Verlag OntoPrax Berlin

Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit

Von der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt

Übersicht

1. Das geopolitische Schauspiel
2. Europas Glaubwürdigkeit und das Minsker Abkommen
3. „One World“ statt „Einflusssphären“?

Anmerkungen

„Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.“
(Goethe)

1. Das geopolitische Schauspiel

Der Chef der Münchener Sicherheitskonferenz Christoph Heusgen hat in einem am 16. Dezember 2022 erschienenen Handelsblatt-Interview unter einer ziemlich forschen Überschrift „Eine Lösung gibt es nur mit dem Ende des Putins-Regimes“ eine durch nichts belegte Behauptung aufgestellt, dass Putin „sich nicht an das Minsker Abkommen gehalten (hat), das eine diplomatische Lösung für die Besetzung des Donbass erlaubt hätte“. Es ist im außenpolitischen Establishment schon seit Langem zur Mode geworden, Behauptungen aufzustellen, Anschuldigungen und Beschuldigungen in die Welt zu setzen, die weder begründet noch beweisen werden.

Wir leben heute schließlich in der virtuellen Realität des Postfaktischen. Es wäre aber interessant zu erfahren, worauf Heusgen seine Vorwürfe stützt. Das Minsker Friedensabkommen gibt das aber nicht her. Das Minsker Abkommen von 12. Februar 2015 umfasst 13 Punkte. In keinem dieser Punkte wurde Putin oder Russland verpflichtet, irgendwelche Vereinbarungen einzuhalten. Vielmehr hat sich die ukrainische Zentralregierung von Anfang an geweigert, insbesondere den verfassungspolitischen Teil des Abkommens zu erfüllen. Und diese Weigerung hat der Westen und nicht zuletzt die Bundesregierung sieben Jahre lang gedeckt und geduldet.

Weiß Heusgen nichts davon? Oder will er davon nichts mehr wissen? War er nicht in den Jahren 2005-2016, in denen die Minsker Vereinbarungen getroffen wurden und umgesetzt werden sollten, der außen- und sicherheitspolitische Berater von Bundeskanzlerin Angela Merkel ? Und kannte Heusgen Merkels jüngste Äußerung vom 7. Dezember 2022 wirklich nicht? In einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit sagte die Ex-Kanzlerin, „auch wir hätten schneller auf die Aggressivität Russlands reagieren müssen.“ Und das Minsker Friedensabkommen von 2014 nannte sie einen „Versuch, der Ukraine Zeit zu geben“, berichtet Die Zeit.

Bereits vor dieser Äußerung Merkels gab der ukrainische Ex-Präsident Petro Poroschenko (2014-2019), der an den Minsker Verhandlungen unmittelbar beteiligt war, unumwunden zu, dass die Ukraine zu keiner Zeit daran gedacht, die Minsker Vereinbarungen zu erfüllen. Vielmehr hat sie für sich Zeit gewonnen, um die ukrainische Armee zu stärken und mit Hilfe der Nato aufzubauen. Wörtlich sagte er am 17. November 2022: „Мне нужны были эти Минские соглашения чтобы получить как минимум четыре года, чтобы сформировать украинские вооруженные силы, строить украинскую экономику и обучать украинских военных вместе с НАТО (Ich brauchte diese Minsker Vereinbarungen zumindest für vier Jahre, um die ukrainischen Streitkräfte und die ukrainische Wirtschaft aufzubauen sowie das ukrainische Militär mit Hilfe der Nato auszubilden).“

Poroschenkos Äußerung bestätigte kein geringerer als der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg , als er bereits am 15. Oktober 2022 der Tagesschau ein Interview gab. Auf die ARD-Frage: „Wie würden Sie das Gleichgewicht zwischen der russischen und der ukrainischen Armee auf dem Schlachtfeld einschätzen?“ antwortete Stoltenberg : „Der Mut und die Entschlossenheit der Ukrainer ist viel höher als bei den russischen Streitkräften. Deren Moral ist niedriger. Hinzu kommt, dass die Ukrainer erfahrener sind. Denn seit 2014 haben Nato-Verbündete die ukrainischen Streitkräfte ausgebildet und ausgerüstet. Die ukrainischen Streitkräfte sind also viel besser ausgebildet, viel besser geführt, viel besser ausgerüstet und viel größer als im Jahr 2014. Und das ist der Grund, warum die Ukraine jetzt in der Lage ist, sich auf ganz andere Weise zu wehren als 2014, als Russland zum ersten Mal einmarschierte und die Krim illegal annektierte.“

Was nun? Wer hat die Minsker-Vereinbarungen torpediert? War das Minsker-Abkommen für die EU-Europäer nichts weiter als ein Spiel auf Zeit, um das ukrainische Militär auszubilden und aufzurüsten? Mit Verweis auf die eben zitierten Autoritäten scheint das auf den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen! Auf den zweiten Blick sieht die Gemengelage jedoch etwas komplizierter aus. Die EU-Europäer wären durchaus bereit und gewillt, die Kiewer Regierung dazu zu bewegen, die vom UN-Sicherheitsrat in der Nacht auf Mittwoch, dem 18. Februar 2015, eine von Russland eingebrachte und einstimmig angenommene Resolution zur Lage in der Ukraine zu erfüllen.

Als der belarussische Staatspräsident Alexander Lukaschenko von Merkels Äußerung erfahren hat, sagte er am 9. Dezember 2022 vor Journalisten am Rande des EAWU-Gipfeltreffens in Bischkek: Die Ex-Kanzlerin Angela Merkel habe mit ihrem jüngsten Geständnis zu den Friedensgesprächen in Minsk und zu den unterzeichneten Minsker Abkommen „kleinlich und niederträchtig gehandelt“.

Am gleichen Tag und am gleichen Ort äußerte Putin sich ebenfalls zu Merkels Aussage in seiner Pressekonferenz: „Ich bin enttäuscht. Jetzt stellt sich nämlich die Vertrauensfrage. Wie sollen wir denn vor diesem Hintergrund (bei künftigen Verhandlungen) irgendein Einvernehmen erzielen?“

Die zitierten Äußerungen von Lukaschenko und Putin sind allerdings nur die halbe Wahrheit. Aber auch die Auslassungen von Christoph Heusgen im oben erwähnten Interview sind nur bedingt zustimmungsfähig. Auf die Frage: Hätte Deutschland zurzeit „der Krim-Annexion … nicht sehr viel härter auf Moskau reagieren müssen?“ antwortete Heusgen : „Die Kanzlerin hat die Führung übernommen bei der Konfrontation Russlands, sie hat das Minsker Abkommen zusammen mit dem französischen Präsidenten Hollande verhandelt …“

Hat die Kanzlerin wirklich die Führung übernommen und zusammen mit Hollande das Minsker Abkommen verhandelt? Und wo war Putin ? Saß er etwa am Katzentisch und wartete, bis sich die beiden „Weltmächte“ Deutschland und Frankreich einigen und ihre Verhandlungsergebnisse Russland mitteilen? Will Heusgen etwa die Geschichte umschreiben und Deutschland mehr Bedeutung zuschreiben, als es ihm zustünde?

Statt derartige Behauptungen in die Welt zu setzen, wäre es angebracht, die Schuldzuweisungen nicht an die falsche Adresse zu richten und nicht Russland allein das Scheitern der Minsker Vereinbarungen in die Schuhe zu schieben. Denn Deutschland und Frankreich blieben nach den getroffenen Minsker Vereinbarungen passiv und waren nur noch Mitläufer und Zuschauer dieses unwürdigen geopolitischen Schauspiels und sind es auch bis heute geblieben.

Zwar haben sie nach außen viel Aktivität und Betriebsamkeit entfaltet und immer wieder Gipfeltreffen einberufen. Letztendlich waren die EU-Europäer aber von den USA bei der Umsetzung der Minsker Vereinbarungen entmachtet. Und in diesem Sinne ist auch Merkels Äußerung vom 7. Dezember 2022 zu verstehen.

Denn d er eigentliche Spielmacher und Spielführer, der am Minsker Verhandlungstisch gar nicht anwesend war, nicht desto weniger aber das Minsker Abkommen erfolgreich torpedierte, waren die US-Geostrategen und sonst niemand. Und die USA haben alles dafür getan, damit die Ukraine das Minsker Abkommen nicht erfüllt.

Die Biden-Administration folgt heute genauso, wie die vorangegangenen US-Administrationen, immer noch Brzezinskis „imperialer Geostrategie“1, die sie in der Ukraine endlich verwirklicht sehen will. In seinem 1997 veröffentlichten und aufsehenerregenden Werk „The Grand Chessboard: American Primacy and Its Geostrategic Imperatives“ behauptete Brzezinski : „Die Unabhängigkeit der Ukraine beraubte Russland seiner beherrschenden Position am Schwarzen Meer, wo Odessa das unersetzliche Tor für den Handel mit dem Mittelmeerraum und der Welt jenseits davon war. … Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. …Unter geopolitischem Aspekt stellte der Abfall der Ukraine einen zentralen Verlust dar, denn er beschnitt Russlands geostrategische Optionen drastisch.“

Was 1997 vor dem Hintergrund des am Boden liegenden postsowjetischen Russlands der 1990er-Jahre noch plausibel klang, ist heute überholt. Putin hat Russland in den vergangenen zwanzig Jahren militärisch modernisiert, massiv aufgerüstet und die geostrategisch bedeutende Halbinsel Krim in die Russländische Föderation eingegliedert. Die postsowjetische Periode der russischen Geschichte ist mit der Krim-Übernahme und erst recht mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine unwiederbringlich zu Ende gegangen.

Brzezinskis Postulate gehören der Vergangenheit an. Das Russland der 1990er-Jahre existiert nicht mehr und ist nicht mehr reanimierbar. Diese Binsenwahrheit haben die US-Geostrategen noch nicht verstanden. Sie glauben immer noch daran, dass sie Russland belehren, maßregeln, bestrafen und in die Knie zwingen können. Diese Zeiten sind vorbei. Je schneller die Biden-Administration das versteht, umso ruhiger können die USA und die Welt schlafen.

Russland geht es heute nicht so sehr darum, „die Unabhängigkeit der Ukraine“ in Frage zu stellen, als vielmehr darum, die vom Westen aus russischer Sicht als „Anti-Russland“ aufgebaute Ukraine – die Ukraine als Feindesland – zu verhindern bzw. zu zerstören.

Russlands Versuch, dieses Ziel auf einem friedlichen Wege mittels des Minsker Abkommens zu erreichen, ist nicht zuletzt deswegen gescheitert, weil die EU-Europäer – allen voran Deutschland und Frankreich – sich als unfähig und ohnmächtig erwiesen, dem US-Schutzpatron mit seiner Torpedierung der getroffenen und vom UN-Sicherheitsrat gebilligten Minsker Vereinbarungen standzuhalten. Die EU-Europäer sind von den USA auf dem eigenen Kontinent vorgeführt und entmachtet worden und bleiben bis auf weiteres nur die Zuschauer und Mitläufer in diesem von Russland und den USA inszenierten blutigen geopolitischen Schauspiel. Deutschland und Frankreich und mit ihnen die gesamte EU stehen heute vor Scherbenhaufen ihrer Ukraine- und Russlandpolitik und die Leidtragende ist vor allem die Ukraine.

Und so bewahrheitet sich erneut Kissingers Bonmot: „Es mag gefährlich sein, Amerikas Feind zu sein, aber Amerikas Freund zu sein, ist tödlich.“ Heute müssen wir mit Bedauern konstatieren: Alle Versuche der EU-Europäer ohne die Zustimmung der USA auf dem europäischen Kontinent geo- und sicherheitspolitisch irgendetwas eigenständig gestalten bzw. durchsetzen zu können, sind nach wie vor genauso erfolgversprechend, wie der Versuch, den Fisch auf seine Fähigkeit zu prüfen, auf dem Trockenen zu leben.

2. Europas Glaubwürdigkeit und das Minsker Abkommen

Auch in den „Denkfabriken“ ist es en vogue, Behauptungen, Anschuldigungen und Beschuldigungen aufzustellen, die weder begründet noch bewiesen werden. So eine „wissenschaftliche“ Vorgehensweise wird nicht glaubwürdiger, auch wenn sie stets und immer wieder praktiziert wird.

So wurde z. B. – wie zuletzt von Sabine Fischer (SWP) – behauptet: Der Westen verhandele mit Russland, „und zwar dauernd und schon sehr lang! Das Normandie-Format (mit Deutschland, Frankreich, der Ukraine und Russland) verhandelte 2014/15 die Minsker Vereinbarungen und weitere 8 Jahre lang deren Umsetzung – die nie gelang, weil die Ukraine und Russland sich über grundlegende territoriale und Statusfragen uneins waren. Am wichtigsten aber: Russland bestritt seine Rolle als Konfliktpartei (die es war). Zudem versuchte Russland die Verhandlungen und die Minsker Vereinbarungen zu missbrauchen, um seinen politischen Einfluss in der Ukraine in Gestalt der russisch kontrollierten Territorien im Osten des Landes zu festigen.“2

War und ist der Westen etwa keine Konfliktpartei in diesem geopolitischen Schauspiel auf ukrainischem Boden? Hat der Westen nicht seinerseits die ganze Zeit versucht, die Minsker Vereinbarungen dazu zu missbrauchen, um seinen geo- und sicherheitspolitischen Einfluss mittels einer faktischen Implementierung der Nato-Infrastruktur in der Ukraine geltend zu machen?

Was an Fischers Aussagen stimmt, ist, dass die Verhandlungen im Normandie-Format geführt und auch unterzeichnet bzw. zum Abschluss gebracht wurden. Aber bereits kurz danach wurde „deren Umsetzung“ von der Kiewer Zentralregierung ad acta gelegt, und zwar nicht, „weil die Ukraine und Russland … uneins waren“, wie antifaktisch behauptet wird, sondern weil sich die Kiewer Regierung mit Billigung der USA und einer stillschweigenden Duldung Deutschlands und Frankreichs weigerte, mit Separatisten zu verhandeln, was dem Geist und dem Buchstaben der Minsker Vereinbarungen widersprach. Die EU-Europäer spielten hier ein Doppelspiel, eher aus Ohnmacht denn aus Machtkalkül.

Das im Westen oft und gern erzählte Narrativ, Russland sei eine Konfliktpartei, ist einerseits insofern richtig, als es genauso, wie der Westen, in den ukrainischen Bürgerkrieg involviert war. Jawohl, der ukrainische Bürgerkrieg! Es gab in den vergangenen acht Jahren bis zum 24. Februar 2022 in der Ukraine Bürgerkrieg und kein zwischenstaatlicher Konflikt, in welchem Russland und der Westen gleichermaßen die jeweilige Bürgerkriegspartei tatkräftig unterstützt haben.

Das Minsker Abkommen sah andererseits die Verhandlungen zwischen der Kiewer Regierung und den Separatisten und nicht zwischen der Ukraine und Russland vor. Dieses Minsker Abkommen hat die Kiewer Regierung von Anfang an insbesondere verfassungspolitisch torpediert. Vor allem die Punkte 4, 8, 9 und 11 der Vereinbarungen waren der Zentralregierung ein Dorn im Auge:

„4. Nach dem Abzug der Waffen sollen Gespräche über Wahlen in Donezk und Lugansk sowie den künftigen Status der beiden Regionen beginnen. Grundlage ist ein Gesetz, mit dem Kiew den abtrünnigen Regionen vorübergehend mehr Selbstständigkeit zugestanden hatte. Das ukrainische Parlament muss innerhalb von 30 Tagen festlegen, für welches Gebiet dies genau gelten soll. Die Regionen können darüber entscheiden, welche Sprache sie nutzen wollen.

8. Beide Seiten müssen an einer Wiederherstellung der Sozial- und Wirtschaftsbeziehungen arbeiten, damit etwa die Zahlung von Renten und Steuern wieder aufgenommen werden kann. Kiew verpflichtet sich, den Bankensektor im Konfliktgebiet wieder aufzubauen.

9. Die Ukraine soll die vollständige Kontrolle über die Grenze zu Russland übernehmen. Dieser Prozess soll nach den geplanten Wahlen beginnen und spätestens Ende des Jahres abgeschlossen sein. Bedingung ist, dass die Verfassungsreformen unter Punkt 11 umgesetzt werden.

11. Bis Ende 2015 muss eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten, die eine Dezentralisierung des Landes ermöglicht und mit Vertretern der abtrünnigen Regionen abgestimmt ist. Ein Gesetz zum künftigen Sonderstatus von Donezk und Lugansk muss ebenfalls bis Jahresende verabschiedet werden.“

In keiner der zitierten und insgesamt 13 Punkten umfassenden Vereinbarungen des Minsker Abkommens war fixiert, dass Russland „Konfliktpartei“ sei und dass es verpflichtet sei, irgendetwas zu erfüllen. Das Abkommen betraf ausschließlich die innerukrainischen Konfliktparteien, welche die verfassungspolitischen und anderen Regelungen unter sich treffen und aushandeln sollten. Ausdrücklich wurde im Punkt 11 vereinbart, dass „eine neue ukrainische Verfassung in Kraft treten“ musste, „die eine Dezentralisierung des Landes“ ermöglichen und „mit Vertretern der abtrünnigen Regionen abgestimmt“ werden sollte.

Aber genau hier lag das Problem. Die ukrainische Zentralregierung hat sich von Anfang an geweigert, an einen Verhandlungstisch „mit Vertretern der abtrünnigen Regionen“ zu setzen, geschweige mit ihnen irgendetwas „abstimmen“ zu wollen.

Ferner behauptet Fischer erneut antifaktisch: „Von Dezember 2021 bis zum 17.02.2022 fanden intensive Verhandlungen über Russlands Forderung nach >Sicherheitsgarantien< statt. Das war ein Ultimatum, mit dem die USA und die NATO zur Aufteilung Europas in Einflusszonen gezwungen werden sollten. Die Ukraine sollte selbstverständlich der russischen Einflusszone angehören.“ Hier wird etwas hineingedichtet, was den Fakten völlig widerspricht.

Erstens fanden zu keiner Zeit „intensive Verhandlungen“ statt. Fischer verwechselt hier die zu nichts verpflichtenden und bestenfalls gesichtswahrenden Gespräche mit „intensiven Verhandlungen“. Der Kern der russischen Forderungen war eine Wiederherstellung der sicherheitspolitischen Vereinbarungen des Jahres 1997. Das war auch kein „Ultimatum“, wie in den Massenmedien immer wieder interpretiert wurde, mit dem angeblich „die USA und NATO zur Aufteilung Europas in Einflusszonen gezwungen werden sollten“. Die russische Kernforderung hat der Westen von vornherein abgeschmettert, wodurch jede „intensive Verhandlung“ hinfällig geworden ist. Schlimmer noch: Liest man die Überschriften der Zeitungsartikel vom Januar 2022, so wird deutlich, dass sich jede Verhandlung erübrigt hat, bevor sie überhaupt begonnen wurde:

„Blinken lehnt Forderungen aus Moskau erneut ab“ (Spiegel, 27. Januar 2022);„Die Tür der Nato ist offen und bleibt offen – Absage an Russlands Forderung nach einem Ende der Nato-Osterweiterung“ (Handelsblatt, 26. Januar 2022);„USA: Keine Zusage an Moskau für das Ende der NATO-Erweiterung“ (Salzburger Nachrichten, 27. Januar 2022) usw. usf.

Zweitens: Was nun den ewigen Vorwurf an die Adresse Russlands angeht: Es betreibe eine Machtstaatspolitik des 19. Jahrhunderts und wolle die Ukraine „selbstverständlich der russischen Einflusszone“ unterstellen, so ist dieser Vorwurf ziemlich unverfroren. Was tut der Westen denn die ganze Zeit mit der Nato-Expansionspolitik? Ist die Nato-Osterweiterung etwa keine Politik der Einflusszonenerweiterung? Oder will der Westen der Ukraine etwa allein aus rein philanthropischen Gründen helfen?

Nein, hier geht es um etwas ganz anderes. Der Westen begnügt sich weder mit irgendwelchen Einflusssphären noch duldet er irgendwelche Einflusssphären der Gegenseite. Ausgerüstet mit seiner Universalideologie will er gleich das gesamte Universum domestizieren können.3 Und was die Ukraine betrifft, so ist diese nur ein Werkzeug im nie enden wollenden geopolitischen Machtkampf zwischen den USA und der Sowjetunion bzw. der Russländischen Föderation.

1998 enthüllte Zbigniew Brzezinski in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel sei es gewesen, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der Sowjets zu erhöhen. Gefragt, ob er die Unterstützung des islamischen Fundamentalismus inzwischen bereuen würde, antwortete Brzezinski unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue. Am Tag, da die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu liefern.“

Als der Interviewer nachhakt und auf die Verknüpfung von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus hinweist, antwortet Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“4 In der Tat: Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte: die Ausschaltung eines mächtigen geopolitischen Rivalen oder ein paar verwirrte und missbrauchte Muslime zwecks Aufrechterhaltung und Ausbaus der US-Welthegemonie? So unsentimental kann nun mal die US-Geo- und Weltpolitik sein!

Und genau das passiert hier und heute in der Ukraine, auch wenn sich die USA nach außen bei jeder Gelegenheit lautstark als Kämpferin für die ukrainische Souveränität gegen die russische Aggression hochstilisieren und rhetorisch „uneingeschränkt“ für die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes eintreten. Wissen die Ukrainerinnen überhaupt, mit welchen „Freunden“ sie zu tun haben? Es geht den US-amerikanischen „Freunden“ allein um die Geopolitik. Alles andere ist ein zu nichts verpflichtendes leeres Gerede. Dass dabei die leidgeprüften Ukrainerinnen in Mitleidenschaft gezogen werden, ist miteinkalkuliert und bleibt lediglich eine Fußnote im Buch der Geschichte. Entscheidend ist aus US-geostrategischer Sicht, dass der geopolitische Rivale militärisch geschwächt, moralisch delegitimiert und ökonomisch ruiniert werde.

3. „One World“ statt „Einflusssphären“?

Der Untergang des Sowjetreiches hat das Ende der bipolaren Weltordnung besiegelt und eine unipolare Welt geschaffen. Diese geopolitische Entwicklung brachte eine europäische Sicherheits- und Friedensordnung mit sich, welche ein Ordnungsprinzip etablierte, die Europa bis dahin nie gekannt hat: ein hegemoniales Machtun gleichgewicht als Ordnungsprinzip der europäischen Sicherheitsarchitektur.

Das Russland der 1990er-Jahre und des ersten Jahrzehnts der 2000er-Jahre war viel zu schwach, orientierungslos, politisch und ökonomisch desorganisiert, um der Nato-Expansion gen Osten unter der Führung der USA als gesamteuropäischer Ordnungsmacht irgendetwas entgegensetzen zu können. Russland war damit für lange Zeit geopolitisch ausgespielt und sicherheitspolitisch im Grunde bis zum 15. Dezember 2021 – als die russische Führung ihre sicherheitspolitischen Forderungen an den Westen gestellt hat – wie ein defekter Eisenbahnwaggon auf ein geopolitisches Abstellgleis abgestellt. Die USA und die Nato-Verbündeten reagierten auf Russlands Forderungen deswegen so gereizt und ablehnend, weil sie nicht ohne Recht eine Revision der US- bzw. Nato-Vormachtstellung in Europa befürchteten.

Nun haben sich die Zeiten in den vergangenen 10-15 Jahren derart dramatisch geändert, dass die US-amerikanische Ordnungs- und Hegemonialmacht nicht nur auf dem europäischen Kontinent, sondern auch im globalen Raum einen Erosionsprozess erleidet, der anscheinend nicht mehr aufzuhalten ist. Die nach dem Ende der Bipolarität von den USA geschaffene unipolare Weltordnung war seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein zweiter Versuch , eine auf der Grundlage der sog. „westlichen Werte“ gegründete „One World“ zu schaffen und damit einen alten Traum der US-amerikanischen Weltpolitik zu verwirklichen.

Von Wendell Willkie 1943 stammend5, war der Ausdruck „One World“ als Vision bereits längst im außenpolitischen Denken der US-amerikanischen Machteliten verankert und wurde 1941 vom US-Kriegsminister Henry L. Stimson (1940-1945) auch öffentlich kundgetan. In seiner Rede vom 9. Juli 1941 vertrat Stimson die Auffassung, dass die Welt heute zu klein für zwei einander entgegengesetzte Systeme sei.6

Stimsons Vision wurde sodann von seinem Kollegen US-Außenminister James F. Byrnes (1945-1947) aufgegriffen, indem er an der Potsdamer Konferenz (Juli/August 1945) die Sowjetunion in das US-amerikanische „One-World“-System zu integrieren versuchte, womit er bekanntlich kläglich gescheitert ist. Die geopolitischen und vor allem ideologischen Machtinteressen standen in derart krassen Gegensatz zueinander, dass von der Verwirklichung eines „One-World“-Traums gar keine Rede sein konnte.7

Mit dem Untergang des Sowjetreiches witterten die USA nunmehr eine neue Chance, den Traum zu verwirklichen und versuchten tatkräftig diese Vision nicht ohne Erfolg zum neuen Leben zu erwecken. Allerdings gelang es ihnen eine unipolare Weltordnung lediglich als Abklatsch vom „One-World“-Traum entstehen zu lassen, welche mehr schlecht als recht etwa dreißig Jahre andauerte.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine ist die unipolare Welt in ihrer Existenz bedroht. Darum kämpfen die USA so verbissen und unerbittlich um die Ukraine „bis zum letzten Ukrainer“, wie der britische Ex-Premier Boris Johnson es im Frühjahr zynisch formulierte. Russland müsse eine strategische Niederlage zugefügt werden, damit die unipolare Weltordnung unter der US-Führung überleben könne.

Die geschichtliche Erfahrung lehrt uns allerdings, dass nur das in einem langen historischen Prozess Tradierte und nicht das in der Retorte Gezeugte überlebt, auf Dauer Beständigkeit verspricht und Stabilität sichert. In den weltgeschichtlichen Zusammenhängen betrachtet, ist eine unipolare Weltordnung eher eine absolute Ausnahme als Regel, wohingegen eine multipolare Welt ein Normalzustand ist.

Mehr noch: Eine unipolare Weltordnung muss – sollte sie in der letzten Konsequenz gedacht und verwirklicht werden – zu einem „Weltstaat“ führen. Und dieses weltpolitische Ungeheuer „dürfte wohl“ – wusste schon Hannah Arendt – „das tyrannischste Gebilde sein, das sich überhaupt denken lässt, vor dessen Weltpolizei es dann auf der ganzen Erde kein Entrinnen mehr geben würde, bis es schließlich auseinanderfällt.“8

Und so ist es auch gekommen, wie Hannah Arendt uns prophezeite. Die unipolare Weltordnung, die sich anmaßt(e), zum Weltstaat zu werden, zerfällt vor unseren Augen. Vordergründig sollte sie die im westlichen Sinne verstandenen Prinzipien des Liberalismus und der Demokratie verkörpern. Hintergründig ging es den USA aber darum, die Vielfalt der Völker und Länder in eine geopolitische und geoökonomische Einheit unter Führung des US-Hegemonen zu verwandeln und innerhalb dieser universalen Einheit der US-Hegemonie zum Sieg zu verhelfen.

Der Versuch der Schaffung einer solchen universalen Einheit unter US-Führung ist (das können wir heute mit Fug und Recht behaupten) gescheitert und er musste auch scheitern. Der Traum von der US-Hegemonie als einer neuen Variante der „One World“-Idee ist deswegen krachend gescheitert, weil er das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten machte, indem er die Vielfalt von historisch gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen naturwidrig zu vereinheitlichen bzw. zu uniformieren versuchte.

Mit ihrem universalistischen Anspruch auf eine gleichförmig und uniform organisierte Weltgemeinschaft gefährdet die unipolare Weltordnung zudem – worauf Ingeborg Maus bereits gegen Ende des vergangenen Jahrhunderts 1999 hingewiesen hat – „das Kontinuum von Menschenrechten und Volkssouveränität nach zwei Richtungen hin“: „Die je gesellschaftsspezifische der universalistischen Menschenrechtsprinzipien und die Fähigkeit zu demokratischer Selbstorganisation würden gleichermaßen durch die globalen Zentralinstanzen usurpiert. … Die Institutionalisierung einer Weltpolitik bedeutete die endgültige Isolierung und Zerstörung der Menschenrechte. Globale Instanzen könnten in jeder Gesellschaft dieser Welt ihre Lesart von Menschenrechten gegen die dort vorherrschenden Lesarten militärisch durchzusetzen. Auch hier würde die gesamte Weltbevölkerung zum bloßen >Material< der Menschenrechtsverwirklichung.“9

Dieses 1999 entworfene Horrorszenario ist zum Glück nicht eingetreten. Heute ist die unipolare Weltordnung auf dem Rückzug und eine multipolare auf dem Vormarsch und nicht mehr zu bremsen. Und deswegen ist der Westen so empört darüber, dass Russland sich „erdreistet“, die USA als europäische Ordnungs- und Hegemonialmacht in Frage zu stellen bzw. herauszufordern und das Machtungleichgewicht in Europa beseitigen zu wollen. Russlands Streben nach einer neuen Machtbalance in Europa wird sogleich als das Streben nach Einflusssphären denunziert.

Der ständige Vorwurf an die Adresse Russlands: Es betreibe eine Art Machtstaatspolitik des 19. Jahrhunderts, in dem die europäischen Groß- und Kolonialmächte unter sich die Welt verteilten und Einflusssphären schufen, ist nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver. Mit ihrer Expansionspolitik gen Osten haben der US-Hegemon und die Nato-Staaten in dem vergangenen Vierteljahrhundert doch nicht anderes getan, als ihre Einflusszone ad infinitum zu erweitern und Russland immer mehr und immer weiter zurückzudrängen.

Und heute? Was passiert heute im globalen Raum (und nicht nur in Europa) wie zum Beispiel in Afrika? Versuchen die Groß- und Weltmächte nicht erneut in einer neokolonialen Manier eine geopolitische Rivalität auch auf dem afrikanischen Kontinent auszutragen? Bahnt sich auch hier nicht eine neue Runde des geopolitischen Machtkampfes um die Einflusssphären?

Moskau ist es mittlerweile gelungen, militärisch in zwei Staaten Afrikas Fuß zu fassen: in der Zentralafrikanischen Republik und in Mali und laut Berichten steht Russland davor, sich auch noch in einem dritten Staat (Burkina Faso) mit Streitkräften sowie privaten Militärfirmen festzusetzen. Der Westen hält mit aller Kraft dagegen und sucht die Zusammenarbeit auch mit Algerien, das rüstungsindustriell und militärisch eng mit Moskau kooperiert, zu torpedieren.10

Den schwindenden US-Einfluss in Afrika hat selbst der in der vergangenen Woche staatgefundenen insgesamt dreitägigen Afrikagipfel in Washington nicht beseitigen können. Kurzum: Der Westen hat bis jetzt insbesondere mit Blick auf die immer stärker werdende Position Chinas und Russlands in Afrika kein Gegenmittel im Machtkampf um Afrika gefunden.

Vor dem Hintergrund dieser eskalierenden Großmächterivalität stehen wir vor dem Dilemma: Entweder setzt der Westen weiterhin die Eskalation fort, um die unipolare Weltordnung notfalls gewaltsam aufrechtzuerhalten, oder die geopolitischen Rivalen finden eine neue Machtbalance auf dem europäischen Kontinent und im globalen Raum nach einem anderen, eben neuen Ordnungsprinzip . Dieses Ordnungsprinzip kann unmöglich auf den „westlichen Werten“, sondern vielmehr wie seit eh und je in der Menschheitsgeschichte auf einem Interessenausgleich berühren, auch wenn jedes Balancesystem alles anderes als einfach ist und stets einer Korrektur bedarf.

Der Machtkampf um das andere geo- und sicherheitspolitische Ordnungsprinzip ist letztendlich ein Machtkampf zweier konträrer Weltentwürfe der Globalität und der Regionalität bzw. des Universalismus und Partikularismus. Russland geht es vor diesem Hintergrund nicht darum, Europa in Einflusssphären aufzuteilen, sondern darum, ein neues sicherheitspolitisches Ordnungsprinzip in Europa zu schaffen und mit einem Europa auszuhandeln, das die Sicherheitsinteressen Russlands respektiert. Das setzt aber wiederum eine Selbstbefreiung Europas von der erdrückenden Umklammerung der US-Geopolitik voraus, womit freilich bis auf weiteres nicht zu rechnen ist.

Und nur auf diesem Wege kann ein Modus Vivendi zwischen Russland und der EU gefunden werden. Sollte das nicht gelingen, so wird auch Josep Borrells Traum vom Ukrainekrieg als der „Geburtsstunde des geopolitischen Europas“ (Rede vor den Europaabgeordneten am 1. März 2022) schnell ausgeträumt, von der Fortsetzung der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ganz zu schweigen. Es bleibt nur zu hoffen, dass diese Konfrontation nicht in einem Desaster endet.

Anmerkungen

1. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Fischer, S., Keine Verhandlungen um jeden Preis, in: Ukraine-Analyse Nr. 276, 15.12.2022, 8-9.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichen Wertuniversalismus. Berlin 2017, 76 f.
4. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbiegniew Brzezinski, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 57 (2012), 89-97 (90).
5. Willkie, W., One World. New York 1943.
6. Zitiert nach Carl Schmitt, Die Einheit der Welt (1951), in: ders., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978. Berlin? 841-871 (843).
7. Näheres dazu Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 111 f.
8. Arendt, H., Macht und Gewalt. München /Zürich 1971, 131.
9. Maus, I., Der zerstörte Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in der aktuellen nationalstaatlichen und internationalen Politik (1999), in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 359-374 (374).
10. Vgl. „In Westafrika gegen Russland“, german-foreign-policy.com/20. Dezember 2022.

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