Verlag OntoPrax Berlin

Irrungen und Wirrungen in Zeiten des Krieges

Im Lichte von Urteilen, Vorurteilen und Kriegspropaganda

Übersicht

1. Michael McFaul, seine Mitstreiter und „die nukleare Option“
2. Andrei Kolesnikov: Entrüstung statt Analyse
3. Dmytro Kuleba: „Wie man nicht mit Russland verhandelt“
4. Lt. Col. Daniel Davis: „Nuclear War“ sei kein „Video Game“

Anmerkungen

Hадеждам НАТО на поражение России не суждено сбыться.“
(Die NATO-Hoffnungen auf eine Niederlage Russlands
werden nicht in Erfüllung gehen.)
(Sergej Naryškin, 1. Februar 2023)

1. Michael McFaul, seine Mitstreiter und „die nukleare Option“

Im Vorfeld des Kriegsausbruchs in der Ukraine vertraten die US-Militärexperten in den öffentlichen Verlautbarungen die Auffassung, dass der Ukrainekrieg von kurzer Dauer sein werde. „Die meisten westlichen Analysten gingen davon aus“ – bestätigt Dara Massicot in ihrer umfangreichen militärstrategischen Studie „What Russia Got Wrong. Can Moscow Learn From Its Failures in Ukraine?“ (Foreign Affairs März/April 2023) -, „dass die Ukrainer dem Angriff nicht lange standhalten könnten, wenn die russischen Streitkräfte ihre Vorteile vernünftig nutzten.“

Es kam – wie wir heute wissen – ganz anderes, als die Experten ursprünglich glaubten. Der Ukrainekrieg hat seine eigene Logik, seine Eigengesetzlichkeit und seine Eigendynamik entwickelt. Keiner weiß heute so genau, was kommt, wie es weiter geht und wohin all das führen wird und führen kann. Zwar gehen die russischen Militärexperten fest davon aus, dass Russland bald den Sieg davonträgt, was auch immer das sein mag; zwar möchte der Westen Russland eine „strategische Niederlage“ zufügen und der Ukraine auf Teufel komm raus zum Sieg verhelfen.

Dessen ungeachtet tappen wir aber nach wie vor im Dunkeln, stehen vor einer Nebelwand der Geschichte und versuchen die Zukunft vorwegzunehmen, um vor allem die Frage aller Fragen beantworten zu können: Kommt es zu einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der Nato? Ist der Westen wirklich seiner Sache so sicher und weiß er überhaupt, worauf er sich eigentlich eingelassen hat? Manche Zweifel sind angebracht und manche Zweifler wissen vielleicht mehr als die anderen, wie prekär und gefährlich die entstandene Gemengelage ist.

Wie am Vorabend des Ersten Weltkrieges warnen sie auch heute vor Gefahren eines europäischen Krieges, der ganz Europa wieder in Schutt und Asche legen könnte. Heute wie damals schlagen wir freilich diese Warnungen in den Wind. So warnte Reichskanzler Bethmann Hollweg in einem Schreiben vom 28. Juli 1914, „dass ein Weltkrieg bevorstünde, der die europäische Zivilisation auf Jahrzehnte hinaus zerstören werde.“

Noch deutlicher drückte sich Generalstabschef Helmuth von Moltke, der „sogar eine Katastrophe“ erwartete, gegenüber seinem Adjutanten, Major von Haeften, in der Nacht zum 31. Juli 1914 aus: „Dieser Krieg wird zu einem Weltkriege auswachsen, in den auch England eingreifen wird. Nur Wenige können sich eine Vorstellung über den Umfang, die Dauer und das Ende dieses Krieges machen. Wie das alles enden soll, ahnt heute niemand.“

„Das wird ein langer und sehr schwerer Krieg“, meinte auch Generalfeldmarschall Colmar von der Goltz. „Vorläufig sehe ich noch nicht, wie wir mit Russland und England zum Frieden kommen können.“1

Stehen wir heute nicht vor vergleichbaren Herausforderungen? Haben wir uns nicht in einen Krieg ziehen lassen, der nicht unserer ist und der erneut „die europäische Zivilisation auf Jahrzehnte hinaus zerstören“ – wenn nicht gar auslöschen – kann? Wird sich der Ukrainekrieg nicht zu einem Weltkrieg auswachsen, in den die ganze Welt hineingezogen wird? Auch heute wissen wir nicht, was auf uns zukommt und „wie das alles enden soll“! Oder wissen manche doch mehr als die anderen?

So tobt in den USA schon seit Längerem ein heftiger Streit zwischen Falken und Tauben. Der bekannte Falke Michael McFaul – der amerikanische Ex-Botschafter in Russland (2012-2014) – will Russland lieber heute als morgen in Schutt und Asche legen. In seinem jüngsten ausschweifenden Artikel „How to Get a Breakthrough in Ukrainefür Foreign Affairs vom 30. Januar 2023 forderte er der Ukraine sofort und schnell alles nur Denkbare und Undenkbare an Waffen und Finanzierung zur Verfügung zu stellen, damit sie alle besetzten Gebiete befreien kann.

Wörtlich schreibt er: „NATO should go for a Big Bang.“ Mit diesem „Big Bang“ sollte man „einen wichtigen psychologischen Effekt in Kreml und in der russischen Gesellschaft („an important psychological effect inside the Kremlin and Russian society“) auslösen. Man sollte ihnen klar machen, dass der Westen sich verpflichtet fühle, die Bestrebungen der Ukraine zu unterstützen, alle besetzten Gebiete zu befreien. Die Kreml-Propagandisten („Kremlin propagandists“) beklagen sich schon lange darüber, dass man gegen die Nato kämpfe, die über größere Ressourcen als Russland verfüge. Zum Jahrestag – dem 24. Februar – sollten die Biden-Administration und die Nato-Allianz verstärkt einen psychologischen Druck ausüben, damit die Russen das Gefühl bekommen, dass es sinnlos wäre, weiter zu kämpfen („that it would be futile for Russia to continue its fight“).

Mittels einer psychologischen Kriegsführung will McFaul Russland im Ukrainekrieg bezwingen. Auch hier zu Lande sind die Falken auf dem Vormarsch. So denunzierte der Direktor des Instituts für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel, Joachim Krause , neulich die Sorge der deutschen Bevölkerung über eine Eskalation des Ukrainekonflikts als „Eskalationsphobie“.

Unter der Überschrift „Wider die deutsche Eskalationsphobie“ schreibt er in „Joachim Krauses Post“: „Ohne die Bereitschaft der NATO zur Eskalation wären die Kriege im ehemaligen Jugoslawien nicht beendet worden. Und auch heute muss der Westen bereit sein, auf russische Eskalation zu antworten, indem den Ukrainern neue Mittel der Kriegführung zur Verfügung gestellt werden.“ Sieht man von Krauses Verharmlosung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs der Nato gegen die Volksrepublik Jugoslawien im sog. „Kosovo-Krieg“ (1999) ab, so ist die Gleichstellung Jugoslawiens auf einer Stufe mit der Nuklearmacht Russland nicht nur grotesk, sondern auch verantwortungslos. Man fragt sich zudem irritiert, wie weit Krause denn eskalieren will : Bis zur Sendung der deutschen Soldaten in die Ukraine oder gar bis zum nuklearen Schlagabtausch zwischen Russland und der Nato?

Krause sollte lieber auf seine US-amerikanischen Kollegen hören, welche mehr als er Vernunft walten lassen. So stellte Christoph Caldwell in seinem Beitrag „Russia and Ukraine Have Incentives to Negotiate. The U.S. Has Other Plans“ für The New York Times am 7. Februar fest: „Die Biden-Strategie hat einen schlechten Namen: Eskalation“ (the Biden strategy has a bad name: escalation). Und er fragte anschließend irritiert: „Mit wem befindet sich Russland (eigentlich) im Krieg – mit der Ukraine oder den USA? Russland hat den Krieg zwischen Russland und der Ukraine begonnen. Wer hat den Krieg zwischen Russland und den Vereinigten Staaten begonnen? (With whom is Russia at war — Ukraine or the United States? Russia started the war between Russia and Ukraine. Who started the war between Russia and the United States?)“

Liest man Krauses frühere Studien, so stellt man sehr schnell fest, wessen Geistes Kind er ist. Als Mitverfasser der Studie „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für eine Beendigung des Krieges“ (ISPK, 12. Juli 2022) hat sich Krause bereits im Sommer 2022 zu folgendem Urteil hinreißen lassen: „Der Angriffskrieg Russlands war viele Jahre systematisch geplant und vorbereitet worden. Der Krieg ist Teil einer seit mehr als einem Jahrzehnt andauernden Re-Militarisierung und Re-Imperialisierung der russischen Außenpolitik. Die Politik Russlands ist spätestens seit 2014 auf eine strategische Konfrontation mit dem Westen ausgerichtet. Die russische Strategie beruht auf der Wiederbelebung großrussischer, teilweise völkischer und faschistischer Narrative und zielt auf die militärische Unterwerfung von Nachbarstaaten und die Zerstörung westlicher Institutionen (NATO, EU) ab.“

Diese Darstellung der russischen Außenpolitik zeigt, wie wenig Krause Ahnung von der russischen Geo- und Außenpolitik hat und wie sehr er die geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre auf den Kopf stellt und die Militarisierung der US-amerikanischen Außenpolitik komplett ausblendet. Je mehr er die eigene deutsche Geschichte instrumentalisiert und Russland als „völkisch“ und „faschistisch“ verunglimpft, umso mehr entlarvt er sich zudem selbst als Pseudo-Wissenschaftler.

An einer anderen Stelle der Studie wird „Putins Russland“ gar als „faschistoides Regime“ denunziert. Weiß Krause überhaupt, was er da propagiert? Indem er Russland als „faschistoides Regime“ stigmatisiert, stilisiert er es zum „absoluten Feind“ und erklärt es für vogelfrei. Ungeachtet von zahlreichen zweihundert Jahre lang andauernden vergeblichen Versuche, Russland in die Knie zu zwingen, auszulöschen und zu versklaven, haben solche Hardliner aus der Geschichte immer noch nichts gelernt.

Zudem ignorieren sie selbst die Erkenntnisse ihrer eigenen Geheimdienste und Militärs. Neulich berichteten Alexander Ward, Paul McLeary und Connor O`Brien in Politico am 1. Februar 2023: „Ukraine can’t retake Crimea soon, Pentagon tells lawmakers in classified briefing.“ Die Einschätzung der hochrangigen Pentagon-Beamten – liest man weiter – spiegelt nur das, worauf General Mark Milley (the Joint Chiefs chair) hingewiesen hat: „Ich behaupte immer noch, dass es für dieses Jahr sehr, sehr schwierig sein würde, die russischen Streitkräfte militärisch aus der ganzen … Ukraine zu vertreiben“, sagte Milley während des „meeting of the Ukraine Defense Contact Group in Germany“ am 20. Jahnuar 2023. „Das heißt nicht, dass es nicht passieren kann. “That doesn’t mean it can’t happen. Doesn’t mean it won’t happen, but it’d be very, very difficult.”

Auch Samuel Charap und Miranda Priebe schreiben in ihrer RAND-Studie „Avoiding a Long War. U. S. Policy and the Trajectory of the Russia-Ukraine Conflict“ (Januar 2023): Es wäre im US-Interesse, wenn ein langwieriger Ukrainekonflikt vermieden würde. Denn die Kriegskosten seien erheblich und übertreffen bei weitem die möglichen Vorteile eines dauerhaften Konflikts für die USA. Auch wenn Washington die Kriegsdauer nicht selbst bestimmen könne, sollte es Schritte unternehmen, die das Ende des Konflikts möglich machen würde.

Dass die Nato mit ihrer antirussischen Allianz fünfzig westliche und prowestlich orientierte Länder mit beinahe einer Milliarde Bevölkerung um sich scharen konnte, heben Russen in der Tat immer wieder hervor. McFaul hat nur etwas missverstanden. Dieser Hinweis erfolgt nicht so sehr aus Angst als vielmehr aus Stolz. Zudem fügen Russen gleich hinzu, dass der Rest der Welt, nämlich die Weltmehrheit von mehr als 80 % der Weltbevölkerung, gegen den westlichen Sanktionskrieg gegen Russland sei.

Dessen ungeachtet beteuert McFaul siegesgewiss: Putin habe trotz seiner Drohungen deswegen nicht weiter eskaliert, weil er keine Fähigkeiten dazu habe. Putin könne auch die Nato nicht angreifen („He cannot attack NATO“), sonst würde er einen größeren Krieg riskieren, den Russland schnell verlieren würde. Und so bleibt ihm nur die nukleare Option (the nuclear option), aber selbst sie würde ihm nicht guttun. Denn jedermann weiß, dass eine nukleare Attacke gegen die USA oder andere NATO-Länder vom Tisch sei, weil die gegenseitig zugesicherte Zerstörung immer noch vorhanden sei („Everyone agrees that a nuclear attack against the United States or other NATO countries is off the table because mutual assured destruction is still in place“).

Jedermann? Woher weiß denn McFaul selber, dass „a nuclear attack“ vom Tisch sei? Kennt er überhaupt die US-Nuklearstrategie, von der russischen nuklearen Abschreckungsstrategie ganz zu schweigen? Eine solche maßlose Selbstüberschätzung ist derart verantwortungslos, dass unsereinem Angst und bange wird.

Diese gefährliche Ignorierung der nuklearen Bedrohung ist alles andere als eine große Überraschung, unterstellt doch das außenpolitische US-Establishment Putin seit langem, dass er sich gar nicht trauen werde, die Nuklearwaffen anzusetzen. Darauf sollte man aber lieber nicht wetten. Es gibt auch besonnene Stimmen in den USA, die davor warnen, Russland zu unterschätzen. So warnte beispielsweise Doug Bandow Washington in seinem Artikel „Weighing aNuclear Threat“ für The American Conservative vom 19. Januar 2023 davor, eine nukleare Bedrohung zu ignorieren: „Washington should take the threat seriously and minimize the risk of attack.“

Das heutige Washingtoner Machtestablishment tut so, als hätte es die nukleare Bedrohung des „Kalten Krieges“ und die damit einhergehende Abschreckungsstrategie vergessen. Ist der amtierende US-Präsident nicht etwa selber ein Kind des „Kalten Krieges“? Und ist Joe Biden nicht bereits seit einem halben Jahrhundert außenpolitisch aktiv? Bis heute erinnert man in Russland geradezu sarkastisch immer wieder an ein persönliches Treffen zwischen Biden und dem damals amtierenden langjährigen sowjetischen Außenminister Alexej N. Kosygin (1964-1980) in Moskau 1978. So lange ist er bereits im politischen bzw. außenpolitischen „Geschäft“.

Wenn man etwa an McNamaras „counter-force strategy“ denkt, dann bestand der Sinn dieser US-Abschreckungsstrategie in der US-Fähigkeit, die Krisen zu beherrschen und die Sowjets einzudämmen, ohne dabei – was entscheidend ist – die Grenzen der sowjetischen Sicherheitsinteressen zu überschreiten. „In diesem Sinne diente das offensive Konzept der >counter-force strategy< einer Status-quo-Politik der USA“, was de facto die „Grundlage der friedlichen Koexistenz im gegenseitigen Abschreckungsverhältnis“ geschaffen hat.

„Der politische Nutzeffekt strategischer Überlegenheit“ schrumpfte nach Lothar Ruehls Urteil gleichzeitig „auf dem Felde der politischen Drohmanöver auf null zusammen“ und damit verlor „die strategische Kernwaffenstreitmacht ihre Beweglichkeit“ bzw. „ihre Einsatzfähigkeit im Verfolgen politischer Interessen, welche auf eine Status-quo-Veränderung gerichtet sind. Sie kann dann immer noch der Status-quo-Verteidigung dienen, solange und soweit dieser Status quo mit den vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht zusammenfällt.“2

Wendet man sich vor diesem Hintergrund der Gegenwart zu, so stellt man schnell fest, dass der Hauptauslöser des Ukrainekonflikts geostrategisch in fundamental unterschiedlichen Machtinteressen der Kontrahenten bestand. War die US-Geostrategie auf eine (offensive) Status-quo- Veränderung gerichtet, die nicht mit den vitalen US-Sicherheitsinteressen , wohl aber mit der Erweiterung der US-Einflusssphäre zusammenfiel, so fiel Russlands (defensive) Status-quo- Verteidigung mit seinen vitalen Sicherheitsinteressen zusammen. Selbst so ein Hardliner wie Robert Kagan (Brookings Institution) gab neuerlich unumwunden zu, „that Ukraine is not important for this country’s defense. Kagan was categorical: >There is no way that Putin’s conquest of Ukraine has any immediate or even distant effect on American security<.”3

Es bestand, anderes formuliert, eine grundlegende, jedweden Kompromiss von vorn herein ausschließende geostrategische Disparität der Machtinteressen , welche den Konflikt zwischen Russland und den USA auf ukrainischem Boden unausweichlich gemacht hat. War die Status-quo Veränderung für die USA grundsätzlich verzichtbar , weil sie die vitalen US-Sicherheitsinteressen substantiell in keinerlei Weise tangierte, so war für Russland die Status-quo-Verteidigung ganz im Gegenteil unverzichtbar , weil sie existentiell , wenn nicht gar obsessiv – „mit den vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht“ zusammenfiel.

Diese vitalen Sicherheitsinteressen werden heute vom US-Establishment (namentlich Michael McFaul ) nicht nur ignoriert, sondern Russland wird auch das Recht abgesprochen, eben diese Sicherheitsinteressen überhaupt haben zu dürfen. Das Ergebnis dieser verantwortungslosen Ignoranz und Machtarroganz ist heute in der Ukraine zu besichtigen. Wenn man Russland Respekt versagt, ris-kiert man einen Krieg. Und wenn man Russlands vitale Sicherheitsinteressen ignoriert, riskiert man eine nukleare Eskalation.

2. Andrei Kolesnikov: Entrüstung statt Analyse

Bei alledem stellt sich die Frage: Wo ist aber die russische Opposition in Zeiten des Krieges? Im Ausland trommelt die russische Opposition bereits seit Jahren gegen „Putins Russland“, ruft zum Sturz Putins auf und verurteilt nunmehr auch „Putins Krieg“, ohne nur eine Chance zu haben, Putins Sturz auf absehbare Zeit erreichen zu können. Und im Inland? Im Inland ist um die russische Opposition, die gegen den Krieg wettert, still geworden. Sie ist entweder in Deckung oder wird marginalisiert.

Gelegentlich hört man kritische Stimmen sogar in manchen Talk Shows des russischen Staatsfernsehens, die aber wirkungs- und klanglos verhallen. Die innenpolitische Opposition, die immer noch von den „glorreichen“ Zeiten der 1990er-Jahre träumt, ist nach wie vor derart diskreditiert, dass sie kaum eine Chance auf die Machtübernahme hat. Nun gibt es einzelne Stimmen aus dieser Opposition, die auf schriftstellerischem Wege versuchen, gegen „Putins Krieg“ und „Putins Russland“ zu opponieren.

Typisch für deren Vertreter ist, dass sie die russische Außen- und Geopolitik allein aus innenpolitischer Perspektive bei gleichzeitigem Ausblenden der westlichen Außen- und Geopolitik betrachten. Damit werden sie aber weder der russischen Außenpolitik noch der westlichen Geopolitik gerecht. Einer dieser Vertreter ist Andrei Kolesnikov (geb. 1966). Er war als ein langjähriger Mitarbeiter des Carnegie Moscow Center, das nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine von der russischen Regierung am 24. Februar 2022 geschlossen wurde, zuständig für die russische Innenpolitik.

Am 1. Februar 2023 erschien sein für Foreign Affairs verfasster Artikel „How Russians Learned to Stop Worrying and Love the War“. Der Artikel spiegelt die Empörung, das Entsetzen und die Fassungslosigkeit des Autors über das, was im Jahr 2022 geschehen ist, wider. Hier schreibt ein Empörter und kein Urteilender, ein Moralist und kein Analytiker, ein innenpolitischer Gegner und kein außenpolitisch denkender Beobachter.

Aus einem innenpolitischen Frust macht Kolesnikov eine außenpolitische Denunziation: Russland habe – meint er – das Jahr 2022 als das schrecklichste Jahr seiner postsowjetischen Geschichte erlebt. Das Regime wende stalinistische Methoden an. Russen fliehen in Scharen aus dem Land, um nicht getötet oder zum Mörder zu werden. Putin baue ein neues Imperium auf, aber es laufe nicht gut usw. usf.

Hätte man nicht gewusst, dass der Autor dieser Zeilen aus Moskau stammt, hätte man seine Auslassungen für die westliche Wahrnehmung dessen, was in Russland vor sich geht, gehalten. Hier schreibt ein Vertreter jenes Russlands, der innenpolitisch in einer Fundamentalopposition zu Putin steht und ihm nie verziehen hat, dass er die Entwicklungen der 1990er-Jahre nicht fortgesetzt hat.

Diese Opposition ignoriert zum einen den Umstand, dass Russland – sollte die Entwicklung der 1990er-Jahre fortgesetzt worden sein – entweder zwischen China und den USA zerrieben oder in einzelne Fürstentümer zerfallen wäre. Zum anderen werden die vergangenen fünfundzwanzig Jahre der westlichen Außen- und Geopolitik komplett ignoriert, ohne begreifen zu können, wie dramatisch sich die Außenwelt verändert hat.

„Das schockierende Kriegsjahr 2022“ hat nach Kolesnikovs Bedauern kaum dazu beigetragen, die Unterstützung des Regimes durch die Bevölkerung zu schwächen. Erstaunt stellt er mit Verweis auf die Umfragen des Lewada-Zentrums fest, dass die Ängste der Bevölkerung vor Massenrepressionen, Willkürherrschaft und einem harten Durchgreifen der Regierung bis Ende 2022 nicht zugenommen, sondern ganz im Gegenteil zurückgegangen seien.

„All diese Werkzeuge der Tyrannei“ wurden zwar – empört sich Kolesnikov – im Jahresverlauf verstärkt, das hat aber die Bevölkerung nicht sonderlich beeindruckt. Diese Nonchalance der Menschen erklärt er mit „Selbsttäuschung“ („self-deception“), fügt aber gleichzeitig hinzu: Die einzige große Angst sei laut Umfragen die vor einem neuen Weltkrieg.

Unter der Überschrift „Orwell in Moscow“ berichtet Kolesnikov über Proteste in Russland gegen den Krieg im vergangenen Jahr: 20.467 Menschen wurden aus politischen Gründen nur deswegen inhaftiert, weil sie weil sie öffentlich gegen den Krieg protestierten; 378 wurden strafrechtlich unter dem Vorwand verfolgt, verleumderische Nachrichten über die russische Armee zu verbreiten, wie z. B. „die Erwähnung des Massakers von Bucha“.

Im Jahr 2022 blockierten die Behörden – zählt Kolesnikov weiter auf – mehr als 210.000 Websites und „Putin´s machine“ brachte alle unabhängigen Medien zum Schweigen. So hoch diese Zahlen auch sein mögen, würden sie nur das zeigen, was an der Oberfläche geschehe. Die Wut auf Putin und auf den Krieg sei – beteuert Kolesnikov – weit verbreitet. Nur wo? In Moskau? In der Provinz? Darüber schweigt Kolesnikov , meint allerdings, dass viele Angst haben, sich zu äußeren, oder aus dem Lande fliehen und so gegen Putin mit Füssen stimmen, oder die sog. „Küchendemokratie“ („kitchen democracy“) wie zu Spätsowjetzeit praktizieren, indem sie „Putins Krieg“ zu Hause oder in Cafés verurteilen.

Es werde viel gelesen, vor allem jene Literatur, die Antikriegsbotschaften („antiwar messages“) enthalten. Das meistgelesene Buch des Jahres 2022 war George Orwells „1984“. Man spürt in Kolesnikov s Ausführungen viel Frust, die schroffe Ablehnung von „Putins Krieg“ und immer wieder einen regelrechten Hass auf all das, was „Putins Russland“ ausmacht.

Und so schreibt er nostalgisch, wehmütig, zugleich aber auch unterstellend, voreingenommen und natürlich prowestlich urteilend: „Putin und seine Kreml-Ideologen reden gerne über das Bestreben des Westens, Russland von der Karte zu tilgen (to wipe Russia off the map). Sie möchten ihrerseits, dass Russland einen viel größeren Platz auf der Landkarte einnimmt, indem es ein riesiges Imperium aufbaut. Sie wollen eine Rückkehr in die ferne Vergangenheit. Die Ironie ist, dass Russland … seine physische Ausdehnung in seinem brutalen Krieg gegen die Ukraine ausgeweitet hat und damit effektiv von der politischen Landkarte verschwunden ist. Der Westen sah Russland einst als ein Land auf dem Weg zur Demokratie. Jetzt betrachtet er es als einen internationalen Paria und gescheiterten Staat (an international pariah and a failed state).“

Diese kühne Behauptung: Russland sei „an international pariah and a failed state“ zeigt, dass Kolesnikov nicht nur die Zeichen der Zeit verkennt, indem er den Westen immer noch als Mittelpunkt und Zentrum des Weltgeschehens sieht, sondern auch und vor allem die verfehlte methodische Vorgehensweise in der Beurteilung des Kriegsjahres 2022: Man kann nicht allein aus innenpolitischen Erwägungen und persönlicher Frustration die außenpolitischen Entwicklungen würdigen und bewerten, zumal der Bewertende persönlich nicht unbefangen ist, was er in seinen Ausführungen auch zur Sprache bringt.

So berichtet Kolesnikov betroffen über seinen Großvater, der „1938 – im Jahr des Great Terror – aus politischen Gründen verhaftet wurde. Das bedeutete, dass meine Mutter im Alter von neun Jahren die Tochter eines >Volksfeindes< (>enemy of the people<) wurde. … Sie erlebte nicht mehr, dass ihr Sohn ein >ausländischer Agent< (>foreign agent<) wurde … Innerhalb von (nur) drei Generationen fanden sich also zwei Feinde autokratischer Regime: der Großvater als >Volksfeind< und sein Enkel als >aus-ländischer Agent<“, entrüstet sich Kolesnikov .

Diese Entrüstung macht betroffen! Auch die Verbitterung darüber, was ihm persönlich widerfahren wurde, ist verständlich. Wer freilich einer nüchternen Analyse gerecht werden will, darf sich nicht von Emotionen leiten lassen. Kolesnikov wurde immerhin weder wie sein Großvater zur Stalinzeit verhaftet noch in eine psychiatrische Klinik wie zur Spätzeit des Sowjetsystems gesteckt noch wie im Falle von Alexander Solženicyn des Landes verwiesen. Die Selbstbemitleidung ist darum fehl am Platz, zumal die Bezeichnung „foreign agent“ der US-Gesetzgebung entlehnt wurde.

Wer nun wie Kolesnikov davon ausgeht, dass Russland von der politischen (genauer: geopolitischen) Landkarte verschwunden sei, hat nicht nur die Zeichen der Zeit, sondern auch die geopolitische Dimension des Ukrainekonflikts nicht verstanden. Sein nostalgischer Rekurs auf die „Freiheit“ und „Demokratie“ der 1990er-Jahre entwertet zudem Kolesnikovs zum Teil durchaus zutreffende, auch wenn einseitig dargestellte innenpolitische Stimmung in Russland.

Denn er blendet die im Westen stattgefundenen außen-, geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen in den vergangenen dreißig Jahren komplett aus. Allein eine überwiegend innenpolitisch motivierte Be-und Verurteilung des Kriegsjahres 2022 führt in eine Sackgasse, weil sie die außenpolitische Dimension der geopolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen in den vergangenen Jahrzehnten völlig außer Acht lässt.

Eine fehlende vergleichende Analyse der innerwestlichen Entwicklungen, die alles andere als frei von antidemokratischen und antiliberalen Tendenzen sind, kommt noch hinzu.

3. Dmytro Kuleba: „Wie man nicht mit Russland verhandelt“

Am 24. Januar 2023 hat der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in Politico einen Artikel unter dem bezeichnenden Titel „How Not to Negotiate with Russia“ veröffentlicht. Nichts an dem, was in diesem Schriftstück geschrieben steht, ist annähernd wahr. Eine Kriegspropaganda pur! Bereits eingangs des Artikels behauptet Kuleba antifaktisch: „Die sogenannten Friedensgespräche, bekannt als Minsker Prozess, wurden 2014 initiiert und umfassten die Ukraine, Russland, Frankreich und Deutschland. Acht Jahre lang versuchten die Ukraine und der Westen, den Krieg durch Politik und Diplomatie zu beenden. Die Ukraine erklärte sich bereit, die Kampflinien einzufrieren, und führte jahrelange ergebnislose Verhandlungen, damit eine Eskalation vermieden und der Frieden in Europa bewahrt wird.“

Zahlreiche Fakten unterschlägt Kuleba hier gleich zu Beginn seiner Ausführungen:

Erstens verklärt er die Friedensgespräche in der Ukraine hochtrabend als Bewahrung des „Friedens in Europa“. „Der Frieden in Europa“ war weder das Thema noch der Gegenstand der Verhandlungen.

Zweitens traten Russland, Frankreich und Deutschland als Vermittler eines Friedensprozesses zwischen zwei Kriegsparteien – der Kiewer Regierung und den Aufständischen in der Ostukraine auf, was in den Minsker Vereinbarungen mundete.

Drittens unterschlägt Kuleba wider besseres Wissen den Inhalt und Umfang der Minsker Vereinbarungen. Es ging nicht allein darum, „die Kampflinien einzufrieren“, sondern auch und vor allem darum, auf einer neuen Verfassungsgrundlage die Kriegsparteien zu befrieden. Im Punkt 11 der Minsker Vereinbarungen war ausdrücklich fixiert: „Bis Ende 2015 muss eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten, die eine Dezentralisierung des Landes ermöglicht und mit Vertretern der abtrünnigen Regionen abgestimmt ist. Ein Gesetz zum künftigen Sonderstatus von Donezk und Lugansk muss ebenfalls bis Jahresende verabschiedet werden.“

In keiner der insgesamt 13 Punkten umfassenden Vereinbarungen des Minsker Abkommens war fixiert, dass Russland „Konfliktpartei“ sei und dass es verpflichtet sei, irgendetwas zu erfüllen. Das Abkommen betraf ausschließlich die innerukrainischen Konfliktparteien, welche die verfassungspolitischen und anderen Regelungen unter sich treffen und aushandeln sollten. Ausdrücklich wurde ebenfalls im Punkt 11 vereinbart, dass „eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten“ musste, „die eine Dezentralisierung des Landes“ ermöglichen und „mit Vertretern der abtrünnigen Regionen abgestimmt“ werden sollte. Aber genau hier lag das Problem. Die ukrainische Zentralregierung hat sich von Anfang an geweigert, an einen Verhandlungstisch „mit Vertretern der abtrünnigen Regionen“ zu setzen, geschweige mit ihnen irgendetwas „abstimmen“ zu wollen.

Vor diesem Hintergrund ist Kulebas Behauptung: „Der Minsker Prozess (the Minsk process) endete, als Russland Ende Februar 2022 einen verheerenden totalen Angriffskrieg gegen die Ukraine entfesselte“ ziemlich unverfroren. Der Minsker Prozess fand sein Ende bereits an dem Tag, an dem die Minsker Vereinbarungen unterzeichnet wurden, weil die Kiewer Regierung von Anfang an nicht einmal im Traum daran dachte, sie erfüllen zu wollen.

Kulebas Beteuerung: „Die Ukraine und der Westen versuchten den Krieg durch Politik und Diplomatie zu beenden“ ist darum eine bewusste Irreführung der Weltöffentlichkeit. Das Gegenteil ist geradezu der Fall: Die Ukraine und der sog. „Westen“ haben alles getan, um den Frieden zu torpedieren und den schwelenden Konflikt der Jahre 2014/15 – 2021 auf einer niedrigeren Intensitätsstufe weiter laufen zu lassen, der nach den offiziellen Verlautbarungen ca. 15.000 Menschenleben kostete. Die meisten Opfer (darunter etwa 500 Kinder) stammen aus den von Aufständischen kontrollierten Gebieten.

In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit sagte die Ex-Kanzlerin Angela Merkel , „auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen.“ Und das Minsker Friedensabkommen von 2014 nannte sie einen „Versuch, der Ukraine Zeit zu geben“, berichtet Die Zeit .

Eine vergleichbare Äußerung war auch vom französischen Ex-Präsidenten François Hollande (2012- 2017) zu vernehmen. Auf Fragen der Journalisten, ob er Merkels Äußerung zustimmen würde, bejahte dieser das am 30. Dezember 2022.

Bereits vor Merkels Äußerung gab der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko (2014-2019), der an den Minsker Verhandlungen unmittelbar beteiligt war, unumwunden zu, dass die Ukraine zu keiner Zeit daran gedacht hat, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen. Vielmehr hat sie für sich Zeit gewon-nen, um die ukrainische Armee zu stärken und mit Hilfe der Nato aufzubauen. Wörtlich sagte er am 17. November 2022: „Мне нужны были эти Минские соглашения чтобы получить как минимум четыре года, чтобы сформировать украинские вооруженные силы, строить украинскую экономику и обучать украинских военных вместе с НАТО (Ich brauchte diese Minsker Vereinba-rungen zumindest für vier Jahre, um die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainische Wirtschaft aufzu-bauen sowie das ukrainische Militär mit Hilfe der Nato auszubilden).“

Poroschenkos Äußerung bestätigte kein geringerer als der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg , als er bereits am 15. Oktober 2022 der Tagesschau ein Interview gab. Auf die ARD-Frage: „Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?“ antwortete Stoltenberg : „Der Mut und die Entschlossenheit der Ukrainer ist viel höher als bei den russischen Streitkräften. Deren Moral ist niedriger. Hinzu kommt, dass die Ukrainer erfahrener sind. Denn seit 2014 haben Nato-Verbündete die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt, viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte und die Krim illegal annektierte.“

Nun hat Kuleba nach eigener Bekundung fünf „Lehren“ aus den Verhandlungen mit Russland gezogen:

  • Es sei ein Fehler, den Krieg einzufrieren und die Lösung territorialer Probleme zu vertagen.
  • Russland verhandle nicht in guter Absicht.
  • Die Befreiung der Krim („the de-occupation of Crimea“) könne nicht verschoben werden.
  • Russland reagiere nicht auf konstruktive Vorschläge.
  • Partner sollten Russland und nicht die Ukraine zu Konzessionen zwingen.

Betrachtet man diese „Lehren“, so sind sie nicht weiter als substanzlose Anschuldigungen und denunziatorische Behauptungen zwecks einer Diskreditierung des Feindes und der Verschleierung der eigenen Mitschuld am Kriegsausbruch. Und genau in diesem Kontext resümiert Kuleba antifaktisch:

„Trotz aller Mängel des Minsker Prozesses hat sich die Ukraine an ihre Verpflichtungen gehalten. Gemeinsam mit Frankreich und Deutschland haben wir uns um eine transparente Lösung und einen gerechten Frieden bemüht. Das russische Regime hat seinerseits keinen einzigen Punkt der Vereinbarungen von Minsk-1 und Minsk-2 erfüllt.“

Nun ja, die ukrainische Machtelite verfuhr schon immer nach der Devise: Der Angriff sei die beste Verteidigung. Und ihr Lieblingsspiel, das insbesondere seit 2014 mit zunehmender Intensität gespielt wird, lautet: Das vertraglich Vereinbarte müsse genau in sein Gegenteil nach dem Motto umgekehrt werden: „Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?“

Wie gesagt, in keiner der insgesamt 13 Punkten umfassenden Vereinbarungen des Minsker Abkommens war fixiert, dass Russland „Konfliktpartei“ sei und dass es verpflichtet sei, irgendetwas zu erfüllen. Das Abkommen betraf ausschließlich die innerukrainischen Konfliktparteien, welche die verfassungspolitischen und anderen Regelungen unter sich treffen und aushandeln sollten.

Das im Westen oft und gern erzählte Narrativ, Russland sei eine Konfliktpartei, ist einerseits insofern richtig, als es genauso, wie der Westen, in den ukrainischen Bürgerkrieg involviert war. Jawohl, der ukrainische Bürgerkrieg! Es gab in den vergangenen acht Jahren bis zum 24. Februar 2022 in der Ukraine Bürgerkrieg und keinen zwischenstaatlichen Konflikt, in welchem Russland und der Westen gleichermaßen die jeweilige Bürgerkriegspartei tatkräftig unterstützt haben.

Das Minsker Abkommen sah andererseits Verhandlungen zwischen der Kiewer Regierung und den Separatisten und nicht zwischen der Ukraine und Russland vor. Dieses Minsker Abkommen hat die Kiewer Regierung von Anfang an insbesondere verfassungspolitisch torpediert, sodass Kulebas Artikel nur einem einzigen Zweck dient: sich von der Mitschuld am Kriegsausbruch in der Ukraine freizusprechen.

4. Lt. Col. Daniel Davis: „Nuclear War“ sei kein „Video Game“

Am 29. Januar 2023berichtete Joshua Klein in seinem Artikel „Exclusive –Lt. Col. Daniel Davis Warns of Nuclear War: U.S. Has ‘No Plan’ in Ukraine, This Is Not a ‘Video Game’“ für Breitbart News Network über Daniel Davis , einen Defense Priorities Senior Fellow und Militärexperte. Davis verbrachte über zwei Jahrzehnte im aktiven Dienst, darunter Kampfeinsätze im Irak und in Afghanistan, und wurde mit zwei Bronze Star Medaillen ausgezeichnet.

In diesem Artikel bezeichnete er die jüngste Entscheidung der Biden-Administration und der zahlreihen EU-Länder, die Panzer aus westlicher Produktion in die Ukraine zu schicken, nichts weiter als einen PR-Gag. Wörtlich sprach er von einer „riesigen Informationsoperation, einem Gamechange“ (huge information operation ‘game changer’) und warnte davor, den tobenden Informationskrieg mit dem realen Kriegsgeschehen an der Front nicht zu verwechseln.

„Als jemand, der an Gefechten zwischen Panzern teilgenommen hat, der während des Kalten Krieges und möglicher sowjetischer Invasionen an der Ost-West-Grenze patrouilliert hat und der Mitte der 2000er Jahre in Deutschland stellvertretender Kommandeur einer gepanzerten Kavallerieschwadron der Ersten Panzerdivision war, kann ich Ihnen sagen“ fügte Davis hinzu, „dass die Nato-Panzer allein noch keinen Erfolg auf dem Schlachtfeld bedeuten.“

Der Krieg sei nämlich kein „Videospiel“ (video game). Was bei den Videospielen funktioniere, funktioniere unter realen Kriegsbedingungen noch lange nicht. Selbst wenn wir alle Waffen der Welt an die Ukraine liefern würden, würden wir – merkte Davis an – nur eines bewirken, „Russland dazu zu bringen, in den Krieg zu ziehen“ (making Russia want to go to war). Waffenlieferungen werden in Russland, statt es abzuschrecken und einzuschüchtern, „genau den gegenteiligen Effekt“ haben, warnte Davis .

Russland werde alles tun, um zu gewinnen (Russia does whatever it takes to win), und wir seien offenbar dessen noch gar nicht bewusst, welches gefährliches Spiel wir hier spielen. Da Russland weder Syrien noch Irak, weder Libyen noch Jemen oder Iran sei, können wir es nicht nach Belieben angreifen, wie wir es gerne hätten.

Und so stecken wir in einem Dilemma: In der in den Interventions- und Invasionskriegen der vergangenen 20 Jahren erworbenen Mentalität verbleibend, werden wir mit der Realität konfrontiert, gegen Russland als „the biggest nuclear stockpile in the world“ Krieg führen zu müssen. Wir befinden uns damit in einem Spagat zwischen der überkommenen Mentalität und einer für uns ungewohnten Realität, die sich zur Wehr setzt, ohne dass wir darauf angemessen reagiert haben. Um diesen Spagat beseitigen zu können, müssen wir unsere Mentalität überwinden oder die neue geopolitische Realität anerkennen. Genau das ist aber unser Problem.

Obwohl die Spielregeln im aktuellen Szenario anders seien, verhalten wir uns nicht anders. „Und ich befürchte“ – meint Davis -, dass Russland eines Tages sagen werde: „OK, you finally did cross a red line this time and we’re going to take action.“ Diese Aktion werde nicht konventioneller Natur sein, weil Russland keine Chance habe, die Nato konventionell besiegen zu können. „There is zero chance – and I mean zero – not point anything, that Russia could ever militarily defeat NATO in a conventional sense,” he said. “It’s a physical impossibility. They’re just struggling even now to defeat Ukrainians in part of the Donbas, their next-door neighbor, so they certainly couldn’t take on a 30 member NATO military alliance; they know that.”

Der einzige Weg, sich gegen die NATO zu verteidigen, sei für Russland folglich natürlich der Einsatz von Atomwaffen“, sodass wir uns nichts vormachen sollten. Aber genau diese geo- und sicherheitspolitische Realität möchten wir nicht wahrhaben. Wir machen uns gerne etwas vor, um unsere eigene Realität zu konstruieren, was auch immer das sein mag. Eskapismus nennt sich das und diesem Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.

Anmerkungen

1. Alle Zitate nach Förster, S., Der Sinn des Krieges. Die deutsche Offizierselite zwischen Religion und Sozialdarwinismus, 1870-1914, in: Krumeich, G./Lehmann, H. (Hrsg.), „Gott mit uns“. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, 193-211 (197 f.).
2. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 260.
3. Zitiert nach Doug Bandow, Weighing a Nuclear Treat. Washington should take the treat seriously and minimize the risk of attack. The American Conservative, 19. Januar 2023.

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