Verlag OntoPrax Berlin

Geopolitische Revolution

Im Schlepptau des Ukrainekonflikts

Übersicht

1. Von geopolitischen Erschütterungen unserer Zeit
2. Das Aufbegehren des Nichtwestens
3. Die Militarisierung der US-Außenpolitik und deren Folgen

Anmerkungen

„Такой интенсивности военных действий современная
РФ еще не знала.“
(Eine solche Intensität der Kriegshandlungen hat das
moderne Russland noch nicht gekannt.)
(Valerij Gerasimov, 23. Januar 2023)

1. Von geopolitischen Erschütterungen unserer Zeit

Der französische Historiker Emmanuel Todd hat im vergangenen Jahr 2022 mit seiner Schrift „Après l’empire“ („Weltmacht USA: Ein Nachruf“) in Frankreich Furore gemacht. Nun sprach er in einem Interview mit dem FAZ-Journalisten Jürg Altwegg Anfang dieses Jahres von einem „beginnenden Dritten Weltkrieg“.1

Diese kühne These wäre originell und einer Aufmerksamkeit wert, hätten manche Vertreter der russischen Macht- und Funktionselite mit Bezug auf den tobenden Ukrainekrieg nicht schon lange von einem „begonnenen Dritten Weltkrieg zwischen Russland und dem Westen“ gesprochen. Und hier drängt sich tatsächlich die Frage auf: In welchem „Aggregatzustand“ befindet sich heute die Weltgeschichte?

Nun, so genau weiß heute noch keine(r). Denn das, was in der Gegenwart geschieht – meinte der deutsche Philosoph Karl Löwith (1897-1973) einst -, sind „niemals abgeschlossene Fakten, sondern noch unausgeschöpfte Möglichkeiten, offen und unbestimmt in dem, was sie künftig bedeuten mögen“.2 Im Prozess des Geschehens komme stets etwas anders heraus, „als am Anfang einer Bewegung beabsichtigt war … Die Wege der Geschichte verkehren sich zwischen Ursprung und Ziel wie zwischen Absicht und Folge …, sodass der Anschein entsteht, als hätte auch alles anders kommen können.“3

Die Weltgeschichte ist kein geradliniger Prozess. Sie erleidet Rückschläge, verläuft wellen- oder ruckartig und deren Verlauf ist weder voraussehbar noch vorausbestimmbar.

Wer hätte denn zurzeit des Untergangs der Sowjetunion gedacht, dass der bald darauf in Gang gesetzten Verwestlichung der Welt heute – dreißig Jahre danach – einen Rückwärtsgang einlegt und sich genau in die umgekehrte Richtung bewegt: Von Verwestlichung hin zur Entwestlichung der Welt . Die Geschichte ist ein ständiger Wettstreit der zwei sich gegenseitig bekämpfenden und befeindeten Grundprinzipien der Veränderung und Bewahrung, Fortschritt und Tradition, Umwälzung und Beharrung, Revision des Bestehenden und Status-quo-Verteidigung.

Lässt man die vergangenen 100 Jahre Revue passieren, so können wir mindestens zweimal den Zusammenprall dieser beiden Grundprinzipien des historischen Prozesses diagnostizieren. In beiden Fällen war ein Krieg (der Erste und der Zweite Weltkrieg) der Auslöser dieses Prozesses. Es sieht so aus, als würden wir mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine einen neuen, dritten Versuch der vergangenen hundert Jahre erleben: Eine Revision der hier und heute bestehenden unipolaren Weltordnung, die zu einer Machtverschiebung vom Westen zum Nichtwesten führen und so eine geopolitische Revolution auslösen könnte.

Unlängst merkte Wang Wen (Meinungsmacher der chinesischen Regierungszeitung „Global Times“) in seinem Artikel „Beyond China, as more nations reject the US-led order, 2022 will go down as the year of ‘de-Westernisation’“ am 3. Januar 2023 an: „Die globale Signifikanz des Jahres 2022 wird stark unterschätzt. Seine welthistorische Bedeutung geht über das Jahr 2001 – das Jahr der Anschläge vom 11. September – und 2008 – das Jahr der globalen Finanzkrise –weit hinaus. Man sollte 2022 vielmehr mit 1991 vergleichen, als der Kalte Krieg zu Ende ging, und das Schlüsselwort dafür sei „de- Westernisation“.

Dieser Befund erklärt auch jene Verbissenheit, mit der die USA und ihre Nato-Verbündeten mit allen zur Verfügung stehenden Mittel (Nuklearwaffen ausgenommen) um die Ukraine kämpfen. Vor allem für die USA steht viel auf dem Spiel. Zur Disposition steht nicht mehr und nicht weniger als „das amerikanische Jahrhundert“.

Mit dem Aufstieg der USA zur mächtigsten Wirtschaftsmacht und zum Weltfinanzzentrum nach dem Ende des Ersten Weltkrieges begann eine Revision des „europäischen Jahrhunderts“ (Herbert Lüthy ),4

dessen Blütezeit mit der Vorherrschaft des British Empire – „Tyrannen der Welt“ (Theodor Schiemann )5 – und dem „europäischen Imperialismus“ (1882 – 1914) eng verbunden war, in ein amerikazentriertes Weltordnungssystems.

Dieser Prozess wurde vorübergehend durch einen Versuch von Nazi-Deutschland unterbrochen, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu revidieren. Das Ende des Zweiten Weltkrieges markiert die Entstehung einer bipolaren Weltordnung, in der die USA de facto ein Primus inter Pares waren.

Der Untergang einer der Supermächte der bipolaren Weltordnung und der Aufstieg der USA zum Hegemonen war nicht die Folge einer Revision, sondern die einer Fortbildung des bestehenden UN-Weltordnungssystems, das sich allerdings in den 1990er-Jahren einschleichend und ohne Gegenwehr de facto in eine unipolare Weltordnung verwandelte, da eine (revisionistische) Gegenmacht schlicht und einfach fehlte.

Dieses „unipolare Momentum“ (Stephen M. Walt ) dauerte dreißig Jahre. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine scheint Russland als Revisionsmacht in Erscheinung getreten zu sein, um freilich nicht die UN-Nachkriegsordnung, wohl aber deren Usurpation durch die USA in Frage zu stellen und die dadurch erfolgten geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen in Europa und Eurasien zu revidieren. Der nunmehr in Gang gesetzte Prozess markiert eine Entwicklung, deren Folgen noch gar nicht abzusehen sind. Unklar bleibt sowohl die Dauer dieses Prozesses als auch der Gewinner bzw. die Gewinner der begonnenen Revision.

Nur eins ist momentan klar: Das „unipolare Momentum“ ist zu Ende. Die USA sind eine in Bedrängnis geratene Status-quo-Macht, die nicht nur von Russland, sondern in dessen Schlepptau zunehmend auch von Groß- und Mittelmachten wie zurzeit des Sturms der „Barbaren“ auf das Römische Reich herausgefordert wird. Und die EU-Europäer werden in diesen Abstiegsstrudel hineingezogen.

Klar scheint ebenso zu sein, dass dieser Prozess blutig, sehr blutig verlaufen wird. So wie der Aufstieg der USA zuerst zu einer Wirtschaftsmacht und erst dann zur Super- bzw. Hegemonialmacht verlief, so scheint auch heute die Revision des bestehenden Weltordnungssystems ähnlich zu verlaufen.

Im nuklearen Zeitalter könnte dieser Prozess apokalyptische Formen annehmen. Die Entwicklung könnte zudem dadurch verkompliziert werden, dass die Status-quo-Verteidigung und die Status-quo- Veränderung sich nicht nur gegenseitig bedingen, sondern auch je nach der Lage der Dinge ununterscheidbar werden, sodass man vor der Gefahr stehen würde, die Folgewirkung eines unbestimmbaren Ereignisses vorausbestimmen zu müssen , ohne es vorausbestimmen zu können.

Die Neuordnung der Welt, die vor unseren Augen stattfindet, setzt sich allmählich, aber beharrlich beinahe auf allen Kontinenten durch. Diese geopolitische Entwicklung hat sich schon lange vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine abgezeichnet. Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt in den zahlreichen US-Angriffskriegen in einem noch sehr jungen 21. Jahrhundert. Die als „humanitäre Intervention“ verklärten US-Invasionen in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren (1999-2021) führten letztlich zur immer größer werdenden Distanz des Nichtwestens vom Westen und leiteten den Prozess der Entwestlichung im globalen Raum ein, der immer mehr antiwestliche Züge annimmt.

Die anfänglichen Verwestlichungserfolge haben vor allem im vom Sowjetkommunismus befreiten Ostmitteleuropa, aber auch im postsowjetischen Raum selbst viel Euphorie und Optimismus geweckt. Der anfängliche Optimismus schlug freilich in Russland bald in Depressionen, Resignationen und Zukunftsängste um, enttäuscht von den als „Demokratie“ und „Marktwirtschaft“ missverstandenen politischen und ökonomischen Verwerfungen des Transformationsprozesses. Die Transformation brachte eine skrupel- und verantwortungslose Macht- und Wirtschaftselite hervor, deren Vetternwirtschaft, Korruption und Kriminalität zur Ausplünderung des Landes geführt haben. Ein Ausbruch von Selbstmitleid, der in krassem Gegensatz zum Triumphalismus des Westens über den „Sieg“ im „Kalten Krieg“ stand, kam noch hinzu.

Erst mit Putins Machtübernahme wurden die chaotischen 1990er-Jahre, welche die Verelendung der Bevölkerung, Bürgerkriege, Deindustrialisierung und das Abrutschen des Landes in Dritt- und Viertklassigkeit beförderten, beendet. Das Ende der Chaosjahre hat jedoch keinen neuen Schub der Verwestlichung mit sich gebracht. Ganz im Gegenteil: Es fand eine allmähliche und unaufhaltsame Abwendung Russlands vom Westen statt, der seine Zuwendung der eigenen Herrschaftstradition folgte.

Diese Entwicklung hat zwar keinen durschlagenden ökonomischen Erfolg mit sich gebracht, wohl aber das entstandene politische und ökonomische Chaos überwunden, das Herrschaftssystem stabilisiert und einen bescheidenen Wohlstand gebracht. Diese innenpolitische Abwendung vom westlichen Demokratiemodell hatte bei gleichzeitiger Öffnung des Landes zum Weltmarkt Friktionen und Spannungen im Verhältnis zum Westen verursacht, begleitet von einer westlichen Russlandpolitik, die in der Nato-Expansionspolitik ihre außenpolitische Entsprechung zu innenpolitischen Entwicklungen Russlands gefunden zu haben schien.

Als die Nato-Expansion in das Innerste des postsowjetischen Raumes vordrang, wollte die russische Führung nicht mehr mitspielen, sah sie doch in diesem Vordringen des Westens unter der Führung der USA nicht ohne Recht eine weitere Depravierung der seit dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandenen geostrategische Dysbalance auf dem europäischen Kontinent und die damit einhergehende Gefährdung der vitalen russischen Sicherheitsinteressen.6

Gleichzeitig hat sich gezeigt, wie unbeirrt der Westen ohne Rücksicht auf die russischen Sicherheitsinteressen an seiner Nato-Expansionspolitik festhielt und nicht daran dachte, Russland irgendwelche Konzessionen zu machen.

Auf Dauer gesehen, konnte diese Entwicklung nur schiefgehen und sie ging auch schief, wie man heute am Ukrainekonflikt festmachen kann.

2. Das Aufbegehren des Nichtwestens

Wenn man den Ukrainekonflikt nicht als ein europäisches, sondern als ein globales Ereignis von geo-und weltpolitischer Tragweite betrachtet, so muss man die Frage nach einer globalen Folgewirkung dieses Konflikts stellen. Die blutig ausgetragene Konfrontation zwischen Russland und dem Westen auf ukrainischen Boden wird nicht einfach und nicht nur mit einem Sieg oder Niederlage enden. Das Ende des Konflikts wird die Konturen einer neuen Weltordnung zeichnen, welche die Weltgeschichte auf Jahrzehnte prägen wird. Darum wird auch diese Konfrontation zwischen Russland und dem Westen so verbissen und erbarmungslos geführt.

Es geht in diesem Konflikt um vieles, am wenigstens aber um die Ukraine selbst. Diese wird lediglich instrumentalisiert und als Vehikel zur Erreichung von ganz anderen, geopolitischen Zielen der raumfremden Mächte missbraucht. Hier wird ein geopolitisches Spiel mit hohem, sehr hohem Einsatz gespielt, welches die Ukraine ruiniert und hunderttausende Menschenleben kostet. Man gibt sich den Anschein im Wohle der Ukraine zu agieren, handelt aber tatsächlich in eigenem geostrategischen Machtinteresse.

Im Gegensatz zu Zeiten des Ost-West-Konflikts wird heute nicht die Strategie der Vermeidung des Kriegs, sondern vielmehr dessen Enttabuisierung verfolgt. Was für eine Zeit ist das, in der wir leben! Offenbar sind wir vom Frieden müde geworden und trachten unerbittlich nach Vergeltung und Bestrafung eines „Friedensstörers“, der unsere Ruhe, unsere Ordnung, unsere Sicherheit und unseren Frieden gestört hat.

Dabei bleiben wir an der Seitenlinie stehen. Denn bluten sollten die anderen. Wir liefern „nur“ die Waffen und finanzieren „nur“ den Krieg, den wir angeblich weder „gewollt“ noch „provoziert“ haben. Helmut Schmidt schilderte einmal in seinem gegen Ende der 1960er-Jahre erschienenen Buch „Strategie des Gleichgewichts“ (1969) die Interessenlage der beiden Supermächte, denen ihr nukleares Potenzial einerseits eine ungeheure Machtfülle verleitete. Mit dieser Machtfülle könnten sie aber andererseits nichts anfangen, weil sie wegen der Gefahr einer gegenseitigen Vernichtung davon keinen militärischen Gebrauch machen konnten.

Und so stellte Schmidt lapidar fest: „Strategie ist heute weitgehend zu der Kunst geworden, Kriege zu vermeiden.“7 Das war einmal! Kriege zu führen, ist heute salonfähig geworden. Führt man sich alltäglich die hasserfüllte Rhetorik in der medialen Öffentlichkeit des Westens vor Augen, so darf man heute nicht einmal eine direkte Konfrontation der Nuklearmächte mehr ausschließen, und sei es „nur“ aus Versehen. An Stelle der Strategie der Kriegsvermeidung ist längst eine Enttabuisierung des Krieges getreten.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen? Der Grund liegt wohl einzig und allein in einer neuen geopolitischen Konfiguration Europas nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, die eine hegemoniale Dysbalance als das Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung hervorbrachte.

Diese hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent ist allein dem Umstand geschuldet, dass die USA sich nach dem Ende des „Kalten Krieges“ als gesamteuropäische Ordnungsmacht etablierten und zur Hegemonialmacht zu Lande und zur See in Europa aufgestiegen sind. Im Gegensatz zu den USA war das British Empire des 19. Jahrhunderts nicht an der Beherrschung des europäischen Kontinents zu Lande interessiert. „Großbritanniens Hegemonie war von jener Art, die sich mit dem Gleichgewicht des Kontinents vertrug, ja es voraussetzte,“8 wohingegen die US-Hegemonie von jener Art ist, die sich „mit dem Gleichgewicht des Kontinents“ nicht verträgt und eine hegemoniale Dysbalance auf dem europäischen Kontinent zur Voraussetzung hat.

Dadurch entstand ein systembildender Unterschied zu Zeiten des Ost-West-Konflikts, der die Strategie der Kriegsvermeidung erschwerte – wenn nicht gar verunmöglichte. Denn diese Strategie setzte als Conditio sine qua non ein Machtgleichgewicht voraus und diese Bedingung wurde nach dem Untergang des Sowjetimperiums beseitigt. „Je stärker aber das Gleichgewicht der Macht sich ausprägt“ – stellte Helmut Schmidt zutreffend fest -, „umso mehr verfestigt es den gegenseitigen Besitzstand und die Einflussbereiche. Eine Strategie des Gleichgewichts tendiert zur Strategie der Aufrechterhaltung des Status quo, denn wer den Status quo ändern will, tendiert zu einer Störung des Gleichgewichts. Deshalb haben die beiden nuklearen Weltmächte in den sechziger Jahren ihre gegenseitigen Einflusssphären markiert und respektiert.“9

Schmidts Analyse der 1960er-Jahre ist maßgeblich für das Verständnis dessen, was nach dem Ende des „Kalten Krieges“ passiert ist. Die Zerstörung des Machtgleichgewichts in Europa und die Etablierung der hegemonialen Dysbalance als einem neuen Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheitsarchitektur haben die Aufrechterhaltung des Status quo verunmöglicht. Das führte wiederum beinahe zwangsläufig zur Nato-Expansionspolitik und folgerichtig zur Status-quo-Veränderung. Als die einzig verbliebene Supermacht brauchten die USA keine Rücksicht mehr auf eine Gegenmacht zu nehmen, weil diese schlicht und einfach nicht mehr existierte.

Russland wurde sozusagen auf das Abstellgleis der Geschichte geschoben und als geopolitische Größe marginalisiert. Und so verharrte es in den1990er-Jahren und im ersten Jahrzehnt der 2000er-Jahre mangels ökonomischer und militärischer Potenz in einer geopolitischen Starre. Erst allmählich löste sich Russland von dieser Starre und meldete sich auf der Weltbühne der Geschichte zur Überraschung von Freund wie Feind zurück. Nun versucht Russland seinerseits mit dem Ukrainekrieg gewaltsam durch ein Ausbremsen der Nato-Expansion den Status quo zu revidieren, ein geostrategisches Machtgleichgewicht wiederherzustellen und eine strategische Initiative zurück zu gewinnen.

Als überraschender Nebeneffekt dieses russischen Revisionsversuchs ist nicht nur eine in dessen Schlepptau mit zunehmender Intensität stattfindende Emanzipation des Nichtwestens vom Westen zu beobachten, sondern auch ein regelrechter Anspruch des Nichtwestens auf eine geopolitische und geoökonomische Gleichberechtigung. Der Ukrainekrieg scheint eine geopolitische Revolution ausgelöst zu haben, die letztlich auch zum Sturz des Westens vom Weltmachtsockel führen könnte. Der Nichtwesten begehrt auf und Russland gibt dabei die Stoßrichtung vor.

Und der Westen? Dieser scheint die Entwicklung immer noch nicht wahrnehmen zu wollen. Eskapismus ist nach wie vor die Lieblingsbeschäftigung der US-amerikanischen und insbesondere der EU-europäischen Macht- und Funktionseliten. Zutreffend schreibt Doug Bandow in seinem Artikel „Weighing a Nuclear Threat“ für The American Conservative am 19. Januar 2023: „Mitglieder der US-Führungsschicht glauben immer noch, dass Washington die Welt regiert (Members of America’s governing class still believe that Washington runs the world).

Und mit Bezug auf den Ukrainekrieg fügte er hinzu: „Die Politmacher (policymakers) sollten lieber ihre Ambitionen dämpfen, Russland in eine Ecke zu drängen, sodass es entweder eine demütigende Niederlage oder eine gefährliche Eskalation (humiliating defeat or perilous escalation) wählen muss.“

„Washington“ – schließt Bandow seine Ausführungen ab – „is filled with ivory tower warriors ever eager to fight other people’s wars with other people’s money and lives. The cost of doing so over the last two decades has been trillions of dollars wasted and hundreds of thousands of casualties caused. War with Russia would be far worse, truly catastrophic.“

3. Die Militarisierung der US-Außenpolitik und deren Folgen

Es stellt sich nun die grundlegende Frage: Woher kommt die nach dem Ende des „Kalten Krieges“ stattgefundene Militarisierung der US-Außenpolitik (militarization of U.S. foreign policy), die Lothar Brock bereits 2007 als „Enttabuisierung des Militärischen“ charakterisierte10? Liegt sie vielleicht daran, dass der dem Westen im Wege stehende, ideologische und geopolitische Rivale schlicht untergegangen ist und der US-Hegemon weder Hemmungen noch Skrupel verspürte, auf irgendjemand Rücksicht zu nehmen, um den eignen Machtwillen durchsetzen zu können? Das wäre doch eine naheliegende Antwort!

Lothar Brock beantwortete allerdings die Frage ganz anders. Die infolge der veränderten geopolitischen Kräfteverhältnisse nach dem Ende des „Kalten Krieges“ stattgefundene „Enttabuisierung des Militärischen“ führte er auf die „Evolution des Völkerrechts“, nämlich auf eine Evolution „von einem Recht zur Regelung des Krieges zu einem Recht der kollektiven Friedenssicherung“11 zurück. Das ist aber nichts anderes als eine verklausulierte Rechtfertigung des Westens, sich selbst zu ermächtigen, einen Frieden im Namen des „Rechts der kollektiven Friedenssicherung“ notfalls militärisch zu erzwingen, wobei mit „Kollektiv“ hier de facto (nicht de jure ) nur der kollektive Westen gemeint sein kann.

Ebenso wenig dient die „Weiterentwicklung des Konzepts der Menschenrechte“ zu einer „Stärkung des internationalen Schutzes der klassischen politischen Rechte“12; vielmehr zeigt eine solche „Weiterentwicklung“ die Transformation der Nachkriegsordnung in eine vom Westen unter der Führung des US-Hegemonen dominierte und als „liberal“ verklärte unipolare Weltordnung . Diese Transformation setzt wiederum nicht nur de facto eine Ignorierung des UN-Weltsicherheitsrates als höchstem Organ der Friedenssicherung voraus, sondern auch und vor allem die Aushebelung des von den Großmächten Russland und China favorisierten absoluten Souveränitätsbegriffs , dessen Funktion einzig und allein darin besteht, die ideologische und geopolitische Einmischung der raumfremden Mächte in die inneren Angelegenheiten, zu denen in erster Linie das Herrschaftssystem gehört, zu unterbinden. „Anderenfalls hören sie auf, souveräne Staaten zu sein und werden zu Satelliten bzw. „Vassalenstaaten.“13

Es war daher nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle , 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, 4).

Der Kosovo-Krieg offenbarte zum ersten Mal nach dem Ende der bipolaren Weltordnung die Folgen der Militarisierung der US-Außenpolitik. Er war die Geburtsstunde einer neuen, vom US-Hegemon geführten unipolaren Weltordnung. Die ganze Tragweite dieses Transformationsprozesses von der Nachkriegsordnung in eine unipolare Weltordnung ging zunächst verborgen vor sich, bis die nachfolgenden, militärischen Interventionen und Invasionen ihn sichtbar werden lassen. Mit dem Kosovo-Krieg demonstrierten die USA und die NATO ihr neues Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“, das sich allerdings als ziemlich diffizil erwies.

Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der NATO gegen die Volksrepublik Jugoslawien, legte aber gleichzeitig ein Fundament für einen Erosionsprozess der gerade im Entstehen begriffenen unipolaren Weltordnung.

Das neue Hegemonialsystem zeichnete sich dadurch aus, dass es sich selbst im Namen der Menschenrechtsideologie legitimiert , das Gewaltverbot der UN-Charta umdefiniert und das UN-Recht ins NATO – „Völkerrecht“ transformiert. Auf der Grundlage dieser Neulegitimation, Umdefinition und Transformation entstand ein unipolares Weltordnungssystem mit noch mehr Gewalt und Zerstörung, begleitet von zunehmenden Spannungen zwischen dem US-Hegemon und seinen geopolitischen Rivalen China und Russland.

Es ist nicht zu übersehen – diagnostizierte Ingeborg Maus bereits 1999 -, dass in der militärisch enthemmten „internationalen Menschenrechtspolitik alle klassischen Rechtsprinzipien in ihr Gegenteil verkehrt sind“.14 So hat ein Demokratieexport mittels der US-Interventions- und Invasionspolitik in den vergangenen dreißig Jahren ungewollt und unbewusst deutlich gemacht, dass im Grunde keine alle Länder und Kulturen betreffenden universalen Voraussetzungen zur Verwirklichung von Demokratie und Menschenrechten existieren. Und diese Nichtexistenz, die mit militärischer Brechstange beseitigt werden sollte, bewirkte genau das Gegenteil dessen, was die US-Geostrategen gemeinsam mit den sog. „liberalen Internationalisten“ ursprünglich beabsichtigt haben: den Auf- und Widerstand des Nichtwestens.

Infolge der Militarisierung der Menschenrechtspolitik wurde die innerstaatliche Souveränität gesprengt und die Kongruenz von Innen- und Außenwelt aufgehoben. Die Folge war der permanente Versuch der Usurpierung der innerstaatlichen Selbstorganisation durch die mit der Universalideologie von Demokratie und Menschenrechten ausgerüsteten und global agierenden US-dominierten Machtstrukturen.

„Steht noch die UN-Charta mit den UN-Menschenrechtsbestimmungen in einem demokratischen Zusammenhang, indem sie ihren eigenen Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der (Staats-)Völker durch Interventionsverbote in die inneren Angelegenheiten ihrer Mitgliedstaaten absichert, sodass die >Förderung< der Menschenrechte im Kontext autonomer gesellschaftlicher Lernprozesse geschehen kann, so wird“ – empört sich Ingeborg Maus – „heute bereits der letztere – Demokratie ermöglichende – Aspekt als ein Störfaktor für die reibungslose Erzwingung von Menschenrechten wahrgenommen. Die Institutionalisierung einer Weltpolitik bedeutete die endgültige Isolierung und Zerstörung der Menschenrechte. Globale Instanzen könnten in jeder Gesellschaft dieser Welt ihre Lesart von Menschenrechten gegen die dort vorherrschenden Lesarten militärisch durchsetzen. Auch hier würde die gesamte Weltbevölkerung zum bloßen >Material< der Menschenrechtsverwirklichung.“15

Diese Militarisierung der Menschenrechtsbeglückungsideologie war eine direkte Folge der Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das System der US-amerikanischen „Friedensschaffung“ in den 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre. Diese Transformation führte ihrerseits in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren zu zahlreichen militärischen Interventionen und US-Invasionen in Afghanistan, Irak, Libyen, Jemen, Somalia, Syrien, Jemen und nicht zuletzt zu einem fortwährenden Drohnenkrieg überall und zu jeder Zeit. Die Opferzahlen der US-Interventionen und Invasionen nach dem 11. September 2001 wurden zwar offiziell weder erfasst noch veröffentlicht. Manche Untersuchungen beziffern sie aber auf mehrere Millionen.16

Der liberale Friede in der innerwestlichen Welt wurde so mit Chaos, Verwüstung, Verelendung und Zerstörung der nichtwestlichen Welt erkauft. Der geschundene Nichtwesten lies freilich die westliche Welt nicht in Ruhe und kam wie ein Bumerang rachedurstig immer wieder und immer öfter mit Attentaten, Terror und Zerstörung in den Westen zurück, um dessen „heile Welt“ auch leidend sehen zu können.

Je elender das Innenleben des Nichtwestens wurde, umso strahlender erschien der westliche Stern am geopolitischen Himmel, umso höher war die Anziehungskraft des Westens, umso mehr strömten alle Geschundenen dieser Erde in das „gelobte Land“, um von den „westlichen Werten“ nicht nur zu hören, sondern diese auch hautnah miterleben zu dürfen, und umso „prominenter“ wurde auch die Rolle des Westens „im Gewaltgeschehen der Gegenwart“.17 Aus diesem Teufelskreis kam der Westen bis heute nicht heraus .

Um der entstandenen Chaoswelt einen Schein der Legalität zu verpassen, beansprucht der Westen wie selbstverständlich eine völkerrechtliche Deutungshoheit für sich, die zwar seinem hegemonialen Selbstverständnis entspricht, nichtsdestoweniger aber im eklatanten Widerspruch zum Gewaltverbot der UN-Charta steht. Die eigenmächtige normative Umdeutung des UN-Rechts sucht der Westen gleichzeitig derart flexibel zu handhaben, dass er nicht einmal die Selbstbindung an die eigene Rechtsauslegung zu akzeptieren gewillt ist. Die unipolare Weltordnung beansprucht schlicht ein freies Ermessen selbst zur Rechtsauslegung der eigenen Selbstermächtigung. Das ist gelinde gesagt eine pure Machtwillkür des sich selbst legitimierenden US-Hegemonen.

Die Selbstlegitimation führte wiederum dazu, dass die vom Westen vorangetriebene Entwicklung neuer Verhaltensnormen und Spielregeln in den internationalen Beziehungen eine universale Geltung beanspruchte, „ohne sich jedoch in gleicher Weise auf die Schaffung von Verfahrensregeln für die Umsetzung dieser Normen im Rahmen des UN-Systems einzulassen“18, was nichts anderes als die typische Vorgehensweise einer Hegemonialmacht ist, welche die anderen Staaten und Nationen dazu verpflichtet, sich an Verträge und Vereinbarungen genauso, wie an Verhaltensnormen und Spielregeln zu halten, ohne sich selbst daran binden zu lassen. Nach innen liberal, nach außen hegemonial : Das ist wohl der Motor der US-dominierten unipolaren Weltordnung.

Ein solcher Zustand der internationalen Beziehungen ist kein Friedenszustand , sondern Naturzustand (status naturalis), „der vielmehr ein Zustand des Krieges ist, d. i. wenn gleich nicht immer ein Ausbruch der Feindseligkeiten, (so) doch immerwährende Bedrohung mit denselben“ (Immanuel Kant ). Diese „immerwährende Bedrohung“ charakterisiert eben den aktuellen Zustand der zu Ende gehenden unipolaren Weltordnung als „einen Zustand des Krieges“.

Begleitet von der NATO-Expansions- und Menschenrechtsbeglückungspolitik, provozierte die Militarisierung der US-Außenpolitik letztendlich eine zunehmende Entfremdung des Nichtwestens vom Westen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine nimmt diese Entfremdung immer mehr Formen einer geopolitischen Revolution ein, die sich nicht nur in einer immer deutlich werdenden Emanzipation des Nichtwestens vom Westen äußert, sondern auch zur Sprengung der unipolaren Weltordnung führen kann und höchst wahrscheinlich auch führen wird.

Anmerkungen

1. Altwegg, J., „In diesem Krieg geht es um Deutschland“, in: weltwoche.ch 07.01.2023; zitiert nach „Die strategische Souveränität der EU“, german-foreign-policy.com. 23. Januar 2023.
2. Löwith, K., Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Tübingen 1983, 279.
3. Löwith (wie Anm. 2), 277.
4. Lüthy, H., Das europäische Jahrhundert, in: ders., In Gegenwart der Geschichte. Köln/Berlin 1967, 245-264.
5. Zitiert nach Konrad Canis, Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 bis 1902. Berlin 1997, 228.
6. Vgl. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und Morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Schmidt, H., Strategie des Gleichgewichts. 5. Aufl. Stuttgart 1970, 19.
8. Stürmer, M., Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte. München 2001, 35.
9. Zitiert nach Woller, R., Der unwahrscheinliche Krieg. Stuttgart 1970, 10.
10. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
11. Brock (wie Anm. 10), 51.
12. Brock (wie Anm. 10), 54.
13. Czempiel, E.-O., Intervention, in: Kaiser, K./Schwarz, H.-P. (Hrsg.), Die neue Weltpolitik. Bonn 1995, 418-425 (418 f.).
14. Maus, I., Der zerstörte Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in der aktuellen nationalstaatlichen und internationalen Politik (1999), in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 359-374 (371).
15. Maus (wie Anm. 14), 374.
16. Vgl. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. 2. Aufl. Wien 2019, 131-152 (132).
17. Brock (wie Anm. 10), 66.
18. Brock (wie Anm. 17).

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