Verlag OntoPrax Berlin

Auf dem Wege zu einem neuen Elitenfriedhof?

Die Transatlantiker und die Zukunft des Westens

Übersicht

1. Transatlantische Eliten, die globale Medienmacht und die Nato
2. Das US-Allianzsystem und die Zerstörung des Status quo in Europa
3. Zwischen Machtschwund und Machtverschiebung

Anmerkungen

„Нам грозит более опасный период, чем холодная война“
(Uns droht eine viel gefährlichere Zeit als der Kalte Krieg)
(Georgij Arbatov, 2008)

„Wenn aber der Krieg ein Greul und der Friede unmöglich ist, wo gibt es da noch einen Ausweg?“
(Raymond Aron, 1953)1

1. Transatlantische Eliten, die globale Medienmacht und die Nato

Die Geschichte ist, wie Vilfredo Pareto in seinem „Trattato di Sociologia Generale“ (1916) sagt, ein „Friedhof der Eliten“. Folgt man dieser These, so stellt sich die Frage, ob heute womöglich die Zeit gekommen ist für einen erneuten Wechsel der Eliten und die Beförderung der alten auf einen neuen Elitenfriedhof? Der Untergang der Eliten findet in Zeiten statt, in denen weltbewegende Ereignisse stattfinden, denen sie entweder intellektuell nicht gewachsen sind, weil sie die Zeichen der Zeit verkennen, oder die sie ideologisch und geopolitisch weigern zu akzeptieren.

Die beiden Bedingungen treffen auf die geopolitische Lage der Gegenwart zu. Die seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausgebildeten transatlantischen Eliten, die sich nach dem Sieg im „Kalten Krieg“ auch global über einen dramatischen Machtzuwachs erfreuen konnten, haben heute infolge der ideologischen Fixiertheit auf ihre axiologische Alternativlosigkeit und Selbstindoktrination intellektuell und machtpolitisch das Gespür verloren, die sich im dramatischen Wandel befindende Welt adäquat zu reflektieren und sind nur widerwillig bereit, sich der neuentstandenen geopolitischen Realität anzupassen.

Haben diese Eliten nach einem drei Jahrzehnte andauernden Zwischenhoch (1991- 2021) ausgedient? Die transatlantischen Eliten begreifen sich als globale und nicht als nationale Eliten, die sich unter der Führung der US-Hegemonen wie ein Spinnennetz über die gesamte Erdkugel ausbreiteten und die Welt mittels der Informationsnetzwerke und PR-Agenturen unter ihre Kontrolle brachten.

Wie gewaltig dieses weltumspannende mediale Spinnennetz ist, haben Jörg Becker und Mira Beham bereits Anfang des Jahrhunderts eindrucksvoll beschrieben: „Nahezu Zweidrittel aller in den Medien verbreiteten Meldungen kommen von außen, sind nicht selbständig recherchiert, sondern stammen aus Pressestellen von privaten und öffentlichen Institutionen und PR-Agenturen und werden einer Zeitungsredaktion von einem so genannten Medienservice >häppchengerecht< als fertige Artikel angeboten. 80 % aller Nachrichten in den Medien stützen sich lediglich auf eine einzige Quelle, und genau diese entpuppt sich bei weiteren Recherchen als eben die Pressestelle, die diese Meldung in Umlauf gebracht hat. Die Symbiose Journalismus/PR gilt für den Konsumgüterbereich ebenso wie für die Politik,“ stellten sie 2006 fest.2

Diese transatlantische „Kolonialisierung der Medien“ durch die PR-Industrie ebenso wie durch die politischen und geheimdienstlichen Machtstrukturen hat der offizielle US-amerikanische Begriff eines „embedded journalism“ während des Irak-Krieges auf den Punkt gebracht: „Man liegt miteinander im Bett – ganz offensichtlich ungeniert, öffentlich, schamlos“ (ebd.). Das institutionelle und traditionelle Machtverhältnis verschiebt sich seit langen immer mehr zu Lasten des Journalismus, begünstigt damit umso mehr die Selektion, Manipulation, Verzerrung oder Unterschlagung von Informationen und erleichtert dadurch jede Art von Informationsvergewaltigung.

„Spoon feeding (= abfüttern der Medien mit Informationen), spinning (= politische PR im Hintergrund) und whistleblowing (= medienkritische Advertorials) sind zum ganz alttäglichen Normalzustand des Journalismus geworden“ (ebd.). Diese von den transatlantischen Machteliten globalisierte Medienmacht bot den fruchtbarsten Boden für jede Art von Massenpropaganda und Informationsmanipulation. Sie zeigt deutlich, wie sehr die mediale Berichterstattung von vorgefertigten und fabrizierten „Informationen“ und Desinformationen vor allem und insbesondere bei außenpolitischen Fragen und in internationalen Konflikten, Krisen und Kriegen durchdrungen ist.

Und diese globale Medienmacht der transatlantischen Eliten büßt heute immer mehr an Einfluss und Bedeutung zuallererst im Nichtwesten bzw. „Globalen Süden“ ein und kann diesen sichtbaren Bedeutungsverlust der transatlantischen Eliten selbst durch finanzielle Restriktionen und militärische Drohgebärden nicht mehr wettmachen und kompensieren. Ihre Macht bröckelt und alles spricht dafür, dass sie die besten Zeiten hinter sich haben.

Die Zeiten sind unwiderruflich vorbei, in denen „die mächtigste Frau in Washington“ – wie die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice (2001-2005) einst bezeichnet wurde – versichern konnte: Wir werden „stark genug sein, um potenzielle Feinde davon abzubringen, aufzurüsten in der Absicht, die Macht der Vereinigten Staaten zu übertreffen oder ihr gleichzukommen.“

„Amerika“, so steht es in der unter ihrer Federführung verfassten Denkschrift zur „Nationalen Sicherheitsstrategie“ (2002), „wird nicht zögern, allein zu handeln, und, wenn nötig, von seinem Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch machen, indem es präventiv handelt.“

Die USA sind heute nicht mehr in der Lage, ihre potenziellen Feinde davon abzubringen, sie militärisch und/oder ökonomisch zu übertreffen. Sie haben sich mit ihren zahlreichen Interventionen und Invasionen in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren derart verausgabt, dass sie sich heute nicht ohne weiteres eine „präemptive Selbstverteidigung“ (preemptive self-defense) bzw. „präventive Selbstverteidigung“ („preventive self-defense“) leisten können, ohne Gefahr zu laufen, eine strategische Niederlage zu erleiden.

Das Konzept der sog. „präemptiven Selbstverteidigung“, das der Nationalen Sicherheitsstrategie der USA 2002 und 2006 zugrunde liegt, hat ausgedient. Sie erklärt „auch solche Abwehrmaßnahmen für zulässig, die nicht als Reaktion auf einen unmittelbar bevorstehenden Angriff erfolgen, sondern im Vorfeld eines solchen Angriffs zur Abwehr einer abstrakten Bedrohungslage stattfinden.“3

Das Konzept eines Krieges auf Abruf zu jeder Zeit und an jedem Ort ist nicht mehr durchführbar. Die Zeiten sind vorbei, in denen die USA die „Weltmacht ohne Gegner“ waren. Heute hat der alternde US-Hegemon Gegner wie Sand im Meer und ist in die Jahre gekommen.

Der Ukrainekrieg macht geradezu paradigmatisch die Grenzen der US-Hegemonie deutlich und zeigt, dass selbst der konsolidierte Westen mit seiner mehr als fünfzig Staaten bestehenden Anti-Russland-Koalition auf dem ukrainischen Schlachtfeld kaum etwas gegen die russischen Streitkräfte ausrichten kann. Als ein gleichwertiger Gegner zeigt Russland der Nato, die sich als „die stärkste Allianz der Welt“ bezeichnet, die Grenzen ihrer militärischen Fähigkeiten.

Und wenn man bedenkt, dass hinter Russland die Militärpotentiale von China, Nordkorea und Iran stehen, dann sieht selbst das sich hochpreisende „US-Bündnissystem“ (The U.S. alliance system) ziemlich klein aus.

2. Das US-Allianzsystem und die Zerstörung des Status quo in Europa

„The U.S. alliance system: there’s never been anything quite like it“ (Das US-Allianzsystem: So etwas hat es noch nie gegeben), schreibt Hal Brands euphorisch in seinem Beitrag „The New Autocratic Alliancesfür Foreign Affairs vom 29. März 2024. Seine Bewunderung für das US-Bündnissystem steht im krassen Gegensatz zu seiner schroffen Ablehnung der „revisionistischen Allianzen“ (revisionist alliances) bzw. eurasischen Revisionisten“ (the Eurasian revisionists), die als „Vehikel für einen territorialen Revanchismus“(as vehicles for territorial revanchism) missbraucht werden. Gemeint sind die China und Russland.

„Selbst wenn die heutigen revisionistischen Beziehungen“ – resümiert Brands mit Verweis auf die russisch-chinesischen Beziehungen – „niemals zu einer vollwertigen eurasischen Allianz führen sollten, könnten sie sich vermutlich in einer Weise entwickeln, die die Macht der USA stärker belasten würde“ (And even if today’s revisionist ties never amount to a full-blown Eurasian alliance, they could plausibly evolve in ways that would strain U.S. power more severely).

Brands kommt dabei gar nicht in den Sinn zu fragen, ob die russisch-chinesischen Beziehungen überhaupt vorhaben, sich „zu einer vollwertigen eurasischen Allianz“ zu entwickeln, bleibt er doch in seinem Denken der Blocklogik des „Kalten Krieges“ verhaftet. Das ist ja überhaupt das Hauptproblem der transatlantischen Eliten, dessen Repräsentant Brands auch ist, dass sie bewusst oder unbewusst das Andere mit dem Maßstab des Eigenen messen und so die geopolitische Philosophie dieses Anderen völlig verkennen.

Sie merken nicht oder wollen nicht wahrhaben, dass die Gegenwart mit der Zeit des „Kalten Krieges“ nichts gemein hat und dass das geopolitische Denken in den Kategorien der Blocklogik überholt ist. Und das ist der wesentliche Grund, warum die transatlantischen Eliten keine Zukunft mehr haben, selbst wenn sie ihre Nato-Allianz selbstbeschreibend nach wie vor als „die mächtigste Allianz aller Zeiten“ begreifen.

Dieses der Block- und Bündnislogik verhaftete Denken wirkt heute wie ein starres ideologisches und geopolitisches Korsett. Es mag sich darin wohl fühlen; darin reingequetscht, kann es sich freilich nicht frei bewegen und entfalten. Die Begeisterung für „das US-Allianzsystem“ war übrigens im außenpolitischen Denken der USA nicht immer selbstverständlich.

Ganz im Gegenteil: George Washington hat in seinem politischen Testament die Amerikaner eindringlich davor gewarnt, „entangling alliances“ einzugehen. Und noch 1949 hat bei der Formulierung des Atlantikpaktes die darauf fußende traditionelle Abneigung der US-Amerikaner gegen Bündnisbindungen eine große Rolle gespielt.

Auch England hat lange an seiner Politik der „splendid isolation“ festgehalten, die Bündnisbindungen ausschloss.4 Und heute? Heute jubelt Brands selbstbeweihräuchernd: „Das Herz jedes US-Bündnisses ist Washingtons Versprechen, seinen Freunden zu helfen, wenn sie angegriffen werden. Das haben die US-Allianzen äußerst attraktiv, effektiv und stabilisierend gemacht, weshalb Europa und Ostasien seit dem Zweiten Weltkrieg so friedlich waren und Washington mehr Schwierigkeiten hat, die potenziellen Mitglieder fernzuhalten.“

Dass Washington sein „Versprechen“ halte, „seinen Freunden zu helfen“, ist ein Märchen, wie sich zuletzt in Afghanistan 2021 gezeigt hat. Und dass der Friede in der Welt nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges den US-Allianzen und nicht dem „Gleichgewicht des Schreckens“ zu verdanken war, ist eine Geschichtsklitterung.

Was nun die „Attraktivität der US-Allianzen“ in Europa nach dem Ende des „Kalten Krieges“ betrifft, so ist sie vor allem dem Zerfall des Warschauer Paktes und der anschließenden EU- und Nato-Expansionspolitik in Ost- und Mitteleuropa geschuldet, die den europäischen Kontinent destabilisierte und – wie man heute sieht – in einen blutigen Krieg auf ukrainischem Boden stürzte.

Summa summarum hat die fortgesetzte Block- und Bündnislogik des „Kalten Krieges“ statt einer Friedensdividende letztlich Krieg, Tod und Zerstörung in Europa gebracht. Sie hat darum samt ihrer Protagonisten keine Zukunft mehr.

Dass Roosevelts Idee der „kollektiven Sicherheit“ den Winkelzügen der US-Außenpolitik nach dem Ende des Zweiten Krieges zu verdanken ist,5 unterschlägt Brands zudem ebenso, wie die Idee der Bündnislosigkeit, die heute in der Gestalt des sog. „Globalen Südens“ gewissermaßen den Platz der „Blockfreien“ angenommen hat.

Inmitten des „Kalten Krieges“ wuchs die Zahl der Staaten, „die dem System des Bündnisschutzes nicht trauten und daher ihr Heil in der prinzipiellen Bündnislosigkeit suchten, d. h. in einer Politik der >Ungebundenheit<, in deren Verfolgung man sich gegenseitig zu unterstützen suchte (>blockfreie< Staaten).“6

Die beiden Formen des Sicherheitsdenkens des „Kalten Krieges“ – Blockbindung und Blockfreiheit – vollziehen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts eine radikale Transformation. Zwar hat die Blockbindung im „Kalten Krieg“ einen territorialen und ideologischen Status quo gesichert. „Die Verlässlichkeit von Bündnisgarantien unter den Bedingungen des nuklearen Zeitalters wurde aber bezweifelt: ihre Schwäche besteht nach General Pierre Gallois, dem bekanntesten Verfechter der französischen Thesen, vor allem darin, dass das Bestandsversprechen des nuklearen Bündnispartners für den Fall eines Angriffs auf den Verbündeten wegen des überdimensionalen Risikos, das die Entfesselung eines nuklearen Krieges bedeutet, unglaubwürdig geworden ist. …

Weitere, gerade von de Gaulle selbst erhobene Einwände gegen die Nato … bezogen sich auf die hegemoniale Rolle der Vereinigten Staaten im Bündnis sowie auf dessen durch die weltpolitische Entwicklung überholte regionale Begrenzung.“7

Was dann nach dem Untergang des Sowjetreiches und der Auflösung des sowjetischen Machtblocks in Gestalt des Warschauer Pakts passiert ist, ist – sicherheitstheoretisch betrachtet – die Zerstörung des territorialen und ideologischen Status quo bei gleichzeitiger Beibehaltung der Blocklogik der Konfrontation des übriggebliebenen siegreichen Nato-Machtblocks und des Aufstiegs der USA zur gesamteuropäischen Ordnungs- und Hegemonialmacht.

Dass diese neuentstandene geopolitische Konstellation in Europa jede Überwindung der Blocklogik und Bündnisbindung seitens des siegreichen Westens unmöglich machte, versteht sich wohl von selbst. Und die Konsequenz ließ sich nicht auf sich warten: Die Nato-Expansionspolitik hat das entstandene Machtvakuum in Ostmitteleuropa gefüllt, den bestehenden territorialen Status quo gesprengt und die vitalen Sicherheitsinteresse Russlands konsequent ignoriert.

Diese vom Siegesrausch begleitete Nato-Expansionspolitik hatte freilich einen Schönheitsfehler. Sie übersah, dass der errungene „Sieg“ über den ideologischen Systemwettbewerber durch die Selbstauflösung des Rivalen und nicht auf dem Schlachtfeld erfolgte. Das bedeutete aber, dass die militärische Infrastruktur Russlands intakt geblieben ist und jederzeit bei Bedarf modernisiert und reaktiviert werden könnte.

Und genau das ist im Ukrainekonflikt eingetreten und die westlichen bzw. US-Militärstrategen wurden auf dem falschen Fuß erwischt. Die Block- und Bündnislogik hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges – so gesehen – nicht bewährt und als unhaltbar erwiesen. Schlimmer noch: Sie hat zur Gegenblockbildung in spe geführt und befördert gleichzeitig den Aufbau der blocklosen Parallelstrukturen.

Das US-Allianzsystem erweist sich strategisch immer mehr als eine Bürde und nicht als eine vielversprechende Zukunftsvision.

3. Zwischen Machtschwund und Machtverschiebung

Das nahende Ende der unipolaren Weltordnung und die Entstehung einer postunipolaren Welt werden von der Auflösung der noch de jure in Gestalt der UNO existierenden Völkergemeinschaft und dem Aufbau von Parallelstrukturen einer geteilten Welt begleitet. In der Zwischenzeit zwischen dem Ende der Unipolarität und der Entstehung der Postunipolarität könnte erneut ein Machtvakuum entstehen, das die Gefahr einer Konfrontation der konkurrierenden und feindselig gegenüberstehenden Mächte ins Extreme steigern könnte.

Gesucht ist darum ein neues globales Gleichgewichtssystem. Was wir freilich momentan beobachten, ist etwas ganz anderes: die Entstehung einer ordnungspolitischen Alternative zum Westen – eine nichtwestliche Parallelwelt, die allmählich auch institutionelle Züge einnimmt. Den beiden Welten des Westens und des Nichtwestens liegen dabei die völlig unterschiedlichen Ordnungsprinzipien zugrunde. Der konsolidierte Westen wird weiterhin vom US-Hegemonen angeführt, wohingegen die im Entstehen begriffene nichtwestliche Parallelwelt von Kräften gebildet wird, die aus mehreren Mittel- und Großmächten auf einer gleichwertigen und gleichrangigen Basis bestehen wollen.

Wir leben in einer Übergangszeit, in der Konfrontation, Spannungen, Krisen und Kriege dominieren und die statt Sicherheit eine permanente Unsicherheit produziert. In einem solchen unsicheren Umfeld nimmt das Streben nach Sicherheit drastisch an Bedeutung zu. Sicherheit überlagert alle anderen Lebensbereiche, indem sie einen absoluten Vorrang vor allem anderen einnimmt.

„Defence is more importent than opulence.“8 Dieser Spruch von Adam Smith gilt heute mehr denn je. Die geo- und sicherheitspolitische Konstellation der Übergangs- bzw. Zwischenzeit birgt in sich einen völlig veränderten, nicht nur quantitativen, sondern auch qualitativen Entwicklungsprozess. Die allmähliche Ablösung der seit fünfhundert Jahren bestehenden westlichen Weltdominanz durch einen ökonomischen, technologischen und militärischen Aufstieg der nichtwestlichen Machtstrukturen kann sich nicht schmerz-, widerstands- und friktionslos vollziehen, folgt doch dieser Entwicklung eine dramatische Veränderung der geopolitischen und geoökonomischen Kräfteverhältnisse im globalen Raum.

Die neuen Machteliten entstehen, die die alten in Frage stellen oder gar ablösen wollen. Nirgendwo kann man diese Entwicklung deutlicher erkennen, als in den militärischen und technologischen Bereichen, die zunächst die europäische und dann auch die US-amerikanische Vormachtstellung in der Welt begründet haben. Der militärische und technologische Vorsprung des Westens wird heute zunehmend kleiner und die nichtwestliche Konkurrenz holt stark auf, sodass der Westen immer mehr seinen Konkurrenzvorsprung verliert und sich in einem nicht mehr abzuwendenden Abwärtstrend befindet.

Selbst solche vom Westen als „Schurkenstaaten“ stigmatisierten Länder wie Nordkorea und Iran holen im Bereich der Militärtechnologie auf. Und was den Iran angeht, so befindet er sich in der Raketen- und Hyperschallgeschwindigkeitstechnologie sogar auf der Überholspur. Was bedeutet nun diese Entwicklung für die Zukunft des Westens und seine transatlantischen Eliten?

Das nahende Ende der unipolaren Weltordnung leitet, wie gesagt, eine neue Periode der Unsicherheit und der Unruhe ein und ist der Stabilität der internationalen Beziehungen nicht zuträglich. Niemand weiß, wie die weltpolitische Lage stabilisiert werden kann und man muss befürchten, dass die Rivalität der konkurrierenden Großmächte an der Schärfe zunimmt.

Wenn die Instabilität der internationalen Beziehungen ihren Grund allein in der zunehmenden Großmächterivalität hätte, so hätte man hoffen dürfen, dass das gestörte Gleichgewicht zwischen ihnen sich langsam wiederfinden würde. Das Problem liegt allerdings viel tiefer und woanders, nämlich in einem unabwendbaren und epochemachenden Wechsel der globalen Machteliten.

Die globale Macht verschiebt sich allmählich und unaufhaltsam vom Westen zum Nichtwesten, auch wenn der letztere noch amorph und unkonsolidiert ist. Es geht also für den Westen – ungewöhnlich genug – nicht mehr darum, ein Machtgleichgewicht zwischen zwei oder mehreren Großmächten innerhalb der westlichen Hemisphäre herzustellen, sondern den Niedergang der eigenen elitären Exklusivstellung – wenn nicht abzuwenden, so doch wenigstens – aufzuhalten.

Es geht mit anderen Worten um eine ganz andere Qualität der Rivalität – um die Ablösung der fünfhundertjährigen Herrschaft der europäischen und US-amerikanischen Eliten durch die anderen, im Entstehen begriffenen globalen Eliten des Nichtwestens. Dass dieser globale Elitenwechsel nicht kampflos vonstattengehen wird, versteht sich wohl von selbst.

So wie die Dinge heute liegen, kann dieser unaufhaltsame Prozess nur auf dem Wege eines globalen Kriegs kommen. Dass diese Denkmöglichkeit im nuklearen Zeitalter keine reale Option ist und keiner außer vielleicht nur Wahnsinnige diesen Weg empfehlen würde, versteht sich ebenfalls von selbst, ist aber nicht gänzlich auszuschließen.

„Wenn aber der Krieg ein Greul und der Friede unmöglich ist, wo gibt es da noch einen Ausweg?“9 fragte Raymond Aron verzweifelt 1953 inmitten des ausgebrochenen „Kalten Krieges“. Und er fand keine Antwort. Der „Kalte Krieg“ war aus seiner Sicht „eine Zwischenlösung“, sozusagen ein Provisorium, das „nach ungeschriebenen Gesetzen“ geführt wurde, wobei man darauf sorgfältig achtete, „die Grenze des Casus belli nicht zu überschreiten.“10

Heute sehen wir uns vor einem ähnlichen Problem konfrontiert, mit einem „kleinen“ Unterschied: Wir sind geneigt, eben diese Grenze des Casus belli zu überschreiten. Wir scheinen die Angst vor einem nuklearen Schlagabtausch verloren zu haben. Ist der Krieg also doch kein Greul? Oder werden die Überlebenden eines solchen Krieges einst die Toten beneiden, die nicht überlebt haben?

Die Grenzen zwischen einem möglichen und wirklichen Krieg, einem unmöglichen und möglichen Frieden sind heute fließend geworden. Und das Pendel in die eine oder die andere Richtung kann jederzeit ausschlagen, haben wir es doch heute mit den in das Geschehen involvierten furcht-, ahnungs- und verantwortungslosen, weil sich selbst maßlos überschätzenden transatlantischen Eliten zu tun.

In dieser prekären und diffusen Lage befinden sich heute die westliche Hemisphäre mit ihren globalisierten Macht- und Funktionseliten und ein Ausweg ist nicht in Sicht. Klar ist nur, dass der Elitenwechsel kommt. Unklar ist allerdings: Wann und zu welchem Preis?

Eine neue globale Friedens- und Sicherheitsarchitektur bleibt freilich auf der Strecke, solange die global (noch) dominierenden transatlantischen Eliten von der Bühne der Weltgeschichte nicht abtreten.

Anmerkungen

1. Aron, R., Der permanente Krieg. Frankfurt 1953, 221.
2. Becker, J./Beham, M., Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006, 16; vgl. auch
Ruß-Mohl, S., Spoonfeeding, Spinning, Whistleblowing. Beispiel USA: Wie sich die Machtbalance
zwischen PR und Journalismus verschiebt, in: Rolke, L./Wolff, V. (Hrsg.), Wie die Medien die Wirklichkeit
steuern und selber gesteuert werden. Wiesbaden 1999, 163-176; Silnizki, M., Propagandaschlacht. Zum
Informationskrieg zwischen Russland und dem Westen. 1. Februar 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Zitiert nach „Zum Konzept der präemptiven Selbstverteidigung Ausgewählte Stimmen aus der internationalen
völkerrechtlichen Literatur“. Deutsche Bundestag. Wissenschaftliche Dienste. 22. Juni 2007.
4. Vgl. Grewe, W. G., Machtprojektionen und Rechtsschranken. Essays aus vier Jahrzehnten über
Verfassungen, politische Systeme und internationale Strukturen. Baden-Baden 1991, 430.
5. Vgl. Silnizki, M., Auf dem Wege zu einer anderen Staatenwelt? Im Spannungsfeld zwischen Blocklogik
und Bündnisfreiheit. 17. März 2024, www.ontopraxiologie.de.
6. Grewe (wie Anm. 4), 431.
7. Grewe (wie Anm. 4), 431 f.
8. Zitiert nach Czempiel, E.-O., Der Primat der auswärtigen Politik. Kritische Würdigung einer Staatsmaxime,
in: PVS IV (1963), 266-287 (269).
9. Aron (wie Anm. 1), 221.
10. Aron (wie Anm. 1), 222.

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