie: Es sei zu früh, die russische Armee abzuschreiben. Putin grabe sich auf lange Sicht ein und sei immer noch in der Lage die komplexen Operationen durchzuführen. Russland habe gelernt, die Fehler zu korrigieren usw.

Davon wollen Dalder und seine zahlreichen Protagonisten in den USA und der EU nichts hören und nichts wissen. „Obwohl sich der Krieg selbst als katastrophal erwiesen hat“ – beteuert er – „sind die geopolitischen Folgen für Russland eher noch schlimmer“ (the geopolitical consequences for Russia are, if anything, even worse).

Von welchen „geopolitischen Folgen“ ist hier die Rede? Dalder geht davon aus, dass Putin sowohl die Einigkeit des Westens als auch den ukrainischen Widerstand unterschätzt und Chinas Unterstützung überschätzt habe. Berücksichtige man auch den Wunsch Finnlands und Schwedens, der Nato-Allianz beizutreten, so sei der Westen nach Dalders Überzeugung aus Putins Aggression gestärkt hervorgegangen und setzt sich nun voll und ganz dafür ein, Russlands strategische Niederlage („Russia’s strategic defeat“) sicherzustellen.

Der Ukrainekrieg entpuppe sich immer mehr als ein „großer strategischer Fehlschlag für Rusland“ (a grand strategic failure for Russia). Und so habe sich – schlussfolgert Dalder – „das Machtgleichgewicht“ (the balance of power) zwischen dem einst im Niedergang begriffenen Westen und dem vermeintlich aufstrebenden Osten entscheidend zu Gunsten des ersteren verschoben. Diese Verschiebung habe gravierende Auswirkungen auf „das relative Gleichgewicht zwischen Geopolitik und Geoökonomie“ (the relative equilibrium between geopolitics and geoeconomics).

Es sei dahingestellt, ob das seit dem Untergang des Sowjetimperiums zu keiner Zeit existierende „Machtgleichgewicht“ zwischen dem Westen und Osten etwas mit dem „equilibrium between geopolitics and geoeconomics“ zu tun hat.

Worauf Ivo Dalder mit seiner Äquilibrium-Feststellung hinaus will, kommt allerdings erst am Ende seines Artikels zur Sprache: Kurzfristig gehe es darum, „der Ukraine zu helfen, Russland zu besiegen“ (to help Ukraine defeat Russia). Viel entscheidender sei aber das langfristige Ziel. Dieses Ziel bestehe in der „Anerkennung des Vorrangs der Geopolitik vor der Geoökonomie, um den geopolitischen Wettbewerb mit China zu gewinnen“ (recognize the primacy of geopolitics over geoeconomics in order to win the geopolitical competition with China).

Es ist schon sehr aufschlussreich, ja geradezu inspirierend sehen zu können, wie ein US-Diplomat auf Grundlage einer fragwürdigen Analyse zu einer richtigen geopolitischen Schlussfolgerung gelangt. Das übergeordnete (langfristige) geopolitische Ziel sei nach seiner Auffassung China und nicht Russland. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen nach Dalder drei Voraussetzungen erfüllt werden:

  • Russland muss geschwächt bzw. besiegt werden. (Dalder zielt auf Russland, um letztlich China zu treffen. Denn werde Russland geschwächt bzw. erleide es eine „strategische Niederlage“, bleibe China – geostrategisch gesehen – ganz allein auf weiter Flur und werde einem militärischen Druck des Westens bzw. der USA nicht standhalten können).
  • Die Überwindung bzw. Zerstörung des Äquilibriums zwischen Geopolitik und Geoökonomie zu Gunsten der Geopolitik (Eine geoökonomische Decoupling-Strategie der Trump-Administration will Dalder zwar nicht beseitigen, wohl aber der Geopolitik unterordnen lassen. Zu Ende gedacht, bedeutet die US-Geostrategie nicht nur eine „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock ), sondern auch eine beschleunigte Militarisierung der US-Geopolitik).
  • Geopolitik priorisiert Geoökonomie 1 (Der Vorrang der Geopolitik vor der Geoökonomie bedeute im Kontext der Großmächterivalität eine gleichzeitige Militarisierung der US-Russland- und China-Politik. Ein handels- und finanzpolitischer Sanktionskrieg reiche eben nicht mehr aus, um die unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen langfristig aufrechtzuerhalten. Es bedürfe einer militärischen Option.)

Der Primat der Geopolitik vor Geoökonomie („the primacy of geopolitics over geoeconomics“) ist weder eine neue Erkenntnis noch eine neue Strategie. Neu ist lediglich die Tatsache, dass es bei manchen Repräsentanten des außenpolitischen US-Establishments allmählich dämmert, dass man allein mit einer geoökonomischen Kriegsführung nicht weiterkommt. Im Gegensatz zur Trump-Administration, die vergeblich versuchte, Chinas Aufstieg mit einem Handels- und Sanktionskrieg zu überziehen, dessen ökonomischen Aufstieg zumindest zu verlangsamen – wenn nicht gar auszubremsen – und darum einen Geo-Bellizismus2 vom Zaun zu brechen, spielt die Geopolitik bei der Biden-Administration längst eine dominierende Rolle.

Die Postulierung des Vorrangs der Geopolitik ist aber nichts anderes als eine verklausulierte Aufforderung zur Priorisierung der militärischen Konfrontation und darum viel gefährlicher als Trumps geoökonomische Strategie.

Nirgendwo sonst prallen die Interessen der USA, China und Russland so stark aufeinander wie in der Geo- und Sicherheitspolitik, die vom Westen axiologisch camoufliert und geoökonomisch eskaliert wird. Wenn es um die Geo- und Sicherheitspolitik geht, kann eine ökonomische Pression in der Tat weder die russische Führung noch die russisch-chinesischen Beziehungen sonderlich beeindrucken. Russland hat in seiner Geschichte genauso, wie in der Gegenwart, schon immer die Geopolitik priorisiert .

Zwei Jahre nach der Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation berichtete Andrej Jakovlev (Direktor des Instituts Unternehmens- und Märkte-Analysen der Higher School of Economics Moskau): In „den letzten Jahren (wurden) eine Reihe sehr wichtiger Entscheidungen ohne Berücksichtigung ihrer wirtschaftlichen Folgen getroffen … Hierzu sei lediglich auf die Feststellung der ersten stellvertretenden Finanzministerin, Tatjana Nesterenko, verwiesen: >Das Finanzministerium wurde nicht gefragt, wieviel die Entscheidung zur Krim kosten wird<.“3

Überliefert werden auch manche „Kommentare führender Unternehmer zu den Ergebnissen eines vertraulichen Treffens von Wladimir Putin mit Vertretern der Großunternehmen, das am 24. Dezember 2015 im Kreml stattfand. Teilnehmer des Treffens meinten drei Monate später anonym, dass der Präsident >über Geopolitik sprach, wobei es um die Ukraine und die Türkei ging, und darum, dass die Situation politisch diffizil sei<. Die Probleme der einzelnen Unternehmen seien allerdings nicht angesprochen worden, und >es sprach nur einer bei dem Treffen – der Präsident<.“4

Geopolitik steht – wie man sieht – über allem und nicht nur in Russland. Die russisch-chinesischen Beziehungen sind ebenfalls neben der ökonomischen Zusammenarbeit vor allem geo- und sicherheitspolitisch fundiert. Darauf weisen nicht nur die mit wachsender Tendenz immer öfter stattfindenden gemeinsamen Militärübungen hin, sondern auch eine gemeinsame Abwehrhaltung gegen den zunehmenden Druck des US-Hegemonen und seiner Verbündeten.

Dalders Forderung nach dem „Primat der Geopolitik“ ist darum weder neu noch originell. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Großmächterivalität läuft allerdings Dalders Propagierung des „Primats der Geopolitik“ letztlich auf einen Krieg des US-Hegemonen an zwei Fronten gegen Russland und China hinaus. Sind die USA überhaupt zu einem solchen Abenteuer in der Lage und fähig?

Diese „grandiose“ Strategie ist auf Sand gebaut. Selbst der große US-Geostratege Zbigniew Brzezinski hat mit seiner „imperialen Geostrategie“5 eine Bauchlandung erlitten. Und jetzt schickt sich ein selbsternannter Geostratege Ivo Dalder an, gleichzeitig Russland und China Parole zu bieten. Was würde Henry Kissinger dazu sagen?

2. Von der Rückkehr der Großmachtpolitik (Emma Ashford)

Zu ganz anderen Schlussfolgerungen kommt Emma Ashford in ihrer o. g. Studie „The Persistence of Great-Power Politics“. MitVerweis auf den Ukrainekrieg und die daraus resultierende neue „geopolitische Rivalität“ („geopolitical rivalry“) wundert sie sich über den Eskapismus des US-amerikanischen und EU-europäischen Establishments. Namentlich zitiert sie Ursula von der Leyen , die kurz nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine im März 2022 beteuerte, dass der Westen die richtige Entscheidung getroffen habe, indem er sich weigerte, die Fragen der Nato-Osterweiterung oder der ukrainischen Neutralität mit Russland zu diskutieren.

„Putin versucht“ – empörte sich von der Leyen -, „die Uhr in eine andere Epoche zurückzudrehen – eine Epoche brutaler Gewaltanwendung, Machtpolitik, Einflusssphären und interner Repression. Ich bin zuversichtlich, dass er scheitern wird.“ Mit kaum zu übertreffender Deutlichkeit kritisiert Ashford diese gängige und mantraartig wiederholte Ansicht, dass die „spheres of influence“ der Vergangenheit angehören, als realitätsfremd.

Es gebe den ersten großen europäischen Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg. Und was tun viele US-amerikanischen und EU-europäischen außenpolitischen Eliten (many American and European foreign policy elites)? Paradoxerweise betrachten sie den Ukrainekrieg nicht als Zeichen dafür, dass die Großmächterivalität und die Weltmachtpolitik realiter zurück seien (the realities of rivalry and international power politics are back). Stattdessen beharren sie nach wie vor auf den Triumph der westlichen Werte und Sicherheitskooperation (Western values and security cooperation).

Dieser überkommenen Geisteshaltung entgegnet Ashford (man hört gar nicht auf zu stauen) mit der zutreffenden Feststellung: „Was auch immer das Endergebnis dieses Krieges sein mag, dass er überhaupt stattgefunden hat, ist ein politisches Versagen“ (Whatever the final outcome of this war, that it happened at all is a policy failure).

Worin besteht nun ihrer Meinung nach dieses „politische Versagen“? Ashfords Antwort ist bemerkenswert: Der Ukrainekrieg sei die Folge einer schlecht gemanagten Großmächterivalität. Dieses schlechte Management zeige nämlich, zu welcher Katastrophe die Geisteshaltung der US-Politmacher führen kann, die ihre unipolare Denkweise nicht überwinden können (it shows the potential for catastrophe if U.S. policymakers cannot move past their unipolar mindset).

Und genau hier liegt nach Ashfords Meinung ein Problem. Solange „ein unipolares Momentum“ infolge der globalen US-Dominanz nach dem Untergang der Sowjetunion bestand, mussten sich die USA einfach mit der Frage nach den Einflusssphären gar nicht befassen, weil ihre Weltmachtstellung unangefochten war. Graham Allison brachte diese US-Geisteshaltung auf den Punkt: Die US-Politiker hätten aufgehört, die Einflusssphären anzuerkennen, „nicht weil das Konzept obsolet geworden ist“, sondern weil „die ganze Welt de facto zu einer einzigen amerikanischen Einflusssphäre wurde“ (The political scientist Graham Allison put it succinctly: U.S. policymakers had ceased to recognize spheres of influence, but „not because the concept had become obsolete. Rather, the entire world had become a de facto American sphere”).

Was Emma Ashford mit Verweis auf Graham Allison hier als „unipolares Momentum“ bezeichnet, ist nichts anderes als jener „One World“-Traum, von dem die ältere Generation der US-Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg vergeblich geträumt haben und welcher nach dem Untergang des Sowjetreiches tatsächlich in Erfüllung gegangen ist, um sich allerdings im Verlauf der vergangenen dreißig Jahre als ein Alptraum für den Rest der Welt zu erweisen.

Die nach dem Ende der Bipolarität von den USA geschaffene unipolare Weltordnung war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein zweiter Versuch , eine auf der Grundlage der sog. „westlichen Werte“ gegründete „One World“ zu schaffen und damit einen alten Traum der US-amerikanischen Weltpolitik zu verwirklichen.

Von Wendell Willkie 1943 stammend6, war der Ausdruck „One World“ als Vision bereits längst im außenpolitischen Denken der US-amerikanischen Machteliten verankert und wurde 1941 vom US- Kriegsminister Henry L. Stimson (1940-1945) auch öffentlich kundgetan. In seiner Rede vom 9. Juli 1941 vertrat Stimson die Auffassung, dass die Welt heute zu klein für zwei einander entgegengesetzte Systeme sei.7

Stimsons Vision wurde sodann von seinem Kollegen US-Außenminister James F. Byrnes (1945-1947) aufgegriffen, indem er an der Potsdamer Konferenz (Juli/August 1945) die Sowjetunion in das US-amerikanische „One-World“-System zu integrieren versuchte, womit er bekanntlich gescheitert ist. Die geopolitischen und vor allem ideologischen Machtinteressen standen in derart krassen Gegensatz zueinander, dass von der Verwirklichung eines „One-World“-Traums gar keine Rede sein konnte.8

Mit dem Untergang des Sowjetreiches witterten die USA nunmehr eine neue Chance, den Traum zu verwirklichen und versuchten tatkräftig diese Vision nicht ohne Erfolg zum neuen Leben zu erwecken. Allerdings gelang es ihnen eine unipolare Weltordnung lediglich als Abklatsch vom „One-World“-Traum entstehen zu lassen, welche mehr schlecht als recht etwa dreißig Jahre andauerte.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist die unipolare Welt in ihrer Existenz bedroht. Darum kämpfen die USA so verbissen und unerbittlich um die Ukraine „bis zum letzten Ukrainer“, wie der britische Ex-Premier Boris Johnson es im Frühjahr zynisch formulierte. Russland müsse eine strategische Niederlage zugefügt werden, damit die unipolare Weltordnung unter der US-Führung überleben könne.

Vor diesem Hintergrund ist Ashfords Feststellung, dass der Ukrainekrieg die Rückkehr der Großmächterivalität markiere, mehr als berechtigt. Indem sich die USA weigerten, über die „NATO’s open-door policy“ mit Russland zu diskutieren, provozierten sie die russische Invasion in die Ukraine. Zwar seien die Ergebnisse dieser Invasion nach Ashfords Einschätzung „catastrophic for Russia“, da es keine seiner ursprünglichen Ziele erreichte. Wenn aber der Ukrainekrieg eine Erfolgsgeschichte für die Biden-Administration sein sollte, so erweise sie sich als Pyrrhussieg („If the war in Ukraine is a success story for the Biden administration …, it is a pyrrhic one“).

Wie begründet Ashford diese bemerkenswerte These? Mit Verweis auf die Rede der ehem. US-Außenministerin Condoleezza Rice aus dem Jahr 2008, die von einer Welt sprach, in der sich eine Großmacht nicht über Einflusssphären definiert, um ihren Willen den anderen aufzuzwingen, stellt Ashford fest: Fünfzehn Jahre nach der Rede von Condoleezza Rice sei mit dem Ukrainekrieg eine ganz andere Welt auf dem Vormarsch – eine Welt, in der die Großmächterivalität auf die Weltbühne der Geschichte mit aller Macht zurückgekehrt sei.

Diese Entwicklung habe nachdrücklich die Grenzen der Macht der USA bloßgestellt („It has also forcefully revealed the limits of U.S. power“). Genau in dieser Bloßstellung der „limits of U.S. power“ sieht Ashford einen „Pyrrhussieg“ bzw. „ein politisches Versagen“ (a policy failure) der Biden-Administration im Ukrainekonflikt. Das US-Engagement für die Ukraine stellt sie allerdings keineswegs in Frage. Ganz im Gegenteil: Dezidiert plädiert sie für eine militärische US-Unterstützung der Ukraine.

Die Ukraine möge außerhalb der US-Einflusssphäre liegen, die USA müssen ihr dessen ungeachtet helfen, sich der russischen Einflusssphäre zu entziehen („Ukraine may be outside the U.S. sphere of influence, but the United States is helping it resist being incorporated into a Russian sphere“).

Die Biden-Administration durfte es aber gar nicht auf den Ukrainekrieg ankommen lassen, hätte sie bereits im Vorfeld die Ukraine militärisch unterstützt und dadurch Russland vor Invasion in die Ukraine abgeschreckt. Die „policymakers“ müssen – schlussfolgert Ashford – die richtigen Lehren aus dem Ukrainekrieg ziehen. Statt Triumphalismus müssen sie „die faktischen Grenzen der amerikanischen Macht (practical limits to American power) akzeptieren und sich mit der Ambiguität vertraut machen, die erforderlich sei, um in den gefährlichen Bereichen zu navigieren, in denen sich die Einflusssphären überschneiden. Nur dann würden sie möglicherweise ein Desaster vermeiden können („they may be able to avoid disaster“).

Damit bleibt allerdings die ganze Analyse inkonsistent. Zwar kritisiert Ashford zu Recht sowohl den Eskapismus des außenpolitischen US-Establishments, das die Zeichen der Zeit verkennt und den Transformationsprozess der unipolaren Weltordnung in eine multipolare Welt, in welcher die Großmächte um die Einflusssphären kämpfen, ignoriert. Sie kritisiert auch zu Recht die Geisteshaltung der „U.S. policymakers“, die sich von ihrer unipolaren Denkweise nicht befreien können.

Aus dieser systemimmanenten Kritik zieht sie aber keine systemsprengenden Schlussfolgerungen für eine ganz andere US-Außenpolitik und bleibt nach wie vor den systemimmanenten Denkstrukturen verhaftet. Darum entwertet sie ihre eigene berechtigte Kritik an der Ukrainepolitik der Biden-Administration, indem sie nicht die US-Expansionspolitik in Frage stellt, sondern ihr lediglich die falsche Vorgehensweise vorwirft.

Es reicht aber nicht mehr aus, nur ein außenpolitisches „Werkzeug“ zu kritisieren, wenn die US-Außenpolitik als solche bereits nicht mehr zeitgemäß ist. Es bedarf einer ganz anderen US-Weltordnungspolitik, sollten sich die USA im Zeitalter der Großmächterivalität besser behaupten können, ohne dass es zu einem globalen Krieg kommt.

3. Zwei konträre Ordnungsprinzipien

Sollte die unipolare Weltordnung genauso von der Weltbühne der Geschichte, wie das Sowjetsystem vor gut dreißig Jahren, verschwinden und wir vor einem Zeitalter der dauerhaften Großmächterivalität stehen, so stellt sich die Frage nach einer diesem Zeitalter angemessenen Friedensordnung in Europa und in der Welt.

Raymond Aron hat einst drei Typen des Friedens unterschieden: Gleichgewichtsfrieden, hegemonialer Frieden und imperialer Frieden .9 Im nuklearen Zeitalter, in dem die unipolare Weltordnung immer mehr den multipolaren Machtstrukturen weicht, kann weder vom hegemonialen noch vom imperialen Frieden die Rede sein.

Heute kann es praktisch allein um die Entwicklung und Ausbildung von Machtstrukturen gehen, die einen Gleichgewichtsfrieden gewährleisten können. Seit dem Ende des Ost-West-Konflikts hat man vergessen, wie man um einen Frieden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz der friedensbedrohenden System- und Blockkonfrontation gerungen hat, wohl wissend, dass es im Atomkrieg weder Sieger noch Besiegte geben kann.

Erinnert sei an die Rede Richard Nixons anlässlich seiner Nominierung zum Republikanischen Präsidentschaftskandidaten im Jahr 1968, in der er für die Ablösung der „Ära der Konfrontation durch die der Kooperation“ plädierte.10 Das Plädoyer mündete in den 1970er-Jahren in einer Entspannungspolitik. Erinnert sei auch an die Neue Ostpolitik von Willy Brandt .

Geht man noch weiter in die Jahre 1944 – 46 zurück, so denkt man an die Verlautbarungen, in denen sowohl von westlicher als auch von östlicher Seite „das Konzept der internationalen friedlichen Kooperation beschworen wurde – bis der Kalte Krieg und dessen Vokabular sich durchsetzte.“11

>Friedliche Kooperation< muss heute erneut zum Schlüsselbegriff der europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung unserer Zeit werden. Eine unlimitierte Konfrontation, die – in der Logik des Krieges gefangen – immer nur an eine Eskalation denkt, führt im besten Falle in eine Sackgasse, im schlimmsten Falle in eine unkontrollierte Eskalation mit allen sich daraus ergebenden Folgen.

Vergessen hat man längst den von Helmut Schmidt einst geäußerter Kerngedanken des nuklearen Zeitalters: „Strategie ist heute weitgehend zu der Kunst geworden, Kriege zu vermeiden.“12 Im Zeitalter der „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock ) sind wir aber heute zur Strategie übergegangen, die zu der Kunst geworden ist, Kriege zu schüren, Eskalation zu provozieren und das eigene militärische Abenteuer als „legitim“ darzustellen, wohingegen das militärische Vorgehen der Gegenseite als „unprovoziert“ anzuprangern.

Statt eine Kriegsvermeidungsstrategie anzustreben, setzen wir auf eine Eskalationsstrategie zwecks Perpetuierung des seit dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandenen und ausgebildeten Machtun gleichgewichts als sicherheitspolitischen Ordnungsprinzips der europäischen Friedensordnung.

Diese vom US-Hegemon als der europäischen Ordnungsmacht dominierte Sicherheits- und Friedensordnung war von Anfang an auf Dauer nicht tragfähig und letztlich zum Scheitern verurteilt, weil ihm die Instabilität und Inkongruenz immer schon inhärent war. Nunmehr wird sie von Russland mit dem Ukrainekrieg offen und unmissverständlich in Frage gestellt.

Setzt die Kriegsvermeidungsstrategie das Vorhandensein des Machtgleichgewichts voraus, um einem potenziellen Bösewicht ein abschreckendes Risiko vor Augen zu führen bzw. entgegenzustellen, so provoziert die Machtdominanz innerhalb des bestehenden Machtun gleichgewichtssystems einerseits ein Eskalations- und Expansionsstreben und fordert die unterlegene, aber immer noch mächtige Gegenmacht andererseits zur Revision des entstandenen Machtungleichgewichts heraus.

1997 spekulierte Werner Link (1934-2023) über ein sicherheitspolitisches Äquilibrium in der Hoffnung auf ein neues Balancesystem zwischen Russland und dem Westen nach dem Ende des „Kalten Krieges“. „Russland“ – meinte Link – „will die Osterweiterung (zumindest die der NATO) verhindern und verfolgt seinerseits … die wirtschaftliche und sicherheitspolitische Re-Integration seines Vorfeldes … Ob Integration und Re-Integration gelingen werden, ist hier wie dort … eine offene Frage. Wenn sie gelängen, so würde sich ein neues Balancesystem zwischen EU und NATO einerseits und Russland und der von ihm geführten GUS andererseits herausbilden, in dem die Machtrelation für den Westen … äußerst günstig ausfiele.“ 13

Ein Vierteljahrhundert später können wir konstatieren: Keine(s) der russischen Vorhaben und Initiativen der 1990er-Jahre ist in Erfüllung gegangen. Die Reintegration des postsowjetischen Raumes hat sich als Flop erwiesen. Die Nato-Osterweiterung hat Russland nicht verhindern können. Es entstand statt eines „neuen Balancesystems“ zwischen Russland und dem Westen eine die gesamteuropäische Sicherheit gefährdende Dysbalance – ein Machtun gleichgewicht, das die Sicherheitsordnung in Europa bis heute prägt.

Die „Machtrelation“ hat sich eindeutig zu Gunsten des Westens verschoben und die US-amerikanische Übermacht (praepondero ) als sicherheitspolitisches Ordnungsprinzip in Europa etabliert. Genau vor einer solchen Entwicklung warnte Link eindringlich: „Dass Russland darin die Gefahr einer Hegemonie sieht, ist verständlich. Wenn die amerikanischen Befürchtungen, die von Huntington und anderen angesichts einer potentiellen europäischen Macht als real angesehen werden, muss dies erst recht für die russischen Befürchtungen gegenüber einer europäisch-amerikanischen Macht gelten … Anders als die europäisch-amerikanischen Beziehungen sind die Beziehungen des politischen Europas und der USA zu Russland eben nicht nur durch ökonomischen Wettbewerb (>geo-economics<), sondern auch durch machtpolitischen Wettbewerb (>geo-politics<) charakterisiert … Im Falle einer neuen akuten hegemonialen Bedrohung wäre die Entwicklung eines antagonistischen Gleichgewichtssystems wahrscheinlich.“14

Und so bleibt die bestehende Sicherheits- und Friedensordnung solange spannungsgeladen, bis die US-Hegemonialmacht entweder Russland als Groß- und Nuklearmacht endgültig marginalisiert und das Machtungleichgewicht aufrechterhält oder Russland das Machtgleichgewicht wiederherstellt. Genau darum geht es im hier und heute tobenden europäischen Krieg auf ukrainischem Boden: Machtgleichgewicht versus Machtungleichgewicht Status quo-Veränderung versus Status quo-Verteidigung. Alles andere sind nur Nebengeräusche der Großmächterivalität.

Eine Strategie des Machtun gleichgewichts tendiert immer zur Sprengung des Status quo und damit zur permanenten Instabilität der Sicherheits- und Friedensordnung. „Je stärker aber das Gleichgewicht der Macht sich ausprägt“ – schrieb Helmut Schmidt bereits Ende der 1960er-Jahre -, „umso mehr verfestigt es den gegenseitigen Besitzstand und die Einflussbereiche. Eine Strategie des Gleichgewichts tendiert zur Strategie der Aufrechnung des Status quo; denn wer den Status quo ändern will, tendiert zu einer Störung des Gleichgewichts. Deshalb haben die beiden nuklearen Weltmächte in den sechziger Jahren ihre gegenseitigen Einflusssphären markiert und respektiert.“15

Im Umkehrschluss bedeutet das: Solange die Markierung und Respektierung der gegenseitigen Einflusssphären zur gegenseitigen Zufriedenheit nicht stattgefunden haben, bleibt die Großmächterivalität auf dem europäischen Kontinent fortbestehen. Und der Ukrainekrieg wird solange fortdauern, bis die eine der rivalisierenden Nuklearmächte entweder eine wie auch immer geartete Niederlage erleidet oder zwischen den beiden ein Modus Vivendi zu Lasten der Ukraine erzielt wird.

Momentan sieht es aber nicht danach aus, dass die beiden Optionen in Frage kommen. Russland hat sein geostrategisches Ziel – die Wiederherstellung eines Machtgleichgewichts – noch lange nicht erreicht und die USA haben gar kein Interesse an einer Beendigung des Ukrainekonflikts, solange Russlands „strategische Niederlage“ ausbleibt.

Zutreffend hob Christoph Caldwell am 7. Februar 2023 bereits in der Überschrift seines Artikels für „The New York Times“ hervor, worum es den USA im Ukrainekonflikt geht: „Russia and Ukraine Have Incentives to Negotiate. The U.S. Has Other Plans.“

Die Biden-Administration hat in der Tat „andere Pläne“ und Bidens Strategie setzt auf eine Eskalation des Konflikts (vgl. „But the Biden strategy has a bad name: escalation“). Man darf darauf gespannt sein, wohin diese Eskalation uns noch führen wird. Wir müssen uns nur über eines im Klaren sein: Es gibt genauso wenig einen kontrollierbaren Krieg wie eine kontrollierbare Eskalation, solange es sich um die vitalen Sicherheitsinteressen einer der Groß- und Nuklearmächte handelt.

Anmerkungen

1. Silnizki, M., Geopolitik priorisiert Geoökonomie. China, Indien und der Ukrainekonflikt. 26. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
3. Jakovlev, A., Was will die russische Elite? In: Russland-Analysen, Nr. 320, 15.07.2016, 10-12 (10).
4. Akindinova, N. u.a., Politische Antworten auf die Krise? In: Russland-Analysen, Nr. 334,12.05.2017, 2-7 (5).
5. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Willkie, W., One World. New York 1943.
7. Zitiert nach Carl Schmitt, Die Einheit der Welt (1951), in: ders., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978. Berlin? 841-871 (843).
8. Näheres dazu Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 111 f.
9. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1986, 183.
10. Zitiert nach Link, W., Das Konzept der friedlichen Kooperation und der Beginn des Kalten Krieges. Düsseldorf 1971, 7.
11. Link (wie Anm. 10).
12. Schmidt, H., Strategie des Gleichgewichts. 5. Aufl. Stuttgart 1970, 19.
13. Link, W., Die europäische Neuordnung und das Machtgleichgewicht, in: Jäger, Th. u. a. (Hrsg.), Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklungen. Opladen 1997, 9-31 (29).
14. Link (wie Anm. 13), 29, 31.
15. Zitiert nach Woller, R., Der unwahrscheinliche Krieg. Eine realistische Wehrkonzeption. Stuttgart 1970, 10.

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