Verlag OntoPrax Berlin

Vom Dichten und Träumen in der US-Außenpolitik

Zum Problem der US-amerikanischen Russlandexpertise

Übersicht

  1. „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“
  2. „Analogie“ als Parodie auf die Gegenwart
  3. Der „Hardliner-Nationalismus“-Vorwurf und Russlands Herrschaftstradition

Anmerkungen

„Weil Not Dichten lehrt, ist die gesamte Begriffswelt Dichtung aus Not.“
(Christoph Türcke)1

  1. „Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“

„Der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (El sueño de la razón produce monstruos) steht auf einer berühmten Aquatinta-Radierung des spanischen Malers, Francisco José de Goya, geschrieben. Das Bild zeigt einen Künstler im Schlaf an der Tischkante versunken. Hinter und neben ihm erscheinen unheimliche, fliegende monströse Fabelwesen wie eulenartige Ungeheuer, riesige Fledermäuse und ein katzenähnliches Wesen. Ein größeres der eulenähnlichen Monstren hat mit seinen Krallen eine der Schreibfedern gegriffen, scheint sie ihm reichen zu wollen und ihn anzusprechen. Ein schauriges Bild!

Der Traum wird zum Alptraum und der schlafende Künstler wird von der Monstrosität der im Schlaf träumenden „Vernunft“ erschlagen. Dieser Monstrosität des Traumes ähneln heutzutage die Vorstellungen, Gedankengänge und Phantasiewelt der transatlantischen Machteliten diesseits und jenseits des Atlantiks, die sich „Russlandexperten“ nennen.

Denn sie werden von der träumenden „Vernunft“ – jenem „Intellekt“ – vorgeführt, der – wie Christoph Türke einst in Anlehnung an Nietzsche eindrucksvoll formulierte – „Daueragent der Täuschung und Selbsttäuschung“ ist. Dieser Intellekt ist „Träumer, der träumt, keiner zu sein, dieser Versager auf der ganzen Linie der Wahrheit – versagt selbst darin noch, dass er nicht einmal um die große Stärke weiß, dass in seiner Schwäche liegt: dass Täuschung Erfindung, Erfindung aber Dichtung und Dichtung der Inbegriff künstlerischer Produktion ist.“2

Und in dieser Welt des Dichtens und Träumens befinden sich heute die transatlantischen und insbesondere US-amerikanischen Russlandexperten. Sie merken nicht einmal, dass ihre phantasievolle „Begriffswelt Dichtung aus Not“ ist, die sie irrtümlicherweise „Russlandexpertise“ nennen. In Wahrheit ist sie aber „ein Inbegriff künstlerischer Produktion“, die verklärt, ohne aufzuklären; dichtet, ohne zu begreifen, und träumt, ohne sich der Realität stellen zu wollen.

Dieser zu Unrecht „als Lügner geschmähte Intellekt ist der als Künstler gefeierte,“3 als Aufklärer bewunderte, als Verklärender verpönte, als Propagandist verhasste und als Träumer verlachte. Dieser vielseitig ansetzbare Intellekt ist jedermann zugänglich. Und so wird auch die US-Russlandexpertise zum „Kunstwerk“, allerdings nicht zu dem des Schönen und Erhabenen, sondern zu einem Kunstwerk eines karikierenden und verstellenden Intellekts.

Offenbar aus einem monströsen Alptraum erwacht, hat auch der Direktor des Stuart Center und des Europa-, Russland- und Eurasien-Programms am Center for Strategic and International Studies, Max Bergmann, sein „Kunstwerk“ verfasst und unter einem traumatisierten Titel „Tell Russians Putin Has to Go. Biden Should Call on Russians to Oust Putin and End Their Isolation“ (Sag den Russen, dass Putin gehen muss. Biden sollte die Russen auffordern, Putin zu stürzen und ihre Isolation zu beenden) in Foreign Affairs am 18. Juli 2023 veröffentlicht.

Von Russland als Amerikas Vasallenstaat geträumt, legt Bergmann der Biden-Administration nahe, Putin wie einen Vasallen zu behandeln, indem Biden klarmache, „dass Russland den Krieg beenden und die Führung im Kreml ersetzen muss, um einen Weg zurück zu finden … Die neue Regierung in Moskau müsste (sodann) bereit sein, die Feindseligkeiten zu reduzieren, Rüstungskontrollabkommen wiederherzustellen und amerikanische Geiseln (wie den Journalisten Evan Gershkovich und Paul Whelan, einen ehemaligen US-Marinesoldaten) und russische politische Gefangene (wie Alexei Nawalny und Wladimir Kara-Mursa) freizulassen. Sie müsste auch offen für die Aufhebung der repressiven Maßnahmen sein, die Putin zu Beginn des Krieges verhängt hatte und die abweichenden Meinungen, Kritik und Opposition verbot.“

Als wäre das nicht genug, müsse Russland getreu Bergmanns Traumwelt drei Bedingungen erfüllen: „einen vollständigen Abzug der russischen Streitkräfte aus der gesamten Ukraine; die Zusage, die Souveränität der Ukraine zu respektieren und die Spannungen mit dem Westen abzubauen sowie den Sturz Putins“ (a full withdrawal of Russian forces from all of Ukraine, a pledge to respect Ukraine’s sovereignty and reduce tensions with the West, and the ouster of Putin).

Falls dieses US-Diktat nicht erfüllt würde, würde Russland – prophezeit Bergmann mit Verweis auf Stephen Kotkins „Gespräch“ in Foreign Affairs am 24. Juni 2023 – „ein Pariastaat“ (a pariah state), wenn nicht gar „ein riesiges Nordkorea“ (a giant North Korea) werden.

„Der Traum der Vernunft“ gebar „Ungeheuer“ und dessen „Kunstwerk“ sind Bergmanns Allmachtphantasien, die er offenbar tatsächlich für realisierbar hält, weil die schlafende „Vernunft“ seine Traumwelt für die geo- und sicherheitspolitische Realität hält. Was für eine „Russlandexpertise“! Und mit solchen „Russlandexperten“ wollen die USA eine adäquate, sprich: zielführende Russlandpolitik betreiben?

2. „Analogie“ als Parodie auf die Gegenwart

Geschweige davon, dass es gar nicht im geostrategischen Interesse der Biden-Administration liegt, den Ukrainekrieg beenden zu wollen4, was Bergmann offenbar immer noch verborgen geblieben ist, hat Russland den Ukrainekrieg noch lange nicht verloren, wurde von den US-amerikanischen Streitkräften noch nicht besetzt, hat noch keine bedingungslose Kapitulation unterzeichnet und ist noch nicht Amerikas Vasallenstaat geworden.

Aber genau diesen Eindruck hinterlässt Bergmanns Studie, wenn man seinen völlig abwegigen Vergleich des Ukrainekrieges mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg liest. Das hat Bergmann offenkündig in seinem monströsen Alptraum geträumt, sonst würde er keine derartige Parallele zum Ersten Weltkrieg ziehen.

Im Februar 1918 versprach Woodrow Wilson Deutschland einen „gerechten Frieden“ (just peace), als er vor dem US-Kongress ankündigte: „Es darf keine Annexionen, keine Kontributionen, keinen Strafschadenersatz geben. Nationale Bestrebungen müssen respektiert werden; Völker dürfen jetzt nur noch mit ihrem eigenen Einverständnis beherrscht und regiert werden.“

Eine Parallele zur Gegenwart ziehend, schreibt Bergmann an die Adresse der Biden-Administration: Indem Biden heute eine Friedenslösung skizziere, die „eine hoffnungsvolle Zukunft für Russland“ (a hopeful future for Russia) beinhalte, könnte er in der Lage sein, ein ähnliches Ergebnis zu erzielen, indem er an einflussreiche Russen „in den Korridoren der Macht“ (within the halls of power) – im Militär, in den Regierungsinstitutionen und im Privatsektor – appelliere, die das Land möglicherweise auf einen neuen Kurs bringen könnten.

Dass Bergmann derartige historische Parallelen nicht ganz geheuer sind, gibt er zwar selber freimutig zu: „Keine historische Analogie ist perfekt“ (No historical analogy is perfect). In Verkennung der russischen Geschichte und Gegenwart beharrt er aber dessen ungeachtet darauf, dass „Wilsons Angebot an Deutschland ein Modell dafür“ wäre, „wie Biden einflussreiche Russen davon überzeugen könnte, Putin zu stürzen“ (Wilson’s offer to Germany provides a model for how Biden might convince influential Russians to abandon Putin).

Diese „historische Analogie“ ist nicht nur nicht „perfekt“, sondern geradezu auch deplatziert:

Zum einen setzt die Analogie Russlands Niederlage im Ukrainekrieg voraus. Eine solche Niederlage ist aber weit und breit nicht zu sehen. Ganz im Gegenteil: Wenn der Ukrainekrieg so weiter geht, steht die ukrainische Souveränität und/oder ein Zerfall der Ukraine zur Disposition. Stattdessen phantasiert Bergmann am Schluss seiner Studie von der Niederlage Russlands und meint: „Die USA sollen den Russen versichern, dass sie ihr Land vor Niederlage und Niedergang bewahren und Russland eine Chance geben werden, gemeinsam mit seinen Nachbarn friedlich zu gedeihen, wenn sie den Krieg beenden, die Souveränität der Ukraine respektieren, die Spannungen mit dem Westen abbauen und Putin stürzen.“

Es ist doch verblüffend, immer wieder zu erleben, unter welch einer maßlosen Selbstüberschätzung die Repräsentanten des außenpolitischen US-Establishments leiden. Sie haben es wohl nötig, ihre Allmachtphantasien öffentlich zur Schau zu stellen, um sich stets der eigenen Machtvollkommenheit zu vergewissern.

Allein ein demographischer Vergleich zeigt, wie wahnwitzig die Vorstellung ist, die Ukraine könne in diesem Konflikt Russland – in welcher Weise auch immer – niederringen, selbst wenn der konsolidierte Westen sie mit Waffen und Finanzierung endlos „beglücken“ würde.

Wie die Studie des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) berichtet, verzeichnete die Ukraine bereits vor dem Kriegsausbruch von 1990 bis 2021 einen Bevölkerungsschwund durch Emigration, Armut, niedrige Einkommen, soziale Unsicherheit und ein schlechtes Gesundheitssystem von rund 20 Prozent.

Der Krieg 2022/23 verschlimmbesserte diese dramatische Entwicklung ohnehin drastisch. Laut UN-Angaben (Stand: 17. Juli 2023) gab es exakt 9.287 zivile Todesopfer. Die Todesopfer der ukrainischen Streitkräfte beträgt nach US-Schätzungen (Stand: November 2022) rund 100.000 Militärangehörigen, nach russischen Schätzungen (Stand: Juli 2023) ca. 250.000.

Und folgt man den Schätzungen von Robert F. Kennedy jr., dem Neffen des 35. US- Präsidenten, John F. Kennedy, der seine Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur 2024 offiziell eingereicht hat, so sieht die Lage für die ukrainische Armee geradezu katastrophal aus. Die Ukraine habe seinen Angaben zufolge seit dem Kriegsausbruch einen Verlust von ca. 350.000 Militärangehörigen zu beklagen. Hinzu kommen ca. 450.000 Verwunderten auf der ukrainischen Seite.

Allein seit der am 4. Juni 2023 begonnenen Konteroffensive hat die Ukraine laut dem Bericht „Ukrainian Forces Take Major Losses in Donetsk, Kupyansk und Krasny Liman“ (Military Watch Magazine, 24. Juli 2023) ca. 26.000 Opfer zu beklagen.  Des Weiteren berichtet Military Watch Magazine, „dass Kiew nicht nur kaum ausgebildete Wehrpflichtige an die Front befördert, sondern auch die Lebenserwartung an einigen Frontabschnitten bei nur vier Stunden liegt – vor allem in der Stadt Bachmut, wo die Bedingungen für ukrainische Einheiten weithin  als >Fleischwolf< (as a meat grinder) bezeichnet wurden.“

Nach einem solchen Gemetzel gehen der Ukraine bald die Rekruten aus. Vor diesem Hintergrund ist es kaum zu verstehen, dass Bergmann mit Verweis auf die Opferzahl der russischen Streitkräfte von „Putins Invasion“ als einer „Katastrophe für Russland“ spricht.

Wörtlich schreibt er: „Putins Invasion war nichts weniger als eine Katastrophe für Russland, mit mehr als 50.000 Toten und 150.000 Verwundeten, etwa einer Million seiner besten und klügsten Köpfe, die ins Ausland geflohen sind, einer Wirtschaft, die langsam abgewürgt wird, und einem Land, das auf der Weltbühne so isoliert ist wie seit 100 Jahren nicht mehr.“

Mit den ukrainischen Opferzahlen verglichen, relativiert sich diese russische „Katastrophe“, auch wenn die Opferzahlen auf beiden Seiten – sollten sie stimmen – zugegebenermaßen entsetzlich sind. In der Ukraine selbst seien zudem 5,5 Millionen Menschen auf der Flucht. Mehr als 8 Millionen Menschen haben sich in die EU, ca. 3,5 Millionen nach Russland abgesetzt. In den von Russland besetzten Gebiete leben schätzungsweise 5 bis 7 Millionen Menschen.

Summa summarum schrumpfte die Bevölkerung der Ukraine von ca. 54 Millionen im Jahr 1991 auf die hier und heute geschätzte Zahl von 20 bis 30 Millionen Einwohner. Schon jetzt sagt das WIIW einen nicht mehr abzuwendenden „irreversiblen demographischen Schock“ voraus.5

Allein vor dem Hintergrund dieses „demographischen Schocks“ von einer Niederlage Russlands zu träumen, ist verantwortungslos und führt die Öffentlichkeit nur in die Irre. Je länger der Krieg andauert, desto weniger stehen den ukrainischen Streitkräften neue Rekruten zur Verfügung, vom sinnlosen Gemetzel ganz zu schweigen.

Zum zweiten verkennt Bergmann die russische Herrschaftstradition, wenn er an die imaginären „einflussreichen Russen“ appelliert, „Putin zu stürzen“ (oust Putin). Dienen Bergmann für seine Überlegungen womöglich die 1990er-Jahre als Blaupause, in denen das Moskauer Machtzentrum von den sog. „Oligarchen“ domestiziert wurde? Das waren Chaosjahre, die eine absolute Anomalie in der russischen Geschichte darstellen, der Übergangszeit geschuldet und nicht ohne weiteres wiederholbar sind. Bis heute sind die Folgen des Transformationsprozesses der 1990er-Jahre, welche eine Verelendung breiter Bevölkerungsmassen, Deindusrialisierung, ein ökonomischer Niedergang des Landes und außenpolitische Bedeutungslosigkeit mit sich brachten, nicht ganz überwunden.

Zum dritten herrscht heute in den russischen Macht- und Funktionseliten eine derart antiwestliche Stimmung, dass jedwede Appelle an die „einflussreichen Russen“, Putin zu stürzen, ins Leere laufen würden. Hinzu kommt ein tiefes Misstrauen der russischen Führungseliten zu allen Versprechungen und Versicherungen des Westens, zu sehr fühlen sie sich vom Westen – zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt – in den vergangenen drei Jahrzehnten seit dem Untergang der Sowjetunion „belogen“ und „betrogen“.

Bedenkenlos übernimmt Bergmann auch die seit dem Kriegsausbruch mantraartig wiederholten Schutzbehauptungen der transatlantischen Machteliten: „Putin startete seine unprovozierte und brutale Invasion in der Ukraine. Er hat den westlichen Führern gezeigt, dass man ihm nicht trauen kann und dass er daher keinen dauerhaften Frieden herbeiführen kann. Er hat jegliche Glaubwürdigkeit verloren.“

Eine derartige Argumentation stößt in Russland auf völliges Unverständnis und macht die russische Führung erst recht kompromisslos. Man kann solchen „Russlandexperten“ nur raten, die Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen seit dem Ende des „Kalten Krieges“ genauer zu studieren, bevor sie sich zu derartigen Auslassungen hinreißen lassen.

Einer solchen „Russlandexpertise“ mangelt es nicht nur an Kenntnissen der russischen Gegenwart. Sie führt auch die US-Russlandpolitik in eine Sackgasse, weil sie eine weitere Verhärtung der russisch-amerikanischen Beziehungen bedeutet und eine nicht enden wollende Eskalation des Konflikts mit unabsehbaren Folgen für den Weltfrieden schürt.

3. Der „Hardliner-Nationalismus“-Vorwurf und Russlands Herrschaftstradition

In Verkennung der russischen Geschichte und Gegenwart versteift sich Bergmann auf regelrechte Verschwörungstheorien. Vor dem Hintergrund der kurzlebigen, sechsunddreißig Stunden andauernden Meuterei der Wagner-Gruppe schreibt er: „Putin hat ein Machtsystem (system of power) geschaffen, das sich um ihn dreht. Das bedeutet, dass – falls er geht – auch der Zugang der Eliten zur Macht und damit möglicherweise ihr finanzielles Wohlergehen verschwinden. Prigožin hätte eine gewisse Kontinuität mit Putin verkörpern können, da er ein weiterer nationalistischer Hardliner (nationalist hard-liner) ist, der sich für die Kriegsführung einsetzt. Aber wenn er die Macht übernommen hätte, hätte das zur Unruhe an Putins Hof geführt. Angesichts des Kontrollverlusts Putins (Putin’s loss of control) denken die Eliten im russischen System (in the Russian system) wahrscheinlich über einen Plan B nach. Russland eine hoffnungsvollere und wohlhabendere Zukunft zu bieten, wäre eine Alternative zum endlosen Krieg (alternative to endless war) und zum Hardliner-Nationalismus (hard-line nationalism). Die Unzufriedenen im Zentrum der Macht könnten bereit sein, diese Alternative zu verfolgen. Bis dato haben sie es freilich nicht gewagt, offensiv zu werden, obschon Prigožin fast nach Moskau gekommen wäre.“

Diese die russische Gegenwart karikierende Verschwörungstheorie zeigt, wie wenig die US-Russlandexperten, deren prominenter Vertreter Bergmann ist, die russische Verfassungsgeschichte und die russische Herrschaftstradition kennen. Neuerlich vertrat ein anderer „Experte“ aus Great Britain, Lawrence Freedman, in der gleichen Zeitschrift Foreign Affairs am 25. Juli 2023 unter einer bezeichnenden Überschrift „Putin Is Running Out of Options in Ukraine“ eine ähnliche Auffassung.

Es ist seit Jahren ein und dasselbe Phänomen zu beobachten, dass die transatlantischen Expertenkreise am liebsten Selbstgespräche unter Gleichgesinnten führen. In einer selbstgeschaffenen medialen Blase befindend, werden sie dadurch unvermeidlich Opfer ihrer eigenen Propaganda.

Russland war in seiner jahrhundertelangen Geschichte weder ein Nationalstaat noch entsprechen Militärputsche dem Selbstverständnis der russischen Herrschaftstradition. Putin erleidet heute weder einen „Kontrollverlust“ noch haben die russischen Machteliten vor, „Putin zu stürzen“.

Vielmehr hat sich Putin in den vergangenen zwei Jahrzehnten als „Herrscher ganz Russlands“ (государь всея Руси) etabliert und kann darum per definitionem kein „nationalist hard-liner“ sein. Dieses von Bergmann errichtete Phantasiegebäude ist das, was die transatlantischen Eliten in Russland sehen wollen, weil sie von der durchaus plausiblen, nicht desto weniger aber realitätsfernen These ausgehen: Putins Sturz führe automatisch zum Zusammenbruch eines „Machtsystems, das sich um ihn dreht“.

Hier werden Ursache und Wirkung verwechselt. „Alles“ dreht sich um Putin, nicht weil er – modern gesprochen – „ein Machtsystem“ (system of power) nach eigenem Gusto geschaffen hat, sondern weil es ihm gelungen ist, die russische Herrschaftstradition wiederherzustellen. Nur wenn diese Herrschaftstradition – von wem auch immer – destruiert wird, erst dann steht das sog. „Machtsystem“ zur Disposition.

Russland kennt bis heute weder „die russische Nation“ noch „den russischen Nationalstaat“; es ist überhaupt kein „Staat“ (status) im Sinne der „Idee des souveränen Staates.“6 Russland ist heute auch kein Herrscherraum im Sinne des russischen Begriffs „gosudarstvo“7, sondern eine zentralgesteuerte Raummacht, wobei die zentrale Raumsteuerung bzw. Raumbeherrschung für das russische Staatsverständnis conditio sine qua non ist.

Ohne die Zentralsteuerung des Raumes büßt Russland als Raummacht nicht nur an seiner Funktionsfähigkeit ein, sondern auch an seiner Legitimationskraft, weil diese Legitimation eine raumhafte, d. h. an Raumbeherrschung und -steuerung gebundene Legitimation ist. Zerfällt der russische Machtraum, dann verliert auch das Zentrum seine Legitimität als Raummacht und dadurch seine raumhafte Funktionsfähigkeit.

Der Machtbesitz geht in Russland traditionell der Machtlegitimation voraus, soll heißen: Macht legitimiert sich selbst, vorausgesetzt, dass sie sich durchsetzt bzw. durchsetzen kann. Als Legitimationsprinzip hat Nation in Russland keine Rolle gespielt und wird voraussichtlich bis auf weiteres auch keine Rolle spielen.

Darum stellte Gerhard Simon durchaus zutreffend und zugleich vorwurfsvoll fest: „Das Nationalbewusstsein war stets auf den Staat, das Territorium bezogen und erst in zweiter Linie auf das russische Ethnos, die Nation … Die Russen sind vielfach nicht bereit, sich als eine Nation unter anderen zu begreifen und ihren Staat als einen normalen Staat im Gefüge der eurasischen Staatenwelt. Die imperiale Mentalität weigert sich, Ethnos und Nation als selbständige politische Faktoren anzuerkennen.“8

Es ist deswegen durch und durch nachvollziehbar, wenn die transatlantischen Eliten – allen voran das US-Establishment – darauf hinarbeiten, entweder die Zentralsteuerung des russischen Machtraumes zu delegitimieren oder die russische Raummacht axiologisch von innen zu sprengen.

Würde der russische Machtraum dezentralisiert bzw. werden die vom Zentrum unabhängig agierenden Raumstrukturen de jure und/oder de facto implementiert oder infolge axiologischer Subversionen die sog. „westlichen Werte“ etabliert, dann wird zum einen die axiologische Souveränität des russischen Machtraumes implodieren und zum anderen werden zentrifugale Kräfte freigesetzt, welche die zentralgesteuerte Raummacht unter sich begraben.

In der russischen „politischen Kultur spielen Führungspersönlichkeiten die zentrale, Institutionen dagegen eine periphere Rolle. Im Zentrum der Macht stand stets eine Person“, wiederholt Simon eine weit verbreitete Auffassung.9 Freilich: Nicht nur „im Zentrum der Macht stand stets eine Person“. Diese Person ist auch das Zentrum der (Raum)Macht.

Als Raummacht sieht die russische Führung im russischen Nationalismus traditionell und tendenziell eine Bedrohung für das Bestehen des gesamten Machtraumes und folgerichtig der russischen Staatlichkeit, weil die Raummacht ihrem Selbstverständnis nach nicht nur übernational, sondern auch antinational ist. Die russische Herrschaftstradition definiert sich darum weder durch einen russischen Nationalismus noch durch den sog. „Hardliner-Nationalismus“ (hard-line nationalism), wie Bergmann beteuert.

Der raumbezogene Identitätscharakter des russischen Machtdenkens und nicht der brachiale Ethnonationalismus, der gerade in der von den transatlantischen Machteliten unterstützten Ukraine tobt, prägt die russische Außen- und Geopolitik. Orientiert sich Russland geopolitisch primär an der Sicherung und Beherrschung des eigenen Machtraumes, so ist das völkerrechtliche Postulat der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten von überragender Bedeutung für die russische Außenpolitik.

Darum lehnt sie kategorisch eine potenzielle Bedrohung von außen ebenso wie jeder Einmischung der raumfremden Mächte in die inneren Angelegenheiten des eigenen Machtraumes ab und reagiert allergisch auf westliche Belehrungen aller Art.

Ist die Missionierung der „westlichen Werte“ längst zur Selbstermächtigung der US-Expansions- und Interventionspolitik geworden, so bleibt die raumbezogene Identität der russischen Außenpolitik prinzipiell und tendenziell ideologisch unbelastet.

Der immer wieder geäußerte Vorwurf an die Adresse des Kremls, dieser betreibe eine aggressive, expansive und neuerdings neoimperiale Außenpolitik, ist in den Bereich der geopolitisch motivierten Mythen verwiesen und allein der Verschleierung der eigenen US- bzw. Nato-Expansionspolitik geschuldet.

Gerade die raumbezogene Identität des russischen Machtdenkens und das daraus resultierende absolute Souveränitätsverständnis weisen darauf hin, dass es einerseits innenraumbezogen und nicht raumüberwindend ist und andererseits im Wesentlichen darauf abzielt, den Innenraum der Macht von äußeren Einwirkungen abzuschirmen, damit die inneren Ordnungsgefüge beherrschbar sind bzw. aufrechterhalten werden können. Sie vermeiden vor allem das Abgleiten der russischen Außenpolitik in eine nicht mehr zeitgemäße ideologische Konfrontation.

Man könnte dieses raumbezogene Identitätsdenken auf eine kurze Formel bringen: Geopolitik priorisiert traditionell die Außenpolitik und die zentralgesteuerte Raumbeherrschung überragt selbst die praktische und ökonomische Vernunft.

Die russische Staatlichkeit definiert sich somit über Raum, nicht über Personen; über Raumhoheit, nicht über Personalhoheit. Das ist im Übrigen keine Besonderheit der russischen Verfassungsgeschichte. Große Teile Westeuropas waren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein ebenfalls von Staaten dominiert, „deren Grenzen mit den ethnographischen Grenzen nichts zu tun haben.“10

Der Ethnonationalismus war also nie eine Legitimationsgrundlage der russischen Herrschaftstradition und so ist es auch bis heute geblieben. Bergmanns Versuch, den Kriegsgrund auf Putins „Hardliner-Nationalismus“ zurückzuführen, entbehrt nicht nur jeder verfassungshistorischen Grundlage, sondern verschleiert auch die wahren, geo- und sicherheitspolitischen Ursachen des Konflikts, die im Wesentlichen auf die Nato- bzw. US-Expansionspolitik zurückzuführen sind, und verkennt dadurch, wie gefährlich seine geopolitische Realität ausblendenden Träume sind.

Anmerkungen

1. Türcke, Ch., Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft. Frankfurt 1989, 52.
2. Türcke (wie Anm. 1), 50.
3. Türcke (wie Anm. 1), 52.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Sandkastenspiele in den deutschen „Denkfabriken“. Zur Frage nach der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.18 Juli 2023. www.ontopraxiologie.de.
5. Zitiert nach „Ein irreversibler demographischer Schock”, german-foreign-policy.com. 25.07.2023.
6. Stolleis, M., Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehen und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. Berlin 1996, 63-101.
7. Zum Begriff „gosudarstvo“ siehe Silnizki, M., Art. „Staat“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. J. Ritter u. K. Gründer. Basel 1997, 50-53.
8. Simon, G., Zukunft aus der Vergangenheit. Elemente der politischen Kultur in Russland, in: BIOst 10 (1995),
9. Simon (wie Anm. 8), 25.
10. Laun, R., Der Wandel der Ideen Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens. Barcelona 1933, 169.

Nach oben scrollen