Verlag OntoPrax Berlin

„Big Russia versus Little Russia“

Im Spannungsfeld zwischen Sanktionskrieg, Polens Ukrainepolitik und Kriegsgemetzel

Übersicht

1. „A Ukrainian victory“?
2. Der Sanktionskrieg und der De-Dollarisierungsprozess
3. Im Zangengriff der Geschichte: Polens Ukrainepolitik
4. Kriegsgemetzel und kein Ende?

Anmerkungen

„Сначало нас разъединили, а потом растравили“ (Zunächst
wurden wir geteilt und dann gegeneinander aufgehetzt).
(Putin, 22. Dezember 2022)

1. „A Ukrainian victory“?

In seinem Artikel „Russia´s defeat is the top global priority for 2023“ für Atlantic Council schreibt der ukrainische Verteidigungsminister Oleksij Resnikow am 22. Dezember 2022: „Ukraine has become Europe’s shield, defending the continent along a 2,500-kilometer front line. … Today’s already alarming security situation will only deteriorate if Russia is not decisively defeated in 2023. … Ukraine’s partners must … underline that peace is impossible without Russia’s defeat. … A Ukrainian victory would bring with it the prospect of a sustainable peace and the opportunity to build on the country’s vast potential.“

Was ist das: Selbstgewissheit, Selbstprahlerei oder einfach Kriegspropaganda? Glaubt Resnikow wirklich an „a Ukrainian victory“ oder rührt er die Kriegstrommel, um vom Westen noch mehr Kriegsfinanzierung und noch mehr Waffenlieferungen zu erhalten? Der blutige und grausam geführte Krieg, die Zerstörung des Landes, ein weiterer Verlust des Territoriums und nicht zuletzt zahlreiche Kriegsopfer vor allem auf der ukrainischen Seite halten den ukrainischen Verteidigungsminister offenbar nicht davon ab, weiterhin von „Ukrainian victory“ zu träumen, ohne eine wie auch immer geartete Alternative in Erwägung zu ziehen. Denn der Sieg der Ukraine in diesem Krieg ist alles andere als garantiert. Garantiert ist bei der Fortsetzung des Krieges allein noch mehr Zerstörung des Landes und noch mehr Vernichtung von Menschenleben.

Schenkt man der Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula Gertrud von der Leyen Glauben, so sind auf der ukrainischen Seite heute schon mehr als 100.000 gefallene Militärangehörige und 20.000 gefallene Zivilisten zu beklagen. Es sind grausame Zeiten, in denen wir leben. So viel Zerstörung, Vernichtung und vor allem Hass und immer wieder Hass haben wir seit Langem nicht mehr erlebt.

Da erinnert sich unsereiner geradezu nostalgisch an die Zeiten, in denen ein sowjetischer Historiker und außenpolitischer Experte Georgij A. Arbatov (1923-2010) – von der Perestrojka euphorisiert – das Bonmot prägte: „Mы (СССР) сделаем с вами (США) нечто страшное – лишим вас врага.“ (Wir (die UdSSR) werden Ihnen (den USA) etwas ganz Schreckliches antun wir werden Sie des Feindes berauben). Man spürt in dieser Äußerung jene Aufbruchsstimmung und Begeisterung, die zurzeit der Perestrojka und Anfang der 1990er-Jahre in Russland vorherrschten.

Aber schon in der ersten Hälfte der 1990er-Jahre kippte die Stimmung. Und siebzehn Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion und kurz vor seinem Ableben gab Arbatov 2008 Jonathan Power (Kolumnist für die International Herald Tribune) ein Interview unter dem bezeichnenden Titel „Uns bedroht eine viel gefährlichere Periode als der Kalte Krieg“1. Bereits der Titel des Interviews verrät die ganze Enttäuschung über die sich im Abwärtstrend befindenden Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Von der Euphorie der 1990er-Jahre gibt es im Jahr 2008 keine Spur mehr.

„Während des Kalten Krieges waren wir darüber besorgt“ – sinnierte Arbatov -, „dass der Gegner uns etwas Schlimmeres antun kann. Heute müssen wir (hingegen) befürchten, dass die beiden Seiten nichts Gutes machen. Sie rechnen damit, dass alles bleibt, wie es ist. Die Situation ändert sich allerdings ständig …“. Und auf Powers Frage: „Glauben Sie nicht, dass wir am Beginn eines neuen Kalten Krieges stehen?“ antwortete er: „Nein, allerdings kann es dazu durchaus kommen. Dieser Krieg wird kein ideologischer, wohl aber viel gefährlicher als der vorangegangene sein.“

Ungeachtet dessen, wie Arbatov die heraufziehenden Gewitter eines wie auch immer gearteten „Kalten Krieges“ begründete, Fakt ist, dass es selbst einem solch prowestlich orientierten Experten bereits 2008 völlig klar war, dass sich Russland und der Westen auf einem Kollisionskurs befinden, auf eine Konfrontation zusteuern und sich die Geschichte durchaus wiederholen könnte. Und so ist es, wie Arbatov befürchtet hat, auch gekommen.

Wo stehen wir nun heute? „Whether, when and how the war in Ukraine will end“, überschreibt Harlan Ullman seinen Artikel in The Hill am 20. Dezember 2022. Laut manchen Beobachtern – schreibt Ullman – laufe der Krieg für die ukrainische Seite richtig gut. Die russischen Streitkräfte müssen Rückschläge hinnehmen und seien schwer angeschlagen. Wenn dies so weiter gehe, werde Russland letztlich verhandeln oder Kompromisse eingehen müssen.

Manche im Pentagon charakterisieren den Ukrainekrieg – gab Ullmann allerdings zu bedenken – als einen Krieg von „Big Russia versus Little Russia“, woraus sie schlussfolgern: Die kleinere Ukraine könne sich gegen das größere und mächtigere Russland nicht durchsetzen – erst recht nicht, wenn die Kämpfe trotz einer massiven militärischen und finanziellen Unterstützung der EU, der Nato und vor allem der USA lang andauern werden.

Damit treffen die anonymen Pentagon-Fachleute – ohne dessen bewusst zu sein – den Nagel auf den Kopf. Denn der Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein zwischenstaatlicher Konflikt, sondern auch und insbesondere ein Bürgerkrieg. Wer gewinnt nun in diesem blutigen Bürgerkrieg: „Big Russia“ oder „Little Russia“?

Wenn man dem ukrainischen Verteidigungsminister Glauben schenkt, so steht es außer Zweifel, dass die Ukraine siegen werde. Manche Zweifel sind freilich angebracht. Wer dem Sieg der Ukraine das Wort redet, ignoriert die dramatische Lage, in der sich die ukrainische Wirtschaft und Gesellschaft befindet. Ohne eine funktionierende Kriegswirtschaft kann aber auch kein Krieg dauerhaft geführt, geschweige gewonnen werden. „How does an economy function at all — while supporting the war effort — with this level of damage to civilian infrastructure?“, fragte Simon Johnson (der ehem. Chefökonom des Internationalen Währungsfonds) irritiert.2 Wie kann in der Tat eine Wirtschaft bei einem solchen Ausmaß an Zerstörung der zivilen Infrastruktur funktionieren? “I can’t think of any economy that’s ever tried to do this”, stellt Johnson sogleich ratlos fest.

Ohne eine tatkräftige finanzielle und militärische Unterstützung des Westens und insbesondere der USA wäre die Ukraine schon lange nicht mehr überlebensfähig, von einer Kriegsführungsfähigkeit ganz zu schweigen. Der finanzielle Bedarf der Ukraine ist derart gewaltig, dass der Westen allmählich nervös wird. Wir stellen der Ukraine – sagt Jacob Kirkegaard (a senior fellow at the German Marshall Fund of the United States) – so viel finanzielle Ressourcen zur Verfügung, die ermöglichen sollten, gerade einmal eine Hyperinflation abwenden zu können.

Es bestehe allerdings die Gefahr einer ernsthaften Kontraktion der ukrainischen Wirtschaft. Und die einzige Möglichkeit, dies zu verhindern, bestehe darin, mehr finanzielle Unterstützung bereitzustellen. „But“ – fügte Kierkegaard hinzu -, “I don’t know if the will is there.”3 Es stellt sich in der Tat die Frage, ob die westliche Bereitschaft besteht, diesen Krieg unlimitiert zu finanzieren. Sollte die US-Geopolitik das Maß aller Dinge sein, dann ist die Frage längst beantwortet worden, bevor sie überhaupt gestellt wurde.

Viel wichtiger ist es allerdings zu fragen: Geht es den USA wirklich allein um „Ukrainian victory“? Und was passiert, wenn die Ukraine verliert? Spielen der finanzielle Aufwand und Menschenleben in diesem blutigen geopolitischen Schaukampf zwischen den alten und neuen Rivalen Russland und den USA gar keine Rolle? Offenbar nicht!

Bei seiner Pressekonferenz hat der russische Generalstabchef Valerij Gerasimov am 22. Dezember 2022 die im Jahr 2022 bereits erfolgte westliche Finanzierung des Ukrainekrieges auf knapp 100 Milliarden Dollar geschätzt. Die anderen Quellen beziffern die Kriegsausgaben des Westens in den zehn vergangenen Monaten mit sage und schreibe 110 Milliarden Dollar.4 Geht man von den Schätzungen mancher westlichen Militärexperten aus, dass nämlich der Krieg womöglich mehrere Jahre andauern kann (womit Russland im Übrigen nicht rechnet), so kann die westliche Kriegsfinanzierung ein ziemlich kostspieliges Unterfangen werden, von hunderttausenden Kriegsopfern ganz zu schweigen.

Wen interessieren dann schon Menschenleben, die Verelendung der Bevölkerung, ein zerstörtes Land usw., wenn es sich um eine geo- und sicherheitspolitische Vormachtstellung in der Welt und nicht zuletzt um profitable Geschäfte mit dem Krieg und dem Tod geht? Das Leiden und Elend der Menschen sind dann nur noch Fußnoten im blutigen Buch der Geschichte. Selbst wenn der ukrainische Verteidigungsminister an den Ukrainesieg glaubt, so stellt sich gleichzeitig die Frage, ob auch der Westen daran glaubt. Oder geht es ihm in diesem blutigen Krieg letztendlich nicht so sehr um einen Ukrainesieg als vielmehr um die Aufrechterhaltung der US-Vormachtstellung in Europa und eine damit eingehende geostrategische Niederlage Russlands, was auch immer das sein mag?

2. Der Sanktionskrieg und der De-Dollarisierungsprozeß

Zu den immensen Kriegsfinanzierungskosten des Westens muss man den Sanktionskrieg gegen Russland hinzuzählen, der die Kriegskosten vor allem für den EU-Wirtschaftsraum nicht nur infolge des Energiepreisschocks noch mehr in die Höhe getrieben hat, sondern auch ein monetäres Phänomen entstehen lassen, das für die USA und in deren Schlepptau für die EU mittel- bis langfristig ein besorgniserregendes Ausmaß angenommen hat: eine beschleunigte De-Dollarisierung des weltweiten Zahlungsverkehrs und eine zunehmende Verwandlung der vom US-Dollar (noch) dominierten globalen Finanzwelt in eine multipolare Währungsweltordnung.

Der De-Dollarisierungsprozess ist zwar kein ganz neues Phänomen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine und dem damit eingehenden Missbrauch des Dollars (und Euros) als eine geoökonomische Waffe im Sanktionskrieg gegen Russland hat diese Tendenz aber einen zusätzlichen Schub bekommen. Ein Nebeneffekt des Sanktionskrieges ist, dass der Dollar sich als unzuverlässiges Zahlungsmittel erweist und dadurch toxisch wird.

Die USA sägen damit ihren monetären Ast ab, auf dem sie jahrzehntelang saßen, wovon sie immer noch profitieren und womit sie sich unlimitiert verschulden konnten. Was will man mehr? Man will in der Tat mehr ! Denn ohne den US-Dollar als die Weltleitwährung wird sich die US-Hegemonie in nichts auflösen.

Bereits 2018 warnte Michael Ferber in seinem Artikel „Die De-Dollarisierung hat weitreichende Folgen“ (NZZ,10.09.2018) mit Verweis auf den Vermögensverwalter Ronald Peter Stöferle vor einer schleichenden „Abkehr verschiedener Länder vom Dollar, mit Russland und China an der Spitze. Auch die Schaffung des Euro kann bereits als Schritt in diese Richtung interpretiert werden. Diese >de-dollarization< ist laut Stöferle ein schleichender Prozess, der in Zusammenhang mit der Entwicklung von einer US-zentrischen hin zu einer multipolaren Währungswelt zu sehen ist.“

Zu Recht wird bei dieser Gelegenheit auf Donald Trump als den Impulsgeber dieser Entwicklung hingewiesen. „Mit seiner Politik des >America first< schreckt der US-Präsident nicht vor Handelskonflikten zurück. Je mehr die USA aber protektionistische Maßnahmen vorantrieben, desto knapper werde kurzfristig das Angebot an Dollars … Trumps Strategie, den Dollar als machtpolitisches Instrument einzusetzen, sorgt so in den anderen Teilen der Welt für Bemühungen, sich von der US-Währung abzuwenden. … So bemühten sich Russland und China, bilateralen Handel nicht mehr in Dollar, sondern in Rubel und Renminbi abzuwickeln. Der russische Präsident Wladimir Putin habe bereits 2014 betont, dass Russland Erdöl und Gas in Rubel und anderen Währungen verkaufen solle, um das Dollar-Monopol zu umgehen. Im Zuge der Sanktionspolitik der USA gegenüber Russland wurden die russischen Dollar-Reserven von russischen Behörden als risikobehaftete Investition eingestuft. In der Folge sind … in Russland große Volumina an US-Staatsanleihen verkauft und im Gegenzug Gold gekauft worden. China hat derweil bereits mehrere Verträge mit erdölexportierenden Ländern abgeschlossen, die in Yuan denominiert sind. Zudem hat das Land in diesem Jahr … den Handel mit Erdöl Futures in Yuan gestartet … Ein wichtiges Zeichen für die Bemühungen Chinas, ein multipolares System mit mehreren Reservewährungen zu schaffen, war … auch die Schaffung eines chinesischen Gold Fixings in Schanghai im vergangenen Jahr. … Der schleichende Rückzug des Dollars von seinem Status als alles dominierende Weltleitwährung könnte in den USA massive Folgen haben. So könnte die Nachfrage nach Dollars sowie nach amerikanischen Staatsobligationen deutlich sinken … Dies wiederum könnte sowohl die Inflation als auch die Zinsen in den USA nach oben treiben. Sollte China zunehmend die Möglichkeit haben, Erdöl für Yuan zu kaufen, dürfte das Land weniger Interesse an amerikanischen Staatsanleihen haben. Auch das Interesse der Erdölstaaten im Nahen Osten, ihre Einnahmen aus den Ölverkäufen als >Petrodollars< zu rezyklieren, dürfte abnehmen.“

Seit diesem Bericht aus dem Jahr 2018 sind gut vier Jahre vergangen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine haben die USA zusammen mit der EU Russland vom globalen Zahlungssystem SWIFT abgeschnitten und dadurch den De-Dollarisierungsprozess nur noch beschleunigt. Das führte wiederum dazu, dass Russland zum einen aufhörte, seinen Handel auf Dollar- und Euro-Basis zu betreiben.

Die nichtwestlichen Länder wurden zum anderen dadurch noch mehr sensibilisiert, befürchteten sie doch ihrerseits im Falle einer Konfrontation mit den USA, dass ihnen genauso wie Russland das gleiche Schicksal widerfahren kann.

Russlands Rauswurf aus dem SWIFT-Zahlungsverkehr, der auch als „finanzielle Atomwaffe“ („financial nuclear weapon”) bezeichnet wurde, hat die meisten großen russischen Banken von einem Zahlungsverkehr abgeschnitten, das täglich zig Millionen Transaktionen ermöglicht und hat sie gezwungen, stattdessen auf ihren eigenen inländischen Zahlungsverkehr „Mir“ zurückzugreifen. Das führte aber gleichzeitig zu drei geoökonomischen Implikationen:

Zum einen schüren die Finanz- und Währungssanktionen gegen Russland die Sorge des Nichtwestens, dass der Dollar zu einem dauerhaften geoökonomischen Erpressungsinstrument verkommt. Das führt wiederum dazu, dass Peking und New Delhi neben Moskau ihre eigenen Zahlungssysteme entwickeln und dass BRICS ihren Zahlungsverkehr in nationalen Währungen forcieren.

Zum zweiten übt die Entscheidung der USA, den Dollar als geoökonomische Waffe ohne Rücksicht auf Verluste gegen den geopolitischen Rivalen einzusetzen, zusätzlichen Druck auf Asiens Volkswirtschaften aus, sich für eine Seite der Konfliktparteien zu entscheiden. Bei einem fehlenden alternativen Zahlungssystem laufen sie damit Gefahr, sich unzweideutig für oder gegen die Sanktionen zu positionieren, ohne dass sie sich eigentlich darauf festlegen möchten, da sie sich nicht in einen Konflikt ziehen lassen wollen, der nicht ihr Konflikt ist.

„The complicating factor in this cycle is the wave of sanctions and seizures on USD holdings,“ meint Taimur Baig (managing director and chief economist at DBS Group Research in Singapore). „Vor diesem Hintergrund sind regionale Schritte zur Verringerung der USD-Abhängigkeit nicht überraschend.“5

Zum dritten mag das dollarbasierte Zahlungsverkehr zwar noch jahrelang an der Spitze stehen, aber die wachsende Dynamik der Transaktionen in alternativen Währungen nehmen zu und nicht ab. Und die Absicht der Biden-Administration, den Dollar geopolitisch zu missbrauchen, könnte dieses monetäre Machtinstrument stumpf werden lassen. Denn der Sanktionskrieg gegen Russland werde laut dem indonesischen Finanzminister Sri Mulyani Indrawati , der beim Bloomberg CEO Forum am Rande der G-20-Treffen in Bali eine Rede hielt, viele Länder veranlassen, ihre Transaktionen mit eigenen Währungen durchzuführen, „was meiner Meinung nach gut für die Welt ist, wenn Währungen und Zahlungssysteme viel ausgewogener genutzt werden.“6

Der von den USA angeführte Sanktionskrieg gegen Russland, der sich ursprünglich sogar einen blitzartigen Erfolg versprach und worauf die ukrainische Führung mit Nachdruck beharrte, wird zum Bumerang und kann den US-Dollar mittel- bis langfristig zu Fall bringen mit dramatischen Konsequenzen für die USA und die Welt.

3. Im Zangengriff der Geschichte: Polens Ukrainepolitik

Unter allen EU-Ländern ist am meisten Polen politisch, ökonomisch, sozial und nicht zuletzt militärisch in den Ukrainekrieg involviert. Es ist ein offenes Geheimnis, dass viele tausenden polnischen Söldner und Militärangehörigen auf der ukrainischen Seite kämpfen und sterben. Das hat vor allem historische Gründe. Russland wird von der polnischen Machtelite nach wie vor als Feindesland wahrgenommen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat diese Wahrnehmung sich in der polnischen Führung nur noch verstärkt und ist in einen regelrechten Hass umgeschlagen.

Polen hat offenbar aus seiner leidvollen Geschichte nichts gelernt. Mit ihrer feindseligen Russlandpolitik lange vor dem Ukrainekrieg und zur Schau gestellten, etwas gekünstelten, aber trügerischen Selbstsicherheit wiederholt die polnische Machtelite die Fehler der Zwischenkriegszeit, in der sie sich maßlos überschätzt hat.

Sich in einer trügerischen Sicherheit zu wiegen und zu hoffen, dass die Nato im Notfall zu Hilfe eilen wird, kann unter Umständen ins Auge gehen und ist ein sehr gefährliches Unterfangen, erst recht, wenn Polen heutzutage gleichzeitig nicht nur keine Konfrontation mit Russland scheut und im Ukrainekonflikt (noch) indirekt an Kriegshandlungen teilnimmt, sondern gleichzeitig auch unter tatkräftiger Mitwirkung der USA vom „Intermarium“ träumt.

Das „Intermarium“ war ursprünglich ein von Jozef Pilsudski und seinen Anhängern 1920/23 konzipiertes Expansionsprojekt zur Schaffung von Großpolen, welches die Völker Ostmitteleuropas – Litauer, Ukrainer und Belarussen – ebenso, wie die Länder Estland, Lettland, Ungarn, Jugoslawien bis Rumänien umfasst, sich von der Ostsee über die Adria bis zum Schwarzen Meer erstreckt und als Bollwerk gegen die verhasste Sowjetunion dienen sollte. Die US-Geostrategen haben nun dieses antiquierte Projekt bereits in Reaktion auf die Ukraine-Krise (2014) aus der Versenkung geholt, um einen Staatengürtel zu errichten und als einen neuen „Cordon sanitaire“ gegen Russland in Stellung zu bringen.6 Diese US-amerikanische „Drei-Meere-Initiative“ kam Polen wie gerufen, da es als Schlüsselland in Ostmitteleuropa seit eh und je von hegemonialen Phantasien beseelt ist. Offenbar wird Polen immer noch „von zwei Särgen“ (Jerzy Giedroyc ) aus regiert.7

Infolge des Ukrainekrieges blühen nun die Phantasien der regierenden PiS-Partei von „Großpolen“. Dass „Großpolen“ aus der Asche des Ukrainekrieges auferstehen werde – schreibt HannaKramer (die polnische Kolumnistin von Niezależny Dziennik Polityczny) in ihrem Artikel „Diabeł tkwi w szczegółach. Co czeka Ukraińców po „Marszu wyzwoleńczym?“ (Der Teufel steckt im Detail.Was erwartet die Ukrainer nach dem „Befreiungsmarsch“?) am 21. Dezember 2022 -, daran zweifele kaum noch jemand. Warschau bereite sich seit langem darauf vor, die Westukraine einzuverleiben.

Zu weiteren Plänen gehöre auch ein „Befreiungsmarsch“ auf Kiew, spekuliert Kramer . Das bestätigte zuletzt der polnische Verteidigungsminister Mariusz Błaszczak , der bei der Eröffnung der zweiten Ausgabe des Projekts „Trainiere mit der Armee in den Ferien“ sagte, dass „wir so viele Menschen wie nur möglich darin ausbilden wollen“.

Selbst der ukrainische Präsident Selenskyj verhehle laut Kramer nicht, dass die Ukraine auf Kaczynskis „Marsch der Befreiung“ warte. Dabei erinnert Kramer die PiS-Regierung zu Recht an die historisch belasteten Beziehungen zwischen Polen und Ukrainern und warnt vor einem – wie sie es nennt – „bi-ethnischen PiS-Staat“ (PiS-owskie dwuetniczne państwo). Die Polen haben weder die Ideen von Bandera und Šuchevič noch das „Volyn-Massaker“ („Rzeź Wołyńska“) vergessen.

Wörtlich schreibt Kramer : „Das Problem für die PiS ist, dass die Polen die Verbrechen der Bandera-Anhänger nie vergessen werden, die Tausende polnischer Frauen und Kinder ermordet haben. Aus diesem Grund schreibt die polnische Regierung seit Februar die Geschichte um und verschweigt bewusst die Fakten (Problemem dla PiS jest to, że Polacy nie zapomną o zbrodniach banderowców, którzy wymordowali tysiące polskich kobiet i dzieci. To właśnie z tego powodu polski rząd od lutego pisze historię na nowo i celowo milczy o tym fakcie).“

Auch Kramers Kollege Jacek Tochman schreibt in seinem am 20. Dezember 2022 erschienenen Artikel „Zagrożenie nacjonalizmu ukraińskiego dla Polaków“ (Polens Bedrohung durch ukrainischen Nationalismus): „Polen steht in Bezug auf die Ukraine vor einer schwierigen Entscheidung. Einerseits gewährt es (der Ukraine) eine allumfassende Hilfe, andererseits ist die PiS-Partei bestrebt, die Westukraine zurückzugewinnen und den Westen zu überzeugen, ein grünes Licht für die Einführung der polnischen Armee in die Ukraine zu geben.“

Zugleich übe der Westen, zuallererst durch die USA, auf die Polen Drück aus, bez sankcji in die Ukraine einzumarschieren, wodurch Polen gegen Russland in Stellung gebracht wird, ohne dass Art. 5 des NATO-Vertrags aktiviert wird. Vor diesem Hintergrund werde allerdings ein ganz wichtiges Detail außer Acht gelassen: Eine große Flüchtlingszahl der ukrainischen Nationalisten überschwemme und bedrohe Polen. Die einheimische Bevölkerung wisse das sehr gut, wohingegen die politische Führung davon nichts wissen wolle.

Viele von denen, die jetzt aus der Ukraine nach Polen geflüchtet seien, seien laut Tochman Anhänger des ukrainischen Nationalismus, deren Einstellung den Polen nicht gerade wohlgesinnt seien. Darüber hinaus haben sich die ukrainischen Nationalisten in den letzten acht Jahren daran gewöhnt, alle ihre Probleme mit radikalen Methoden (radykalnych metod) zu lösen. Erst jetzt beginne die polnische Gesellschaft zu begreifen, worauf sie sich eingelassen habe.

Warum ignoriert die PiS-Regierung aber so beharrlich den importierten ukrainischen Nationalismus? Auf diese Frage hat Hanna Kramer ebenso eine prägnante wie zutreffende Antwort gegeben: Mit dem „Anschluss der Westukraine an Polen“ komme Kaczynski seinem „Intermarium“ („od morza do morza“) -Traum näher. Mit dem Ukrainekrieg kehrt also – wie man sieht – auch die längst vergessen geglaubte Geschichte Ostmitteleuropas mit ganzer Wucht zurück. Der Krieg hat sowohl die alten Träume neu aufleben lassen als auch die alten Wunden wieder aufgerissen. Und genau zwischen diesen beiden Extremen positioniert sich die polnische Russland- und Ukrainepolitik mit klarer Präferenz für die Ukraine.

4. Kriegsgemetzel und kein Ende?

Bereits am 3. Mai 2022 – erst zwei Monate nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine – warnte ich in meinem Aufsatz „Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters?“ vor der Gefahr der Zerstörung und Verwüstung der Ukraine sowie einer großen Kriegsopferzahlen, sollte der Westen das ukrainische Militär massiv aufrüsten: „Unter dem Vorwand, die Ukraine gegen die russische Aggression zu verteidigen und den gerechten Krieg des ukrainischen Volkes zu unterstützen, sind die Nato-Staaten als >Nichtkriegspartei< längst in diesem Krieg auf ukrainischem Boden involviert, versorgen die ukrainischen Truppen massiv mit Waffen, bilden das ukrainische Militär aus, schicken tausende Söldner, führen einen geoökonomischen, geopolitischen und Informationskrieg gegen Russland und versuchen den Krieg in die Länge zu ziehen, im irrigen Glauben, Russland dadurch schwächen zu können.

Der Westen wird – ob er zugibt oder nicht – auf jedem Falle – wenn nicht im völkerrechtlichen, so doch im geo-, militärpolitischen und geoökonomischen Sinne – zu einer Kriegspartei. Die Folgen dieser westlichen Parteinahme sind vor allem für die Ukraine selbst dramatisch: (a) Sie vergrößert die Feindschaft zwischen zwei ostslawischen Brüdervölkern, (b) ruiniert die Ukraine ökonomisch mit Hilfe des russischen Bombardements, (c) mobilisiert geomoralisch und medial die Weltöffentlichkeit und führt gleichzeitig den totalen Wirtschaftskrieg bzw. den Geo-Bellizismus gegen Russland. Dabei wird nicht nur die ukrainische Ökonomie ruiniert, sondern auch die staatliche Souveränität der Ukraine gefährdet.“

Heute können wir mit Bedauern konstatieren: Die Lage ist schlimmer als befürchtet. Der ökonomische und soziale Zustand der ukrainischen Bevölkerung hat sich dramatisch verschlimmbessert. Nach den anfänglichen Erfolgen des ukrainischen Militärs wurde die ukrainische Septemberoffensive von Russen ausgebremst. Die russische Armee hat sich seitdem umstrukturiert, massiv auf- und umgerüstet und befindet sich erneut in der Offensive, wohingegen die ukrainischen Kriegsopferzahlen hochgeschnellt und ein beängstigendes Ausmaß eingenommen haben.

Selbst wenn man die russischen Angaben über die gefallenen ukrainischen Militärangehörigen als Propaganda abtut, die zwischen 100.000 und 200.000 Opfer schwanken, so darf man wenigstens der EU-Kommission Glauben schenken. Neuerlich enthüllte die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen – wie oben erwähnt – ungewollt die verheerenden Kosten des Ukraine-Krieges für die Ukraine. “It is estimated that more than 20,000 civilians and 100,000 Ukrainian military personnel have died to date,” she said.8

In den letzten Wochen hat sich die militärische Lage für die ukrainischen Streitkräfte weiter verschlechtert. So berichtete der polnische Journalist Marek Galas kurz vor Weihnachten in seinem Artikel „Ukraiński słoik z pająkami. Brak skuteczności, tylko wzajemne zniszczenie“ (Ukrainisches Glas mit Spinnen. Keine Wirkung, nur gegenseitige Zerstörung) am 20. Dezember 2022 darüber, dass Valerij Zalužnyj (der Oberkommandierender der ukrainischen Streitkräfte) Selenskyj dringend empfohlen hat, die Truppen aus der stark umkämpften Stadt Bachmut (russ .: Artemivsk) abzuziehen.9

Die Lage der ukrainischen Streitkräfte um Bachmut sei der gefährlichste und aussichtsloseste Abschnitt der Front und derart dramatisch, dass die Ukrainer selber die militärische Situation mit „Fleischwolf“ (polnisch : „maszynką do mięsa”, russ .: „мясорубка“) vergleichen. Die Verluste allein an diesem Ort werden auf 600 bis 800 Menschen pro Tag geschätzt!

Entlang der gesamten Front ist die militärische Lage der Ukraine katastrophal. „Die ukrainischen Militäreinheiten können neues Kanonenfutter“ nach Galas Diktum „nicht rechtzeitig liefern.

Unausgebildet, unmotiviert und schlecht versorgt gehen die Einberufenen für ein paar Tage an die Front, um dann je nach Glück entweder ins Krankenbett oder auf den Friedhof zu landen.

Die Ungeheuerlichkeit der unwiederbringlichen Verluste wird durch zahlreiche Filme von Friedhöfen in der ganz Ukraine belegt, wo jeden Tag Hunderte von frischen Gräbern auftauchen, die das blutige Verbrechen von Zelensky und seinen Widersachern bestätigen …, indem er die männliche Bevölkerung der Ukraine vollständig ausrottet. Das bedeutet nicht, dass die Männer … allein bei den Kämpfen sterben, sondern dass sie von Zelenskis Handlangern gewaltsam in den Tod geschickt werden und bei Ungehorsam eine Kugel in den Hinterkopf bekommen.“

„Die maßlose Zahl an Verwundeten aus Bachmut“ wird laut Galas` Bericht „durch die Überfüllung der Krankenhäuser in Kiew und in den regionalen Zentren belegt. … Die Krankenhäuser in Kiew sind restlos überfüllt. Laut einem Zeugen – einem Journalisten der größten italienischen Zeitung Corriere della Sera – werden täglich bis zu 100 schwer verwundete ukrainische Soldaten ins Krankenhaus eingeliefert.“ Die militärische Lage um Bachmut sei derart dramatisch, dass der ukrainische Generalstab gezwungen sei, wieder Söldner einzusetzen. Und die Stadt sehe mehr und mehr wie eine Ruine aus.

Wozu ist dieses sinnlose Blutvergießen gut, empört sich der polnische Journalist. „Warum kann Selenski nicht zugeben, dass die ukrainischen Streitkräfte unter seinem Kommando nichts weiter als Kanonenfutter sind?“ Galas beantwortet diese Frage allein mit den innerukrainischen Machtkämpfen zwischen Zalužnyj und Selenskij .

Es ist in der Tat „kein Geheimnis, dass Selenskij eifersüchtig die Popularität anderer Konkurrenten beäugt. Ein gesteigerter Minderwertigkeitskomplex lässt den Mini-Diktator ab und zu die Popularitätsrangliste genau im Auge behalten und wird ziemlich nervös, wenn ihn jemand überflügelt. Als The Economist einen Artikel mit Zalužnyj …veröffentlichte, versuchte Selenskij seinen Oberkommandierenden zu unterminieren. Im ukrainischen Segment des Internets tauchten plötzlich verschiedene diskreditierende und kompromittierende Materiale gegen Zalužnyj auf. Auf Befehl von Selenskij begannen die Sonderdienste, sich mit dessen schmutziger Wäsche zu befassen. Mit verschiedenen Methoden und Mitteln wurden kompromittierende Details aus Zalužnyjs Privatleben extrahiert, verschiedene falsche und weitreichende Missetaten des Mannes erfunden.“

All das mag aus journalistischer Sicht interessant erscheinen. Das Kernproblem des blutigen Kriegsgemetzels trifft aber Galas` Bericht in keinerlei Weise. Denn neben den innerukrainischen politischen Querelen und Eitelkeiten bestehen knallharte geopolitische und geoökonomische Machtinteressen des US-Hegemonen, denen sich weder Zalužnyj noch Selenskij entziehen kann.

Der „Fleischwolf“ ist der blutige Preis, den die Ukraine für die westlichen Waffenlieferungen und finanzielle Unterstützung des Krieges zahlen muss, um den USA die geopolitischen Kastanien aus dem Feuer zu holen und Russland eine geostrategische Niederlage zuzufügen.

So gnaden- und erbarmungslos kann nun mal Geopolitik sein. Am Ende des Tages wird die Ukraine auf der Strecke bleiben: zerstört, leidgeprüft, gedemütigt und einsam und allein ihrem Schicksal überlassen. Dieses sinnlose Kriegsgemetzel ist nicht im Interesse der dort seit Jahrhunderten friedlich miteinander lebenden Ostslawen, entspricht aber voll und ganz dem geostrategischen Machtkalkül der raumfremden Mächte – der eigentlichen Profiteure und Nutznießer dieses furchtbaren Gemetzels.

Anmerkungen

1. Арбатов, Г., „Нам грозит более опасный период, чем холодная война“. Россия в глобальной политики. 16.02.2008.
2. Zitiert nach Stein, J./Stein, D. L., Russia is destroying Ukraine’s economy, raising costs for U.S. and allies, The Washington Post, 15.12.2022.
3. Zitiert nach Stein/Stein (wie Anm. 2).
4. Vgl. Brüggmann, M./Meiritz, A., Realitätscheck für ein Ehrenwort. Handelsblatt 23./26. Dezember 2022, S. 12.
5. Zitiert nach Jamrisko, M./Carson, R., Suddenly Everyone Is Hunting for Alternatives to the US Dollar, Bloomberg 22. Dezember 2022.
6. Näheres dazu „Osteuropas geostrategische Drift“: Berliner Regierungsberater sorgen sich über US-Einflussarbeit in Ost- und Südosteuropa mit Hilfe der „Drei-Meere-Initiative“, german-foreign-policy.com/news/detail/8412/15.10.2020.
7. Zitiert nach Leonhard, J., Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923. München 2018, 485.
8. Zitiert nach George D. O’Neill Jr., Is This Winning? Western leaders can not longer hide the truth about Ukraine. The American Conservative, 19. Dezember 2022.
9. Zum Nachfolgenden Marek Galas, Ukraiński słoik z pająkami. Brak skuteczności, tylko wzajemne zniszczenie. Niezalezny Dziennik Polityczny, 20. Dezember 2022.

Nach oben scrollen