Verlag OntoPrax Berlin

George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre

Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“

Übersicht

1. Kennans Warnung und die Ignoranz der Clinton-Administration
2. Kennan versus Talbott: Idealismus versus Expansionismus
3. Kennan und die Ukrainefrage

Anmerkungen

1. Kennans Warnung und die Ignoranz der Clinton-Administration

In seiner Studie „Kennan’s Warning on Ukraine“ für Foreign Affairs vom 27. Januar 2023 machte Frank Costigliola neue Einzelheiten über die Warnung von George F. Kennan vor der Nato-Osterweiterung publik. Als der US-Vizeaußenminister Nelson Strobridge Talbott (1993-2001) Kennan anbot, zusammen mit dem US-Präsidenten Bill Clinton 1995 anlässlich der 50-jährigen Wiederkehr des Sieges über Nazi-Deutschland nach Moskau zu fliegen, schlug der 91-jährige die Einladung aus gesundheitlichen Gründen aus. „Seine Weigerung zu gehen, war wohl das Beste“ (His refusal to go was probably for the best), was Kennan tun konnte, kommentiert Costigliola Kennans Entscheidung.

Was ist passiert? Lehnte Kennan die Reise wirklich allein aus gesundheitlichen Gründen ab? Mitnichten! Das Urgestein der amerikanischen Russlandforschung und der Erfinder der Containment-Politik war nicht nur einer der wenigen, der den Untergang der Sowjetunion prophezeite, sondern auch der entschiedenste Gegner der Nato-Expansionspolitik, hatte er doch nicht ohne Recht die gravierenden Folgen einer solchen US-Russlandpolitik befürchtet.

In beiden Fällen hat die Geschichte Kennan recht gegeben: Das Sowjetimperium ging ebenso zugrunde, wie die Nato-Osterweiterung zum Ukrainekrieg führte. Bereits 1951 veröffentlichte Kennan inmitten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“ und der gezielt geschürten Angst vor dem „unbegrenzten sowjetischen Expansionismus“ einen ungewöhnlichen Aufsatz „America and Russian Future“ in „Foreign Affairs“. In diesem Aufsatz machte Kennan eine ebenso aufschlussreiche wie zukunftweisende Voraussage, dass nämlich der Sowjetkommunismus in Russland lediglich „ein sowjetisches Zwischenspiel“ der russischen Geschichte bleiben und „die Sowjetmacht“ sich eines Tages totlaufen werde.1

Genau 40 Jahre nach der Veröffentlichung des Artikels ging seine Prophezeiung tatsächlich in Erfüllung. Und so stellen wir heute mit Erstaunen fest, dass sich auch Kennans Warnung vor der Nato-Expansion als prophetisch herausstellte. Freilich ist er nicht als Prophet in die Geschichte eingegangen, der im eigenen Land nichts galt, hat man doch seine Warnung in den Wind geschlagen.

„A Prophet ignored“ nennt Costigliola deswegen Kennan und mutmaßt anschließend: Kennan hätte sich benutzt gefüllt, hätte er die wahren Absichten von Clintons Reise nach Moskau gewusst. In seinem Memorandum an Clinton bezeichnete Talbott nämlich den Tag nach den Jubiläumsfeierlichkeiten, den 10 Mai als „die Stunde der Wahrheit“ („May 10: Moment of Truth“). Auf Vorschlag von Talbott übte Clinton Druck auf Boris Jelzin die „NATO’s expansion“ zu akzeptieren und im Gegenzug „Moscow’s participation in the Partnership for Peace“ als „NATO-lite“ anzubieten, um die russischen Bedenken zu zerstreuen.

Wie zu erwarten war, stieß Clintons Vorhaben auf einen heftigen Widerstand der russischen Seite. Und so berichtete Talbott Clinton im erwähnten Memorandum, dass „virtually all major players in Russia, all across the political spectrum, are either deeply opposed to, or at least deeply worried about, NATO expansion.“ Talbotts Beteuerung, dass nämlich „die Hauptakteure in Russland“ querbeet gegen die Nato-Osterweiterung oder darüber zumindest zutiefst besorgt sind, ist zwar nicht von der Hand zu weisen, nicht desto weniger aber ergänzungsbedürftig.

Um die Mitte der 1990er-Jahre war in der russischen Gesellschaft eine unbefangene Offenheit und Aufgeschlossenheit bis zu einer kaum zu übertreffenden Naivität zu beobachten, mit welcher die russischen Außenpolitiker und Sicherheitsexperten vertrauensvoll auf den Westen blickten und dessen Ziele und Absichten analysierten. Zwar warnten sie in der Tat eindringlich vor der Nato-Osterweiterung, gleichzeitig lehnten sie aber „jegliche Art von >Einfrieren< der Zusammenarbeit mit dem Westen“ ab.

Zwar wiesen sie darauf hin, dass die Pläne der Nato zu einer schweren Krise in den Beziehungen zwischen Russland und dem Westen führen könne und dass es im Westen genug einflussreiche politische Gruppen gäbe, „die nur auf einen faux pas warten, der einen neuen Kalten Krieg hervorrufen könnte.“2 Eine solche Entwicklung sollte aber auf keinem Falle zum Bruch mit dem Westen führen.

Wir befinden uns (noch) in den „Flitterwochen“ der Ost-West-Beziehungen, in denen zumindest auf der Oberfläche die „glücklichen“, „ungetrübten“ und „unbeschwerten“ Verhältnisse zwischen Russland und dem Westen vorherrschten und die russische Gesellschaft von einem westlichen Wohlstand und einer vielversprechenden Zukunft zusammen mit „westlichen Freunden und Partnern“ träumte.

Aus heutiger Sicht rufen solche Träume und Illusionen nur noch Erstaunen und Unglauben hervor. Heute befinden wir uns ein Vierteljahrhundert später in einer ganz anderen Welt. So „schnell“ ändern sich nun mal die Zeiten. Wie naiv, unbefangen, unaufgeklärt und vor allem leichtgläubig waren doch die westlich gesinnten russischen Funktionseliten der 1990er-Jahre.

Viel zu spät wurden sie desillusioniert und manche gaben freimütig erst im Nachhinein ihre Illusionen zu. „Der anfängliche Versuch, sich in die westlichen Strukturen zu integrieren und sogar eine Art >dritter Westen< (третьий Запад) neben den USA und der EU im Rahmen der euroatlantischen Welt werden zu wollen“, ist – stellt Dmitrij Trenin (ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center) in seinem 2021 erschienenen Werk rückblickend fest – „kläglich gescheitert.“3 Trenin unterlag selbst nach eigenen Angaben in den 1990er-Jahren „dieser Illusion“.4

Erst allmählich begriffen die russischen außen- und sicherheitspolitischen Experten, was eigentlich vor sich geht, um sodann resigniert und ernüchtert festzustellen: „Die Hoffnung einer absoluten Minderheit westlicher Politiker, einen neuen, ja sogar absurden Kalten Krieg zu provozieren, um zumindest zeitweise das >Hauptorganisationsprinzip< der NATO, d. h. die Prämisse der >Bedrohung aus dem Osten<, zu neuem Leben zu erwecken, sollten nicht von der Hand gewiesen werden.“5

Was für die russischen Experten der 1990er-Jahre noch als ein „absurder Kalten Krieg“ einer „absoluten Minderheit“ galt, ist seit Putins Münchener Rede 2007 und spätestens seit dem Ausbruch der Ukraine-Krise (2014) und erst recht in den Kriegsjahren 2022/23 weder absurd noch eine Minderheitsposition.

2. Kennan versus Talbott: Idealismus versus Expansionismus

1997 war Kennan – berichtet Costigliola – erneut darüber alarmiert, dass die Nato nicht nur die Tschechische Republik, Ungarn und Polen aufnehmen wolle, sondern auch eine militärische und maritime Kooperation mit der Ukraine anstrebe. „Nirgends erscheint diese Entscheidung so verhängnisvoll und fatal als im Fall der Ukraine mit schicksalshaften Konsequenzen“, warnte Kennan Talbott in einem privaten Brief.

Kennan sorgte sich vor allem um „Sea Breeze“ – eine gemeinsame Ukraine-NATO-Marineübung. Der damals anhaltende Streit zwischen Kiew und Moskau über den Marinestützpunkt Sewastopol auf der Krim trug erst recht zu den Spannungen bei. Wie passte eigentlich diese Marineübung – fragte Kennan Talbott – zu Washingtons Bemühungen, Russland davon zu überzeugen, dass die Nato-Osterweiterung keine unmittelbaren militärischen Konnotationen habe?

Talbott zollte laut Costigliola zwar Kennan seinen Respekt, teilte seine Befürchtungen aber aus grundsätzlichen Erwägungen nicht. Er ging nämlich davon aus, dass der ökonomische Niedergang Russland dazu zwingen würde, sich dem Westen anzupassen. Wörtlich schreibt Talbott an Kennan : „Russland wird aus seiner tief verwurzelten Denkgewohnheit und Verhaltensweise ausbrechen müssen, indem es lernen wird, mit seinen Nachbarn zu kooperieren, statt sie zu dominieren. Russland muss sich anpassen und die US-Macht an seinen Grenzen akzeptieren („Russia had to do the adjusting and accept U.S. power on its borders“). Die Clinton-Administration beabsichtige also, die Kooperation mit der Ukraine nicht zu stoppen, sondern ganz im Gegenteil sie auszubauen.

In dieser aufschlussreichen und strategisch bedeutsamen Äußerung Talbotts verdichtet sich nicht mehr und nicht weniger als die US-Grand Strategy after the Cold War, die Brzezinski 1997 „imperiale Geostrategie“ nennen6 und zur geostrategischen Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik7 führen wird.

Talbotts Äußerung deutet auf dreierlei:

  • Russlands ökonomischer Niedergang der 1990er-Jahre wird zwecks dessen geoökonomischer Domestizierung billigend in Kauf genommen (eine geoökonomische Strategie );
  • Eine Änderung der tief verwurzelten Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen Russlands wird angestrebt (eine ideologische bzw. Reeducation-Strategie );
  • Die Nato-Expansion wird als das Vehikel der Marginalisierung Russlands als Groß- und Nuklearmacht begriffen und mit dem Ziel der Beherrschung Eurasiens in Gang gesetzt (eine geopolitische Strategie ).

Mit diesem strategischen Dreiklang legte die Clinton-Administration das Fundament für die US-Russlandpolitik, die bis heute fortdauert. Wie der Kriegsausbruch in der Ukraine gezeigt hat, ist diese bereits seit gut einem Vierteljahrhundert andauernde US-Russlandpolitik restlos gescheitert. Sie musste auch scheitern, hatten doch alle US-Administrationen „after the Cold War“ aus Übermut, Anmaßung, Machtarroganz und nicht zuletzt aus der Unkenntnis der russischen Geschichte agiert. Ohne verstanden zu haben, dass sie mit dieser dreifachen Zielsetzung eine geostrategische Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik erzeugen, haben die US-Geostrategen letztendlich ihre eigene Russlandpolitik untergraben.

Hat George Kennan also mit seiner Warnung vor der Nato-Expansion doch recht gehabt? Nicht ganz! Kennan war ein Ideologe und Idealist, aber eben kein Geostratege. Sein ganzes Leben war er ein von Entsetzen und Abscheu ergriffener Antistalinist, hat er doch selber als Diplomat in Moskau (1933-1937) unmittelbar und hautnah den Stalin-Terror erlebt. Als Ideologe des „Kalten Krieges“, der auf persönliche Veranlassung Stalins zur persona non grata erklärt und des Landes verwiesen wurde, hat er das Sowjetsystem sein Leben lang erbittert bekämpft.

Im Zentrum seines Denkens und Wirkens stand in erster Linie die Bekämpfung des Sowjetkommunismus, ohne dass er (und nicht nur er) eine geopolitische Tragweite der Konfrontation zwischen Russland und den USA jemals so richtig verstanden hat. Das war nun mal die „Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher ) und nicht der Geopolitik.8 Kennan vertrat immer die Auffassung, dass Russland – sollte das kommunistische Regime verschwinden – zu den Ursprüngen „des russischen Liberalismus“ zurückkehren werde, wofür er lebenslang gekämpft hat. Seine jahrzehntelange schriftstellerische Tätigkeit ist der Beweis dafür.

Als Ideologe hat Kennan allerdings die geo- und sicherheitspolitische Neuordnung Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verkannt. Denn es ging in den 1990er-Jahren nicht mehr um einen ideologischen Systemwettbewerb der Supermächte, sondern um den Ausbau und die Festigung der Machtstellung der USA als gesamteuropäischer Ordnungsmacht.

Diese Weichenstellung wurde von Paul D. Wolfowitz bereits im Jahr 1992 am prägnantesten formuliert. In seinem 1992 konzipierten Präventivstrategiepapier „Defense Planning Guidance“ sah er als Hauptziel der amerikanischen Geopolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien, und den Aufstieg demokratischer US-Verbündeter wie Deutschland und Japan.“9

Mit anderen Worten: Kennan und Talbott redeten einander vorbei, als sie in der Frage nach der Nato-Osterweiterung aneinandergerieten. Nach der Erfüllung seines Lebenstraums – die Überwindung des Sowjetkommunismus in Russland -, sah Kennan nun seinen zweiten Traum – die Errichtung eines „anderen Russlands“ – vor dem Hintergrund der Nato-Expansionsplanungen in akuter Gefahr.10

Vierzig lange Jahre träumte er vom Wiederaufleben der liberalen Tradition Russlands. Umso mehr war er entsetzt über die US-amerikanische Planung zur Nato-Osterweiterung. Offenbar fürchtete er nicht ohne Recht, dass die Nato-Expansion statt Russlands Annährung an den Westen zu dessen Entfremdung führen und dadurch sein Traum vom liberalen Russland platzen könnte.

Einen ganz anderen, nämlich geopolitischen Ansatz verfolgte hingegen die Clinton-Administration in der Person Talbott . Frei von Kennans Idealisierung Russlands dachte er realpolitisch und wie Paul D. Wolfowitz geostrategisch . Zwar strebte er wie Kennan das gleiche Ziel – eine Liberalisierung und Demokratisierung Russlands – an, glaubte aber, es mit einer Nato-Expansionspolitik eher erreichen zu können. Wer hatte nun in diesem Konflikt recht: der Idealist Kennan oder der Expansionist Talbott?

Kennans Traum von einem liberalen Russland war eine Fata Morgana. Er hat sein Leben lang einen falschen Traum geträumt. Es ist an der Zeit, mit dem Mythos von einer „liberalen Tradition“ Russlands gründlich aufzuräumen. Denn es gab sie in dem Sinne, wie sie sich im Westeuropa des 19. Jahrhunderts entwickelt hat, nicht.11

Wie auch immer, das Tragikomische an seiner Ablehnung der Nato-Osterweiterung war freilich der Umstand, dass Kennan die richtige Warnung aussprach, die aber aus falschem Grund erfolgte. Indem er sein Augenmerk allein auf eine ideologische Bekämpfung des Sowjetkommunismus fokussierte und das Zarenreich vor dem Hintergrund des Stalin-Terrors gewiss nicht ohne Recht idealisierte, ignorierte er die geopolitische Dimension des Konflikts zwischen Russland und den USA und vermengte folgerichtig Ideologie mit Geopolitik (zurzeit der „Kalten Krieges“), Idealität mit Realität bzw. Axiologie mit Geostrategie (nach dem Ende des „Kalten Krieges“).

Nun wissen wir heute vor dem Hintergrund des tobenden Krieges in der Ukraine, dass Kennans Warnung vor der Nato-Osterweiterung alles andere als abwegig war. Die brutale geopolitische Realität gibt ihm heute recht. Heute rächt sich die Machtarroganz, mit welcher die Clinton-Administration, die nachfolgenden US-Administrationen und die transatlantischen Machteliten stets diese Warnung ignorierten und ihr keine Beachtung schenkten.

Talbotts Expansionspolitik hat aber ebenfalls ihr ultimatives Ziel verfehlt, weil der strategische Dreiklang eine geostrategische Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik erzeugte und darum von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Und sollte der Clinton-Administration für die US- Russlandpolitik die US-Deutschlandpolitik nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges Pate gestanden haben, so war das eine Idee fix und nichts weiter.

Talbotts strategischer Dreiklang legte das Fundament für die nachfolgende US-Geopolitik in Europa und Eurasien und darin bestand die ganze Tragik der US-Russlandpolitik in den vergangenen dreißig Jahren. Denn weder Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ noch die ideologisch geleitete Nato-Expansionspolitik waren zielführend. Der „imperialen Geostrategie“ ist es nicht gelungen, ein „Bündnis“ der „Barbarenvölker“ zu verhindern. Und die ideologisch (und nicht nur sicherheitspolitisch) fundierte Nato-Expansion konterkarierte wiederum Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ und brachte die US-geopolitische Offensive in Eurasien zum Fall.

Bis heute orientiert sich die US-Russlandpolitik an dieser verfehlten Strategie, ohne deren Scheitern analysieren, geschweige begreifen zu wollen oder zu können. Indem die Ideologie die Geopolitik wie zu Zeiten des Ost-West-Konflikts priorisierte, unterminierte sie automatisch zumindest Brzezinskis dritte „große Imperative imperialer Geostrategie“: Die Bündnisverhinderung der „Barbarenvölker“.12 Die Nixon/Kissinger -Entspannungspolitik hat uns Anfang der 1970er-Jahre gezeigt, dass es auch anderes gehen kann.

3. Kennan und die Ukrainefrage

Nun berichtet Costigliola über ein von Kennan im August 1948 fertiggestelltes „policy paper“ unter dem Titel „U.S. Objectives with Respect to Russia“. In diesem „Paper“ will Costigliola Kennans Vorschläge für den Fall identifiziert haben, dass die Russen in die Ukraine einmarschieren („Kennan laid out the United States’ ultimate aims in the event that the Russians invaded Ukraine“). Ferner behauptet Costigliola : Kennan soll erkannt haben, dass die Ukrainer „die russische Herrschaft verabscheuten.“ Zum Beweis wurden die ukrainischen nationalistischen Organisationen angegeben, die „im Ausland aktiv und lautstark“ waren. Kennan müsste – schlussfolgert Costigliola – eigentlich zu dem Schluss kommen, dass die Ukraine unabhängig sein sollte. Stattdessen sprach er sich dagegen, entrüstete sich Costigliola . Schlimmer noch: Kennan forderte die USA auf, die Abspaltung der Ukraine abzulehnen.

Soweit Costigliolas Bericht. Seine Deutung dessen, was er in Kennans „policy paper“ entdeckt haben will, ist offenkundig eine politisch motivierte Überinterpretation von Kennans Schriftstück, sollte es authentisch und nicht gefälscht sein. Im Jahr 1948 gab es weder die Ukraine noch RF, sondern die Sowjetunion, sodass von einem wie auch immer gearteten ethnischen oder machtpolitischen Konflikt zwischen Russen und Ukrainer innerhalb des Sowjetreiches gar keine Rede sein kann. Kennan war zwar ein Prophet des Untergangs der Sowjetunion, aber eben kein Seher, der die Zukunft voraussehen konnte.

Was wir im Jahr 1948 ff. vorfinden, ist etwas ganz anderes. Nach dem Abrücken der deutschen Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkrieges findet in den westlichen Provinzen der Ukraine bis in die 1950er-Jahre hinein ein blutig geführter Kampf zwischen den ukrainischen Nationalisten und den Überresten zahlreicher Nazi-Kollaborateure und der Sowjetmacht statt.

Costigliolas Versuch, aus einem singulären Ereignis mit Verweis auf Kennan einen ethnischen Konflikt zwischen Russen und Ukrainern zu konstruieren, ist darum nichts weiter als eine geopolitisch motivierte Fabel, die offenbar dazu dienen soll, die gegenwärtige US-Ukrainepolitik zu rechtfertigen. Was Kennan angeht, so stand die Ukraine nie im Zentrum seines Denkens und Wirkens.

Und was Costigliolas Ausführungen anbelangt, so sind sie ergänzungsbedürftig: Erstens gab es keine „russische Herrschaft“ in der Ukraine, sondern die Sowjetmacht, an der die Ukrainer und Russen gleichermaßen beteiligt waren. Zweitens gab es die Ukraine als eine ethnisch homogene politische Einheit zu keiner Zeit ihrer Geschichte. Und selbst nach der Gründung der Ukraine als eines völkerrechtlich anerkannten souveränen Staates im Jahr 1991 ist sie ein Vielvölkerstaat geblieben.

Erst seit 2014 ist eine zunehmende Tendenz zur Herausbildung einer ethnisch homogenen Monokultur bei gleichzeitiger Verdrängung anderer kulturellen Identitäten festzustellen. Und drittens kann man eine scharfe Trennung zwischen Russen und Ukrainern nicht ohne weiteres ziehen, worauf Kennan zu Recht hingewiesen hat. Die beiden Ethnien sind Ostslawen und orthodoxe Christen, haben eine jahrhundertelange gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame kulturelle, sozioökonomische und verfassungspolitische Tradition.

Costigliolas Versuch, Kennans „Paper“ politisch zu instrumentalisieren, führt dazu, dass er beteuert: Kennan unterschätze „maßlos den Willen der Ukrainer zur Selbstbestimmung“ („Kennan’s assessment grossly underestimated Ukrainians’ will to self-determination“). Gleichzeitig gibt er aber freimutig zu: Kennan bezweifle, dass Russen und Ukrainer ethnisch voneinander unterschieden werden können und es gäbe keine klare Linie zwischen Russland und der Ukraine („Kennan doubted that Russians and Ukrainians could be easily distinguished in ethnic terms. He wrote in a State Department memo that >there is no clear dividing line between Russia and Ukraine, and it would be impossible to establish one<”).

Die Gründung einer unabhängigen Ukraine wäre nach Kennan „so künstlich und zerstörerisch wie ein Versuch, den Corn Belt … von der US-Wirtschaft zu trennen“ („would be as artificial and as destructive as an attempt to separate the Corn Belt … from the economy of the United States”).

Soweit, so gut! Was will Costigliola uns nun sagen? Mit Verweis auf Kennans Sympathie für Russland und dessen Ablehnung der ukrainischen Unabhängigkeit unterbreitet er Vorschläge zu einer möglichen Regelung des Ukrainekonflikts. 75 Jahre nach Kennans „policy paper“ sei sein Rat laut Costigliola heute noch relevant („Kennan’s advice remains relevant today“).

„Eine Föderation, die eine regionale Autonomie in der Ostukraine und vielleicht sogar auf der Krim zulässt, könnte beiden Seiten helfen, nebeneinander zu existieren“, glaubt Costigliola zu wissen. „Viele Analysten neigen dazu“ – lesen wir weiter -, „den aktuellen Konflikt als >Putins Krieg< darzustellen. Kennan glaubte aber, dass fast jeder starke russische Führer sich letztendlich gegen die totale Trennung der Ukraine wehren würde“ („Many analysts tend to portray the current conflict as >Putin’s war<, but Kennan believed that almost any strong Russian leader would eventually push back against the total separation of Ukraine“).

„Im Interesse der regionalen Stabilität und der langfristigen Sicherheit der USA muss Washington“ – schlussfolgert Costigliola – „eine nüchterne, klare Empathie für die Interessen der Russen sowie der Ukrainer und anderer Nationalitäten haben.“

Es sei dahingestellt, ob Costigliolas Überlegungen zur Regelung des Ukrainekonflikts sinnvoll und realistisch sind. Mit Kennan s Denken und Wirken haben sie allerdings so gut wie gar nichts zu tun. Kennan hatte eine ganz andere politische Agenda. Bereits drei Jahre nach dem „policy paper“ entwickelte Kennan in seinem 1951 in der „Foreign Affairs“ erschienenen Aufsatz „America and Russian Future“ eine Theorie von einem „anderen Russland“ als Alternativvorstellung sowohl zum Sowjetsystem als auch zu US-Kriegsplanungen gegen die Sowjetunion.

Zwar könnte ein „Krieg mit der Sowjetmacht, dessen Ausgang in militärischer Hinsicht noch als relativ günstig für den Westen“ erscheint, erfolgreich beendet werden; er würde aber „an sich nur wenig oder gar nicht zur Realisierung jenes >Anderen< beitragen, das wir für Russland zu erreichen hoffen.“13

Besser wäre es nach Kennan über „das Bild eines anderen, eher zu akzeptierenden Russlands“ nachzudenken, „das für uns Amerikaner ein reales und erstrebenswertes Ziel wäre“, als „Gedanken an einen eventuellen Krieg“ zu verschwenden (ebd.).

Nun macht Kennan in seinem Artikel eine bemerkenswerte, weil zukunftweisende Empfehlung an die Adresse des Westens, die heute genauso aktuell wie damals ist: Den „Mitgliedern künftiger russischer Regierungen wäre nicht damit gedient, wenn wohlmeinende, aber doktrinäre und ungeduldige Freunde aus dem Westen, nur weil sie Anderes und Besseres in Russland zu sehen wünschen als den heutigen Bolschewismus, in kürzester Frist von ihnen einen russischen Abklatsch der westlichen Demokratie in ihrer Idealform erwarten würden“ (ebd., 343).

Vor allem müssen die US-Amerikaner – fügt Kennan hinzu – aufhören, „andere Menschen danach zu beurteilen, in welchem Maße sie es fertigbringen, sich uns anzugleichen“. Denn unsere Institutionen seien für die andere soziale Struktur oder Regierungsform nicht immer geeignet, „ohne dass sie deswegen kritisiert zu werden verdient . . . Regierungsformen werden vornehmlich im Feuer der Praxis geschmiedet, nicht im luftleeren Raum der Theorie . . . Wenn sich aber eines Tages die Sowjetmacht totgelaufen hat . . ., dann sollten wir die Nachfolger nicht ständig nervös mit unseren Gedanken umkreisen und nicht durch tägliche Experimente festzustellen suchen, ob sie nach unserer Auffassung >demokratisch< regieren. Man lasse ihnen Zeit, man gestatte ihnen, Russen zu sein und ihre internen Probleme auf ihre Weise auszuarbeiten . . . Wohl gibt es . . . bestimmte Züge eines künftigen russischen Staates, an denen die übrige Welt ein berechtigtes Interesse hat. Die Regierungsform selber jedoch gehört nicht dazu oder doch nur insofern, als man verlangen kann, dass sie sich in gewissen, fest umrissenen Grenzen hält, jenseits derer der Totalitarismus liegt“ (ebd.).

Diese erstaunliche, bereits vor gut 70 Jahren präsentierte Geisteshaltung ist heute aktueller und moderner denn je; sie sollte auch zur ideologiefreien Grundlage der US-Russlandpolitik werden. Auf einen Nenner gebracht, lautet Kennans Vision von Russlands Zukunft: Im Falle der Abwendung Russlands vom sowjetischen Totalitarismus sollte man die Russen verfassungspolitisch Russen sein lassen.

Kennans Vision von „einem Russland der Zukunft“ wurde vor dem Hintergrund eines ideologisch erbittert geführten Systemwettbewerbs zwischen dem Westen und dem Sowjetsystem konzipiert. Drei Bedingungen müssten seiner Meinung nach erfüllt werden, sollte das „Russland der Zukunft“ Wirklichkeit werden: Der „Eiserne Vorhang“ muss überwunden, eine zügellose Machtausübung eingeschränkt und schließlich „das alte Spiel imperialistischer Expansion und Unterdrückung als verderblich und unwürdig“ aufgegeben werden (ebd., 347).

Würde „ein neues Russland“ diese Bedingungen erfüllen, dann bräuchten sich „die Amerikaner über seine Wesensart und Ziele weiter keine Gedanken zu machen“ (ebd., 347). Kennan s Gedankengang, der primär ideologisch und nicht macht- bzw. geopolitisch geprägt ist, kommt an dieser Stelle deutlich zum Vorschein. Er ist der festen Überzeugung, dass „früher oder später, allmählich oder mit einem Schlage dieses entsetzliche System der Gewalt, das ein großes Volk in seinem Fortschritt um Jahrzehnte zurück-geworfen und wie ein Schatten über die zivilisatorischen Bestrebungen der übrigen Welt gelegen hat, als lebendige Wirklichkeit“ zu existieren aufhört. „Es wird dann nur noch als geschichtliches Faktum weiterleben“ (ebd., 351).

Kennan ist ein überzeugter Antistalinist – ein Ideologe und Idealist zugleich, aber eben kein Geopolitiker, der das System (nicht das Imperium ) zwar ideologisch überwinden will, machtpolitisch aber nicht weiterdenkt, da er die geopolitische Tragweite seines „neuen Russlands“ komplett ausblendet. Das ist die entscheidende Schwäche seiner „Theorie“ vom „Russland der Zukunft“. Seine Affinität zur russischen Kultur erklärt ebenfalls diese geopolitische Blindheit.14

In Kennans „Russland der Zukunft“ gibt es allerdings keinen Platz für die Ukraine, weil Russen und Ukrainer aus seiner Sicht >siamesische Zwillinge< seien.

Anmerkungen

1. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353 (343); Eine eingehende Analyse der Schrift findet man bei Silnizki, M., Georg F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. „Geist“ des „Kalten Krieges“ und die Gegenwart. 4. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
2. Russland und die NATO. Thesen des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik der Russischen Föderation, in: Pradetto, A. (Hrsg.), Ostmitteleuropa, Russland und die Osterweiterung der NATO. Perzeptionen und Strategien im Spannungsfeld nationaler und europäischer Sicherheit. Darmstadt 1997, 161-177 (163). Vgl. Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022,  www.ontopraxiologie.de.
3. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021, 48 f.; näheres dazu Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021, www.ontopraxiologie.de.
4. Trenin (wie Anm. 3), 461 FN 5.
5. Russland und die NATO (wie Anm. 2), 166.
6. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.7. Silnizki, M., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar 2023, www.ontopraxiologie.de.
8. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 1).
9. Zitiert nach Kubbig, B. W., Wolfowitz` Welt verstehen. Entwicklung und Profil eines „demokratischen Realisten“. HSFK 7 (2004).
10. Vgl. Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017.
12. Näheres dazu Silnizki, M., Geostrategische Dysfunktionalität der US-Russlandpolitik, in: ders., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik (wie Anm. 7).
13. Kennan, G. F., Amerika und Russlands Zukunft, in: Der Monat 34 (1951), 339-353 (339).
14. Vgl. Kennan (wie Anm. 1), 348: „Nirgendwo auf Erden hat das schwache Flämmchen des Glaubens an Würde und Barmherzigkeit des Menschen unsicherer in den Stürmen der Zeit geflackert als hier. Und doch ist es niemals erloschen; es leuchtet noch heute, sogar im Herzen des russischen Reiches, und wer den Kampf des russischen Geistes durch die Jahrhunderte verfolgt, kann nur voller Bewunderung sein Haupt neigen vor dem Volk, das dieses Licht durch alle Leiden und Opfer bewahrt hat.“

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