Verlag OntoPrax Berlin

„Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“?

Im Zangengriff zwischen „Sendungsideologie“ und Machtpolitik

Übersicht

1. „Bereit zum Krieg“?
2. Messianisches Sendungsbewusstsein als Triebfeder der Weltpolitik
3. „Ungeteilte Sicherheit“ versus Expansionspolitik

Anmerkungen

„Verteidigung vor Russland oder Sicherheit mit Russland –
das wird die Alternative.“
(Egon Bahr, 1994)

1. „Bereit zum Krieg“?

1986 gaben Jost Dülffer und Karl Holl einen Sammelband unter dem Titel „Bereit zum Krieg“ heraus, in dem elf Autoren die Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890-1914 untersucht und analysiert haben. „Kriege brechen selten über Nacht herein“ resümiert Karl Holl (1931-2017) gleich im ersten Satz seines Vorworts zum herausgegebenen Band und stellt sodann fest: „Der schließlich eintretende Beginn des Krieges – der >Kriegsausbruch< – stellt sich in der rückschauenden Analyse als Ergebnis eines komplizierten Prozesses dar, an welchem Mentalitäten, das heißt weniger flüchtige Stimmungen als vielmehr lang angelegte und gefestigte affektive Dispositionen nationaler Gesellschaften in wesentlichem Ausmaß beteiligt sind.“1

Der Mitherausgeber des Sammelbandes, Jost Dülffer (geb. 1943), pflichtete ihm bei, als er die Kriegsmentalität vor allem in dem lang angelegten und gefestigten „radikalen“ und „aggressiven Nationalismus“ erblickte.2

Vor dem Hintergrund des seit gut zwei Jahren tobenden Ukrainekrieges, an dem Deutschland und Europa zwar nicht unmittelbar, wohl aber indirekt beteiligt sind, ist eine zunehmende Radikalisierung des öffentlichen Diskurses und eine besorgniserregende Militarisierung der deutschen und europäischen Außenpolitik feststellbar, die sich überwiegend von der Logik des Krieges leiten lässt.

Dieser Logik des Krieges liegt freilich nicht mehr der „radikale“ und „aggressive Nationalismus“ des wilhelminischen Deutschlands, sondern eine radikale und aggressive Ideologie des „militanten Humanismus“ (Noam Chomsky)3 zugrunde, wobei der Akzent hier auf der Militanz und nicht auf dem Humanismus liegt.

Denn hinter dieser Ideologie des „militanten Humanismus“ verbirgt sich nicht so sehr Humanität, als vielmehr das Bestreben des Westens unter der Führung des US-Hegemonen Russlands Aufbegehren gegen die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts entstandene Friedens- und Sicherheitsordnung in Europa militärisch abzustrafen. Gut zwei Jahre nach dem Kriegsausbruch kann der Westen offenbar immer noch nicht fassen, dass sich Russland mit seiner Ukraine-Invasion „erdreiste“, die US-Ordnungsmacht in Europa herauszufordern und die von der Nato durchgesetzte Sicherheitsordnung in Frage zu stellen.

Dass der Grund für diesen Krieg an der Peripherie Europas letztendlich in der seit dreißig Jahren andauernden Nato-Expansionspolitik liegt, weigert sich der Westen zu akzeptieren und tut das als russische „Kriegspropaganda“ ab. Dass der Krieg selber dadurch vorprogrammiert war,4 will er gar nicht wahrhaben und wirft Russland lieber laut stark „Neoimperialismus“, „Revisionismus“ und „Aggression“ vor.

Diejenigen, die dreißig Jahre lang aus Machtarroganz und Selbstüberschätzung ein „stabilisiertes Gleichgewicht“, wie Helmut Schmidt es einst nannte, konsequent zerstörten, beklagen jetzt nun die Zerstörung des von ihnen geschaffenen Machtungleichgewichts5, das Russland mit seinem Ukraine-Feldzug zu beseitigen versucht.

Damit die Auseinandersetzung „nicht in die Form eines Krieges übergeht“, schrieb Schmidt 1965, „ist ein ständig neu stabilisiertes Gleichgewicht der in Europa wirksamen militärischen Kräfte notwendig. Wir müssen versuchen, im Frieden unsere Kräfte so zu bemessen und sie dergestalt gegen die Kräfte der anderen auszutarieren, dass es nicht zum Kriege kommt.“6

Von diesem weisen Ratschlag will der Westen heute nichts mehr wissen. Im Siegesrausch über den Systemrivalen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts hat er längst diese Grundregel des „Kalten Krieges“ vergessen. Vielmehr überzieht er Russland mit Hasstiraden und Verunglimpfungen und droht ihm gar eine „strategische Niederlage“ zuzufügen.

Wie sehr der Westen sich dabei verrannt hat, zeigt der Kontrast zum strategischen Denken, das der britische Militärstratege, Liddell Hart (1895-1970), lehrte: „Treibe nie einen Gegner in die Ecke, sondern hilf ihm stets, das Gesicht zu wahren. Versetze dich in seine Lage, und betrachte die Dinge durch seine Brille … Bewahre dich vor zwei gleicherweise tödlichen Wahnvorstellungen: der Idee des Sieges und der Idee, ein Krieg könne nicht begrenzt sein.“7

Dass wir längst verlernt haben, uns in die Lage des Gegners zu versetzen und „die Dinge durch seine Brille“ zu betrachten, ist hinlänglich bekannt. Zu übermächtig fühlen wir uns; zu überheblich und selbstüberschätzend sind wir seit dem Ende des Ost-West-Konflikts geworden. Zu selbstgefällig verweilen wir im trügerischen Glauben, dass keiner uns etwas anhaben kann.

Und so sind wir immer noch fest von der „tödlichen Wahnvorstellung“ besessen, Russland auf dem Schlachtfeld besiegen zu können. Sie treibt uns zur maßlosen Unterschätzung der Gefahren, die unsere Fehleinschätzung der militärischen und wirtschaftlichen Kraft des Gegners mit sich bringen. Diese gefährliche Fehleinschätzung resultiert wiederum aus unserer Überschätzung der eigenen Abschreckungswirkung und Verteidigungsfähigkeit der gegenwärtigen Nato.

Denn die Frage bleibt offen, ob wir heute mental und militärisch überhaupt in der Lage und bereit sind, einen Krieg gegen Russland führen zu können. Und sind wir uns wirklich über die Tragweite einer immer weiterdrehenden Eskalationsspirale im Klaren? Wer nicht begreifen will, dass die endlosen Drohungen an die Adresse Russland zu Ende gedacht in einem großen europäischen Krieg enden können, der will die Vernichtung und Auslöschung Europas.

Zu einem Austarieren eines neuen Machtgleichgewichts in Europa gibt es deswegen gar keine Alternative. Und je schneller wir das begreifen, umso besser ist es für Europa und die ganze Welt. Das setzt aber zuallererst einen strategischen und nicht nur einen taktischen Selbstverzicht der Nato auf ihre weitere Expansionspolitik voraus, es sei denn, wir sind zu einer Ausweitung des Krieges in Europa über die ukrainischen Grenzen hinaus bereit.

Die seit McNamara ins Spiel gebrachte Strategie der „kontrollierten Eskalation“, die die Biden-Administration heute mit dem sog. „hybriden Krieg“ bzw. „Proxy-Krieg“ zu realisieren versucht, verhindert keineswegs eine mögliche Ausweitung des Krieges auf ganz Europa.

Wenn eine Eskalations-, Abschreckungs- oder wie auch immer geartete Verteidigungsstrategie den Sinn haben soll, uns ein möglichst hohes Maß an Sicherheit zu geben, so darf diese Politik die Fähigkeiten des eigenen Macht- und Drohpotenzials nicht überschätzen und die des Rivalen nicht unterschätzen.

2. Messianisches Sendungsbewusstsein als Triebfeder der Weltpolitik

Warum können oder wollen wir uns nicht in die Lage des Gegners versetzen, um „die Dinge“ durch seine Brille betrachten zu können? Und warum sind wir nicht einmal bereit und gewillt, ihm zuzuhören und seine Argumente ernst zu nehmen? Um diese Fragen nur annährend beantworten zu können, müssen wir weit, sehr weit in die Vergangenheit zurückgehen.

Der europäische Teil des sog. „Westens“ (die Europäische Union (EU) und ihre Nato-Mitglieder) ist bei näherem Hinsehen ein Zusammenschluss der ehemaligen Kolonial- und Großmächte, sieht man von der armen Verwandtschaft aus Ostmitteleuropa ab, die nach der Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Pakts hinzugekommen ist.

Die besten Zeiten der europäischen Kolonial- und Großmächte (Spanien, Portugal, Holland, Belgien, Italien, Frankreich, Deutschland und nicht zuletzt Großbritannien) sind zwar längst vorbei. Auch die zurzeit des „europäischen Imperialismus“ vorgenommene Unterteilung der Völker in die „zivilisierten“, „halbzivilisierten“ und „unzivilisierten“ bzw. in „Herrenrasse“ und „Untertanenrasse“ nimmt heute keiner allein schon aus Gründen der „Political Correctness“ vor.

Geblieben ist aber nach wie vor unsere Mentalität des Herrenmenschentums, die uns bewusst oder unbewusst zur Überzeugung verleitet, dass die völkerrechtliche Deutungshoheit und die Schaffung neuer Spielregeln der internationalen Beziehungen allein und ausschließlich aus den Ordnungs- und Wertvorstellungen der zivilisierten „Gemeinschaft wohlgeordneter Völker“ des Westens hervorgehen sollten, der allein befugt sei, die „Herrschaft über Untertanenrassen“ (Lord Cromer) auszuüben.

Oder in der Terminologie der amerikanischen Neocons formuliert: Die unzivilisierten „Rogue States“ benötigen Zwangsmaßnahmen seitens der „liberalen Demokratien“ zur Durchsetzung der von ihnen festgelegten universalen Standards.

Wilhelm G. Grewe (1911-2000) teilte in seinem Standardwerk „Epochen der Völkerrechtsgeschichte“ die Neuzeit in drei Hegemonialsysteme ein, in denen eine europäische Großmacht einen dominierenden Einfluss ausübte. Ein „spanisches Zeitalter“ setzte er mit der Epoche von der Entdeckung Amerikas bis zum Westfälischen Friedens an (1492-1648). Dem folgte ein anderthalb Jahrhunderte dauerndes „französisches Zeitalter“, das mit dem Wiener Kongress (1815) enden sollte. Von 1815 bis 1919 fand schließlich ein „englisches Jahrhundert“ statt.

Mit einer Zuordnung des 20. Jahrhunderts tat er sich freilich schwer, charakterisierte er doch dessen zweite Hälfte konventionell als ein „bipolares Weltsystem der Supermächte“, wollte sich aber zugleich den Ausruf des 20. Jahrhunderts zum „amerikanischen Jahrhundert“ vom US-Verleger Henry Luce (1898-1967) 1941 nicht zu eigen machen.8

Folgt man nun dieser Betrachtung der Weltgeschichte allein aus der Perspektive der europäischen bzw. westlichen Kolonisierung und Beherrschung der Welt, so könnte man die vorgenommene Einteilung der drei Epochen um eine weitere, vierte ergänzen, die freilich von kurzer Dauer war und gerademal dreißig Jahre (1991-2021) dauerte: die unipolare Weltordnung unter der Führung des US-Hegemonen.

Mit dem nahenden Ende der Unipolarität schließt sich nunmehr auch eine gut fünfhundert Jahre andauernde Geschichte der europäischen bzw. westlichen Weltdominanz ab.

Und diese dramatische, ja epochale Zäsur der Weltgeschichte macht insbesondere die USA so nervös und die Welt so gefährlich und kriegsgefährdend. Denn der US-Hegemon wird seine weltweite Machtstellung nicht ohne weiteres widerstandslos aufgeben. Ganz im Gegenteil: Er ist im Zweifel zum Krieg bereit und willig, falls er geopolitisch und geoökonomisch keine andere Möglichkeit sehen würde, sein jahrzehntelang praktiziertes „Geschäftsmodell“9 aufrechtzuerhalten.

Uns interessiert hier indessen weniger die stattfindenden tektonischen Machverschiebungen in der Welt- und Geopolitik als vielmehr die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Westens die geo- und sicherheitspolitische Realität durch die Brille des Gegners betrachten zu können. Das hat vor allem mit ideologisch verklärtem Sendungsbewusstsein zu tun, das selbst alle Epochen der europäischen und Weltgeschichte überdauerte.

Ungeachtet eines seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine geradezu beschleunigten Erosionsprozesses der unipolaren Weltordnung hält der Westen unbeirrt am missionarischen Geltungsanspruch seiner Wert- und Ordnungsvorstellungen fest. Je mehr er an geopolitischer und geoökonomischer Gestaltungskraft verliert, umso intensiver und aggressiver propagiert er seine „Sendungsideologie“ (Heinz Gollwitzer)10 und umso verbissener versucht er die religiös anmutende Missionierung der sog. „westlichen Werte“ notfalls mit militärischer Gewalt durchzusetzen.

Das hat eine lange, auf die Vorstellung von der hierarchisch verfassten Ordnung des Mittelalters zurückgehende Tradition der christlich geprägten Missionierung der Welt. Dieser hierarchischen Welt entsprechend gewinnt das Kirchenoberhaupt die allumfassende Autorität, sodass das Papsttum in diesem Weltentwurf universelle Geltung erlangt und zum Weltmonarchen wird.

„Diese einheitlich christlich-romanisch-germanische Welt unter dem päpstlichen Oberhaupt trägt den Missionsgedanken in sich.“ Mit der Mission ist aber gleichzeitig die Eroberung der fremden Länder und die Unterwerfung ihrer Bevölkerung unter die Herrschaft des christlich geprägten Europas verbunden. Die Missionierung muss daher „zur Einordnung in das kirchliche und das politische System des Abendlandes führen, denn ein Heide kann, so wird vielfach gelehrt, kein Eigentum besitzen, keine Herrschaft ausüben. >Nullus est dominus civilis, dum est in peccato mortali<.“11

Diese Kolonialisierung der Welt wurde, anders formuliert, von Anfang an vom Sendungsbewusstsein, dem ein untrennbares und aufeinander gekoppeltes Zusammenwirken von Religion und Politik bzw. Ideologie und Macht zugrunde liegt, geprägt und begleitet. Entfällt eine der beiden Komponente bricht das gesamte koloniale Machtgebäude in sich zusammen.

Denn in den europäischen Kolonien herrschte ungeachtet der Propagierung der christlichen Nächstenliebe die exzessive Machtausübung, die christlich verklärt, aber nicht rechtlich fundiert war. Dass jenseits von Europa Macht vor Recht ging und Machtexzesse der europäischen Kolonialmächte im außereuropäischen Raum vorherrschten,12 ist ein historisches Faktum, das bis heute nachwirkt.

Die Welt, soweit sie für die Europäer erschlossen war, teilte sich seit den Zeiten des europäischen Kolonialismus und Imperialismus „in eine Zone der Verträge, der Rechtsordnung, des möglichen Friedens, und in eine andere des ewigen Krieges, des Kampfes aller gegen alle.“ Und so vollzog die europäische Staatenwelt eine scharfe Trennlinie „zwischen der Rechtssphäre des europäischen Staatensystems und der freien Macht- und Gewaltsphäre von Kampf, Beute und ungehemmter Ausdehnung und Eroberung in der überseeischen Welt.“13

Bis heute ist der Westen auf subtile Weise in diesen Denkmustern und Wertvorstellungen gefangen und eine solche Geistes- und Grundhaltung kommt gelegentlich ungewollt auch auf der politischen Oberfläche zum Vorschein.

So äußerte sich der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, im Oktober 2022 in einer Ansprache vor Jungdiplomaten, ohne sich offenbar dessen bewusst zu sein, dahingehend, dass „Europa ein Garten“, der Rest der Welt aber „der Dschungel“ sei.

Keine Mauer der Welt könne laut Borrell den europäischen wohlgeordneten Garten vor der Invasion des „Dschungels“ schützen. „Denn der Dschungel hat eine starke Wachstumskapazität, und die Mauer wird nie hoch genug sein, um den Garten zu schützen.“

Die „weiße Rasse“ sei bedroht und sie müsse sich vor der Invasion der „halbzivilisierten“ und „unzivilisierten“ Völker zu verteidigen wissen. Wir müssen zum Krieg bereit sein, will er uns damit sagen, als hätte der Westen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren nur friedliche Absichten gegenüber dem „Dschungel“ und keine Interventionen und Invasionen gegen eben diesen „Dschungel“ geführt.

Der Dekolonisierungsprozess nach 1945 fand zwar formalrechtlich statt, auch wenn die erheblichen Unterschiede zwischen Frankreich und Großbritannien nicht zu übersehen waren. „Auf den ersten Blick gelang letzteren mit der transfer of power in Indien 1947eine scheinbar unblutige Transition …, während sich im Blick auf Frankreich die desaströsen Erfahrungen in Indochina und Algerien aufdrängen,“ schreibt Jörg Leonhard in seiner umfangreichen Studie.14

Leonhard verklärt aber in Anlehnung an die in Großbritannien Anfang des 21. Jahrhunderts geführte Debatte um das Erbe der Empires „die historischen Leistungen des britischen Empire als Maßstab für ein Liberal Empire15 und unterschlägt dabei die grausame Kehrseite des britischen Kolonialismus.

Wie grausam und erbarmungslos dieses „Liberal Empire“ war, hat uns kein geringere als Franklin D. Roosevelt bezeugt. Auf der Rückfahrt nach Amerika von der Konferenz in Casablanca Anfang 1943 besuchte er die britische Kolonie Gambia an der Westküste Afrikas und sein Entsetzen kannte keine Grenzen. In einem Brief an Churchill äußerte er sich voller Entrüstung über die Zustände, die er in Gambia vorgefunden hat, und bezeichnete das Land als ein „Höllenloch“ (hell-hole).

Ein Jahr später kam Roosevelt in einer Pressekonferenz erneut auf Gambia zurück und wiederholte seine Empörung. Es gebe dort „etwa drei Millionen Einwohner, davon 150 Weiße. Es sei das Schlimmste, was er je gesehen habe. Die Eingeborenen seien fünftausend Jahre in ihrer Entwicklung zurück. Der Grund dafür liege auf der Hand: Für jeden Dollar, den die Briten in das Land gesteckt hätten, hätten sie zehn herausgeholt: >It´s just plain explotation of those people<.“16

Diese einsame Stimme eines Moralisten blieb freilich wie das Pfeifen im Walde ungehört. Denn auch der US-amerikanische Imperialismus hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Churchills Reaktion ist nicht überliefert. Er hätte vermutlich Roosevelts Empörung gar nicht verstanden, sah er doch in der Kolonisation in erster Linie „eine Kulturtat und interpretierte analog dem Gedankengut Rudyard Kiplings den Imperialismus als >white man´s burden<, das zu tragen eine moralische Verpflichtung vor Gott und der Menschheit darstelle.“17

Diese kolonial und imperial anmutende „Sendungsideologie“ ist bei den EU-europäischen Machteliten unterschwellig bis dato voll intakt, wie die oben zitierte Äußerung von Josep Borrell auch deutlich macht. Wenn man dazu noch die „Verflechtungen zwischen den europäischen Kolonialmächten Großbritannien und Frankreich sowie den USA“, die sich „bereits im Kontext des Ersten Weltkrieges“ abzeichneten,18 in Erinnerung ruft, so wird noch deutlicher, wie sehr der gesamte Westen immer noch vom Geiste des Herrenmenschentums ergriffen und besessen ist.

3. „Ungeteilte Sicherheit“ versus Expansionspolitik

Erst vor diesem kolonialgeschichtlichen Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass die westlichen, sprich: transatlantischen Machteliten die ehemals kolonisierte nichtwestliche Welt nicht neben sich als gleichwertig, gleichrangig und gleichberechtigt gelten lassen. Deshalb gibt es ja überhaupt keinen Raum für irgendein Betrachten „der Dinge“ durch „die Brille“ der „halb“- und „unzivilisierten“ Völker und Kulturen.

Der Missionsgedanke der europäischen Kolonialmächte, in deren Fußstapfen heute der sog. „Westen“ getreten ist, blieb „bei aller Unzulänglichkeit ihrer Praxis der Idee nach universal und auf die Gewinnung der gesamten Menschheit hin orientiert. Wenn die Mission … im Allgemeinen auch nur in Anlehnung an die Weltpolitik der Kolonialmächte betrieben werden konnte, so trat doch in einigen Fällen der latente Widerspruch zwischen ihr als einer selbstständigen, kirchlichen und religiösen Größe und einer sie oft missbrauchenden, jedenfalls stets kontrollierenden und regulierenden Machtpolitik zutage.“19

Das ist auch heute noch so. Heute beobachten wir seit dem Ende des Ost-West-Konflikts einen eklatanten Widerspruch zwischen einer „Missionierung“ bzw. Propagierung der „universal“ postulierten „westlichen Werte“ und der stets brachial praktizierten, auf Anwendung der militärischen Gewalt angelegten westlichen bzw. US-Außenpolitik.

Und diese Militarisierung der Außenpolitik hat drei Gründe – den Untergang des Systemrivalen des „Kalten Krieges“, die Herausbildung der Macht-Dysbalance in Europa20 und den Aufstieg der USA zur gesamteuropäischen Hegemonial- und Ordnungsmacht -, die die Nato-Expansionspolitik auslösten.

Bereits 1997 verwies Andreas Buro (1928-2016) „auf den großen Funktionswandel des westlichen Militärbündnisses – die „Umstellung von der alten >Abschreckungs-Nato< zu der neuen >out-of-area-Nato<“. „Gegenüber der >Schild-Funktion< gewinnt die >Schwert-Aufgabe< nun eine ganze neue Qualität“, stellte Buro vorausschauend fest und fügte gleich hinzu: „Die reichen Industriestaaten unter Führung der USA organisieren ein weltweites militärisches Eingreifsystem. Darin übernimmt die Nato die Zuständigkeit vom Atlantik bis weit nach Afrika, Nahost und Asien.“21

Die Aufbruchstimmung der 1990er-Jahre, die nicht zuletzt von der Rede George Bushs Senior über „Neue Weltordnung“ am 11.09.1990 ausgelöst wurde, hat der Westen mit seinem „military Humanism“ verspielt. Vor diesem Hintergrund konnte von einer Rückkehr zum europäischen Gleichgewichtssystem des langen 19. Jahrhunderts gar keine Rede sein.

Die von Bush ausgerufene „Neue Weltordnung“ wäre aber nur vorstellbar, wenn tatsächlich so etwas wie ein Mächtegleichgewicht in Europa entstehen könnte. Seit dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) funktionierte ein solches Gleichgewichtssystem etwa nach folgenden Grundregeln: Jede der Großmächte versuchte „1. einen eigenen Machtzuwachs anzustreben, aber lieber zu verhandeln als zu kämpfen, 2. lieber zu kämpfen, als sich Machtzuwachs entgehen zu lassen, 3. lieber aufzuhören zu kämpfen, als einen anderen Großstaat zu vernichten, 4. jedem hegemonialen Einzelstaat durch Koalitionen entgegenzutreten, 5. besiegten Großmächten die Wiederaufnahme in das System zu gestatten, 6. alle anderen Großmächte als mögliche Bündnispartner zu betrachten.“22

Das sind im Grunde genommen die Grundregeln einer „ungeteilten Sicherheit“, die Egon Bahr (1922-2015) bereits Anfang der 1990er-Jahre propagierte und in seinem Vortrag „Ungeteilte Sicherheit für Europa“ vor der Batory-Foundation in Warschau am 25. Juni 1994 formulierte.

„Sicherheitsfragen sind Machtfragen. Sie bleiben auch am Ende des Jahrhunderts zentral. Deshalb stelle ich sie an den Anfang. Und deshalb steht Russland am Anfang, wenn von einer neuen Ostpolitik die Rede sein soll,“ sagte Bahr in seinem Vortrag und fügte prophetisch hinzu: „Der Zerfall der Sowjetunion hat dieses Land in Grenzen gelassen, in denen es während seiner tausendjährigen Geschichte noch nie existiert hat, mit mehr als 25 Millionen Russen außerhalb seiner Grenzen. … Sofern die Geschichte weitergeht wie bisher, ist voraussehbar, dass die russischen Grenzen nicht bleiben werden, wo sie heute sind. Eine solche Prophezeiung ist … risikolos, … weil nicht damit zu rechnen ist, dass Russland so schwach bleiben wird, wie es ist. … Der Kern der europäischen Stabilität ist also weniger die Frage des Verhältnisses Russlands zur Nato, sondern die gesicherte Stabilität der russischen Grenzen. Die garantierte Stabilität der russischen Grenzen ist die beste Sicherheitsgarantie für alle Staaten zwischen Nato und Russland. Verteidigung vor Russland oder Sicherheit mit Russland – das wird die Alternative.“

Hätte der Westen unter Führung des US-Hegemonen diesem weisen Mann mehr Gehör geschenkt und seine Prophezeiung ernstgenommen, dann hätte er sich die o. g. sechs Grundregeln der Sicherheitspolitik zu eigen gemacht, dann wäre Europa heute friedlicher und sicherer.

Die Clinton-Administration hat sich hingegen für die „Verteidigung vor Russland“ und gegen die „Sicherheit mit Russland“ entschieden.23 Diese Entscheidung bedeutete letztlich eine Entscheidung gegen die „ungeteilte Sicherheit“ und für die Nato-Expansionspolitik.24

Der Westen blieb seiner traditionellen messianischen „Sendungsideologie“ treu und knüpfte in seiner Nato-Osterweiterung nahtlos an das Zeitalter des „europäischen Imperialismus“ an, dessen Credo einer der markantesten Persönlichkeiten des British Empire, Cecil Rhodes, wie folgt, formulierte: „Expansion is everything. … I would annex the planets if I could.“25

Dieses von Cecil Rhodes formulierte Credo der europäischen Welteroberungspolitik verkörperte in sich „die gemeinsame Ideologie des britischen Freihandels-Imperialismus der Viktorianischen Epoche, der amerikanischen Politik der >offenen Tür<, der französischen Sain-Simonisten mit ihrem Enthusiasmus für die weltumspannenden Werke der Technik, der transkontinentalen Bahnen und interozeanischen Kanäle.“26

Die von dieser „gemeinsamen Ideologie“ legitimierte europäische Expansions- und Ausdehnungspolitik führte freilich zu einer „heillosen Zerrüttung der traditionellen Ordnungen und Staatsgebilde“ (ebd., 257) der außereuropäischen Zivilisationen und hinterließ mit ihren Strafexpeditionen und Gewaltexzessen oft „nichts als glühenden Hass“ (ebd., 258), Wut und resignierende Ohnmacht der einheimischen Bevölkerung.

Diese Rolle Europas als Weltordnungsmacht erscheint heute „im Rückblick als verblendete Anmaßung, da doch dieses in nationalistischen Kirchturmkonflikten zerrissene Europa sich als unfähig erwies, sich selbst zu organisieren und über seine eigene Ordnung zu wachen.“27

Und heute? Befinden wir uns nicht genauso, wie die Europäer im Zeitalter des Kolonialismus und Imperialismus, in einer „verblendeten Anmaßung“, indem wir uns anmaßen, die außereuropäische, nichtwestliche Welt zu belehren, wie sie zu leben und zu denken hat? Und ist unsere „Verteidigung vor Russland“ statt „Sicherheit mit Russland“ an unserem eigenen messianischen Sendungsbewusstsein, unserer eigenen „Sendungsideologie“ und letztlich unserem eigenen, immer noch nicht überwundenen kolonialen Gehabe gescheitert?

Der Krieg in der Ukraine hat uns vor Augen geführt, dass unsere „Sendungsideologe“ bzw. unser messianisches Sendungsbewusstsein anachronistisch geworden ist, keine Zukunft mehr hat und sich längst überlebt hat.

Anmerkungen

1. Holl, K., Vorwort, in: Dülffer, J./Holl, K. (Hrsg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen
Deutschland 1890-1914. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Göttingen 1986, 7.
2. Dülffer, J., Einleitung: Dispositionen zum Krieg im wilhelminischen Deutschland, in: Dülffer, J./Holl, K.
wie Anm. 1), 9-19 (13).
3. Chomsky, N., The New Military Humanism. Lessons from Kosovo. London 1999.
4. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
5. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 10. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Schmidt, H., Verteidigung oder Vergeltung. Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der NATO.
7. Zitiert nach Schmidt (wie Anm. 6), 239.
8. Vgl. Grewe, W. G., Epochen der Völkerrechtsgeschichte. Baden-Baden 1988; siehe auch Tomuschat, C.,
Der selbstverliebte Hegemon, in: Internationale Politik 5 (2003), 39-47.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Globale Dominanz als Selbstzweck“. Zur Frage nach den „Pathologies of
Primacy“ in der US-Außenpolitik. 29. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
10. Gollwitzer, H., Geschichte des weltpolitischen Denkens. Bd. I. Göttingen 1972, 74.
11. Rein, A., Über die Bedeutung der überseeischen Ausdehnung für das europäischen Staatensystem, in: HZ
137 (1928), 29-90 (30).
12. Vgl. Rein (wie Anm. 11), 44.
13. Rein (wie Anm. 11), 47 f.
14. Leonhard, J., Krise und Transformation: Die Dekolonisation Frankreichs und Großbritanniens und der
Wandel der transatlantischen Konstellation. In: Rausch, H. (Hrsg.), Transatlantischer Kulturtransfer im
„Kalten Krieg“. Perspektiven für eine historisch vergleichbare Transferforschung. Leipzig 2007, 58-88 (59).
15. Leonhard (wie Anm. 14), 81.
16. Zitiert nach Gietz, A., Die neue Alte Welt. Roosevelt, Churchill und die europäische Nachkriegsordnung.
München 1986, 98. Vgl. auch Albertini, R. v., Die USA und die Kolonialfrage (1917-1945), in:
Vierteljahrshefte f. Zeitgeschichte 13 (1965), 1-51. K
17. Gietz (wie Anm. 16), 95.
18. Leonhard (wie Anm. 14), 72.
19. Gollwitzer (wie Anm. 10), 76.
20. Vgl. Silnizki, M., Machtungleichgewicht als Ordnungsprinzip? Zur Sicherheitskonstellation von heute und
morgen. 11. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
21. Buro, A., Militärgewalt und Globalisierungsprozess, in: Wissenschaft und Frieden, 1.08.1997.
22. Soell, H., Weltmarkt – Revolution – Staatenwelt, in: Archiv f. Sozialgeschichte XII (1972), 109-184 (110
FN 8); vgl. auch Morton A. Kaplan, Balance of Power, in: American Political Science Review, 51 (1957),
686.
23. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
24. Vgl. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
25. Zitiert nach Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München Zürich 1967, 218.
26. Lüthy, H., Das europäische Jahrhundert, in: ders., In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln
Berlin 1967, 245-264 (250).
27. Lüthy (wie Anm. 26), 264.

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