Verlag OntoPrax Berlin

US-Demokraten versus US-Republikaner

Zur Frage nach einer konservativen US-Außenpolitik

Übersicht

  1. Die US-Außenpolitik in einer „geopolitischen Grauzone“
  2. Kooperative oder konfrontative US-Außenpolitik?

Anmerkungen

„Wir haben nichts gegen Sie. Wir möchten Freunde sein und unser Ziel ist in den USA
und Europa zu investieren, um Profite zu erzielen“, sagte der Chinese, worauf
der Amerikaner erwiderte: „Am Himmel kann es keine zwei Sonnen geben.“
(Ein Gespräch unter zwei Bankern)

  1. Die US-Außenpolitik in einer „geopolitischen Grauzone“

Am 6. August 2023 berichtete die Financial Times in ihrem Beitrag „The >monumental consequences< of Ukraine joining the EU“ (Die „monumentalen Folgen“ des EU-Beitritts der Ukraine): „Beim Frühstück Ende Juni im Fünf-Sterne-Hotel Amigo in Brüssel begannen die mächtigsten Staats- und Regierungschefs der EU ernsthafte Diskussionen darüber, wie die Ukraine in den Club aufgenommen werden könne.“

Das Treffen machte u. a. eines deutlich – resümierte die britische Tageszeitung -, dass eine Idee, die vor 18 Monaten noch absurd schien, nun ernst genommen werden müsse. Der Ukrainekrieg habe die Kalkulation radikal verändert. Es habe sich nämlich als gefährlich herausgestellt, dass sich die Ukraine „in einer geopolitischen >Grauzone<“ (in a geopolitical „grey zone“) zwischen Russland und dem Westen befinde, sodass „Moskaus Invasion einen tiefgreifenden Wandel in der EU-Erweiterungspolitik von der Passivität hin zur proaktiven Strategieplanung auslöste“ (Moscow’s invasion sparked a profound shift in the EU’s enlargement policy from passivity to proactive strategising).

Der Krieg habe zwar die politische Stimmung verändert, an den unveränderlichen Herausforderungen rund um die Expansionsfähigkeit der EU habe er aber nichts geändert (vgl. The war may have changed the political winds, but it has not altered the immutable challenges around the EU’s capacity for expansion).

Aus dem zitierten Teil des Berichts geht deutlich hervor, dass die EU die Ukraine nach wie vor als einen geopolitischen „Zankapfel“ bzw. eine „geopolitische Grauzone“ zwischen Russland und dem Westen betrachtet und ungeachtet der militärischen Konfrontation auf ukrainischem Boden und trotz eines durchaus erkannten virulenten monetären, ökonomischen und sozialen Sprengstoffs des ukrainischen EU-Beitritts anscheinend gar nicht daran denkt, auf ihre Expansion gen Osten zu verzichten.

Mit anderen Worten, die EU-Ukraine- und Russlandpolitik bleibt unverändert bestehen, auf eine ungebrochen bestehende Konfrontation gegen Russland ausgerichtet und nimmt deren Zuspitzung und Eskalation im Zweifel billigend in Kauf.

Die Fronten bleiben verhärtet. Das geopolitische Schauspiel wird aber vor allem zu Lasten und auf Kosten der geschundenen Ukraine ausgetragen und keiner weiß heute, wohin all das noch führen kann. Da aber die EU streng genommen kein Subjekt der Geopolitik ist und bei ihren geo- und sicherheitspolitischen Entscheidungen auf Gedeih und Verderb auf den US-Schutzpatron angewiesen ist, stellt sich die Frage nach einer US-Außenpolitik, die in der Lage wäre, die „geopolitische Grauzone“ zu überwinden, die verhärteten Fronten zu durchbrechen und/oder eine praktikable Losung zur beiderseitigen Zufriedenheit zu finden.

Und hier kommen wir wieder auf eine Diskussion aus dem März d. J. zurück, die im konservativen Teil des US-Establishments über die Zukunft der US-Außenpolitik stattgefunden hat, begleitet von den heftigen Attacken gegen die US-Außenpolitik der Biden-Administration.1 Die Diskussion hat sich zwar im Sande verlaufen und sich als wirkungslos und unergiebig erwiesen. Die damit verbundenen Probleme für die US-Außenpolitik wie der Ukrainekonflikt, der Erosionsprozess der US-Hegemonie, die immer sichtbar werdende Spaltung der Welt zwischen dem Westen und dem Nichtwesten bzw. der Weltmehrheit, eine fortdauernde Konfrontation zwischen China und den USA usw. usf. sind aber nach wie vor da und nicht aus der Welt.

Zur Erinnerung: Der bekannte Kritiker der Ukrainepolitik der Biden-Administration, Douglas Macgregor (Colonel (im Ruhestand), Senior Fellow bei The American Conservative und ehem. Berater des Verteidigungsministers in der Trump-Administration) stellte in seinem Beitrag „The Gathering Storm“ für The American Conservative am 14. März 2023 fest: „Alles in allem ist Washingtons militärische Strategie, Russland zu schwächen, zu isolieren oder gar zu zerstören, ein kolossaler Fehlschlag und dieser Fehlschlag bringt Washingtons Stellvertreterkrieg mit Russland auf einen wirklich gefährlichen Weg“ (In sum, Washington’s military strategy to weaken, isolate, or even destroy Russia is a colossal failure and the failure puts Washington’s proxy war with Russia on a truly dangerous path).

Und gegen Ende seines Artikels schrieb er empört: Die Biden-Administration müsse zu „den bösartigen und dummen Forderungen“ nach einem „demütigenden Rückzug Russlands aus der Ostukraine“, noch bevor die Friedensgespräche überhaupt stattgefunden haben, schleunigst auf Distanz gehen. Es sei höchste Zeit, dass die Biden-Administration einen Ausweg finde, um Washington „aus seinem ukrainischen Stellvertreterkrieg gegen Russland“ (from its proxy Ukrainian war against Russia) herauszuziehen.

Dies werde zwar nicht einfach sein, gibt Macgregor freimutig zu.  Denn der „liberale Internationalismus“, der in seiner modernen Gestalt als ein „moralisierender Globalismus“ (moralizing globalism) auftrete, lehnte immer schon eine „prudent diplomacy“ als verschlagen und prinzipienlos ab. Die Zeit sei aber für diese „verschlagene Diplomatie“ (prudent diplomacy) längst gekommen.

Auch sein Bruder im Geiste, George D. O’Neill Jr. (Vorstandsmitglied des American Ideas Institute), appellierte kurz zuvor in seinem Artikel „Death of a Myth“ (The American Conservative, 9. März 2023) gleich in dessen Untertitel an seine Landsleute: Die Amerikaner müssen endlich aufwachen und sich der Realität der post-unipolaren Welt stellen, bevor es zu spät ist (vgl. „Americans need to wake up to the realities of a post-unipolar world before it`s to late“).

Wir erleben eine Agonie der „unipolar hegemony“ der USA über weite Teile der Welt, stellt O’Neill Jr. ernüchtert fest und beklagt sich bitter über die US-Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre. Anstatt ein „peacekeeper“ und ehrlicher „world’s policeman“ zu sein, seien die USA zunehmend ein „destabilisierender Tyrann“ (destabilizing bully) geworden. 

Und so merkt auch Doug Bandow (Senior Fellow am Cato Institute) in seiner anklagenden und die US-Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte kritisierenden Schrift „Why Are We Still In Syria?“ (The American Conservative, 30. März 2023) bereits in deren ersten Satz an: „Die Sonne geht auf einem amerikanischen Schlachtfeld anscheinend nie unter“ (The sun never sets on an American battlefield, it would seem). Das sei eine direkte Folge der permanenten US-Interventions- und Expansionspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte.

Alle US-Interventionen der vergangenen Zeit wirkten destabilisierend und stifteten mehr Chaos als Ordnung. Die Bush-Administration habe den Irak in die Luft gesprengt, was zur Entstehung des Islamischen Staates geführt habe. Die Obama-Administration half ihrerseits Libyens Muammar Gaddafi zu stürzen und löste dadurch einem nunmehr seit einem Jahrzehnt andauernden Bürgerkrieg aus. Die Biden-Administration mache nun den gleichen Fehler, indem sie mit ihren Waffenlieferungen an die Ukraine und einer milliardenschweren Kriegsfinanzierung, statt den Krieg beenden zu helfen, alles tut, damit Russland die Ukraine in Schutt und Asche lege.

Und so empört sich Bandow: „Die Amerikaner haben es satt, die endlosen Kriege für törichte, ja frivole Ziele zu führen.“

In seinem Artikel „The Case for a Restrained Republican Foreign Policy“ für Foreign Affairs vom 22. März 2023 plädierte schließlich auch Dan Caldwell (Vizepräsident des Center for Renewing America und ehem. Vizepräsident für Außenpolitik bei Stand Together) im Gegensatz zur US-Außenpolitik der Biden-Administration für eine „zurückhaltende US-Außenpolitik“ der US-Republikaner.

Die Begründung für sein Plädoyer formulierte er bereits im Untertitel seines Artikels „Conservatives Can’t Go Back to Ignoring the Limits of American Power“ (Die Konservativen können die Grenzen der amerikanischen Macht nicht mehr ignorieren). „The Limits of American Power“!

Auch Dan Caldwells Begründung und sein Plädoyer blieben ungehört. Wer keine Macht hat, kann sich auch kein Gehör verschaffen!

Dabei wollte er sich nicht als einen Propheten des „Niedergangs Amerikas“ (American decline) verstanden wissen. Ganz im Gegenteil! „Eine klügere Außenpolitik“ (a more prudent foreign policy) werde dafür sorgen, dass die US-Power nicht verschwinden werde, glaubt Caldwell am Ende seiner Ausführungen, fügt aber gleichzeitig warnend hinzu: „Wenn die konservativen Politmacher die Realität leugnen und die gleiche gescheiterte Politik befürworten, die die USA dorthin geführt hat, wo sie heute sind, werden sie nur den Niedergang Amerikas (American decline) erreichen.“

In der „geopolitischen Grauzone“ des Ukrainekonflikts mittlerweile tief verstickt, merken die US-Demokraten nicht, wie rasant sich die Welt seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine verändert (hat). Das geradezu pathologische Streben der Biden-Administration, Russland ein für allemal eine „strategische Niederlage“ zu verpassen, lenkt sie nach der Auffassung der US-Republikaner nur noch von einer viel gefährlicheren „geopolitischen Grauzone“ in der indopazifischen Region ab und lässt eine sich scheinbar anbahnende neue bipolare Weltordnung des 21. Jahrhunderts völlig außer Acht.

Aber stimmt das überhaupt? Bahnt sich wirklich eine neue bipolare Weltordnung an? Ist die Kritik der US-Konservativen an der US-Außenpolitik im Allgemeinen und der Ukrainepolitik der Biden-Administration im Besonderen nichts weiter als eine Scheindebatte? Es scheint so zu sein, wenn man eine Studie „The Illusion of Great-Power Competition“ liest, die Jude Blanchette (Freeman-Inhaber des Lehrstuhls für Chinastudien) und Christopher Johnstone (Senior Adviser und Japan Chair am Center for Strategic and International Studies) verfasst haben und in Foreign Affairs am 24. Juli 2023 veröffentlicht wurde.

Getreu ihrer bereits im Untertitel der Studie formulierten These „Why Middle Powers – and Small Countries – Are Vital to U.S. Strategy“ (Warum Mittelmächte – und kleine Länder – für die US-Strategie von entscheidender Bedeutung sind) stellen sie lapidar fest: „Der Wettbewerb, mit dem die USA konfrontiert sind, ist nicht einfach eine bilaterale Rivalität mit einer anderen Großmacht (great power). Es ist auch keine Rivalität zwischen den gegeneinander sauber abgegrenzten autoritären und demokratischen Blöcken. Vielmehr handelt es sich (hier) um einen sich ständig verändernden Wettbewerb von Koalitionen und oft informellen Ad-hoc-Partnergruppen, die in konkreten Situationen zusammenarbeiten (wollen).“

Und diese Welt im Wandel nennen Blanchette/Johnstone „die Welt der Ad-hoc-Kooperationen und Koalitionen“ (vgl. world of ad hoc groupings and coalitions). „Diese neuen Realitäten“ verlangen eine „Änderung der US-Taktik und Strategie und – was noch wichtiger ist – eine neue langfristige Denkweise“ (a shift in U.S. tactics and strategy—and, perhaps most important, a new long-term mindset).

Diese neue „Denkweise“ nennen Blanchette/Johnstone „einen koalitionszentrierten Ansatz“ (a coalition-centered approach), der freilich die altbewährten Bündnisse nicht überflüssig mache, wohl aber sie ergänze. Denn in der neuentstandenen instabilen Welt bewege sich Washington „zwischen Interdependenz und Autonomie, Multipolarität und Spaltung in Blöcke“ (between interdependence and autonomy, between multipolarity and division into blocs), sodass es für Washington erforderlich mache, von Fall zu Fall „die Ad-hoc-Koalitionen“ zu schließen.

Sollte sich diese „neue Denkweise“ (new mindset) als zielführend erweisen, so kann von einer Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien, die der amtierende US-Präsident Joe Biden und die transatlantischen Souffleure stets und ununterbrochen predigen, gar keine Rede sein. Denn eine solche „Ad-hoc-Koalition“-Strategie setzt ja zwingend voraus, „dass Washington auch mit solchen Partnern zusammenarbeitet, die manche US-Interessen oder Werte nicht unterstützen oder diesen gar offen feindselig gegenüberstehen“ (Washington sometimes needs to work with actors who do not support—or are even outright hostile to—some U.S. interests or values).

Die Welt sieht also in der Tat etwas komplizierter aus, als die transatlantischen Ideologen uns weismachen wollen.

Erweisen sich alle Diskussionen der vergangenen Monate diesseits und jenseits des Atlantiks, ob nämlich die bestehende Weltordnung (noch) unipolar oder auf dem besten Wege sei, in eine multipolare Weltordnung im Zeitalter der Großmächterivalität transformiert zu werden, nicht weiter als eine Illusion

oder – wie unsere Autoren meinen – als „the Illusion of Great-Power Competition“? Und ist diese „neue Denkweise“ überhaupt neu oder lediglich alter Wein in neuen Schläuchen?

Zwar sprechen sich Blanchette/ Johnstone wortreich für eine neue US-Geostrategie, setzen aber dessen ungeachtet weiterhin auf Konfrontation, wie die folgenden Ausführungen auch deutlich machen: „Natürlich werden langjährige Verbündete … weiterhin eine wichtige Säule für die US-Strategie sein. Seit der russischen Invasion in der Ukraine hat das G-7-Forum eine dramatische Wiederbelebung erfahren und dient heute als wichtigster Ort für die Koordinierung der Politik zur Konfrontation mit Moskau und zur Unterstützung der Ukraine. In vielen Fragen des strategischen Wettbewerbs mit China wird die Koordinierung mit der G-7 weiterhin ein Ausgangspunkt für die Vereinigten Staaten sein.“

Kurzum: Die Ad-hoc-Koalitionsstrategie dient lediglich als Vehikel zwecks Festigung der erodierenden US-Weltmacht in ihrem Kampf gegen die (ewigen) geopolitischen Rivalen Russland und China. Die vorgeschlagene „neue“ US-Geostrategie setzt weiterhin auf eine Konfrontation – die Konfrontation in Permanenz – und ist freilich im nuklearen Zeitalter nur von einem sehr begrenzten Nutzen.

Offenbar haben Blanchette/ Johnstone den von ihnen selbst zitierten Präsidenten der Philippinen, Ferdinand Marcos Jr., nicht ganz richtig verstanden. Dieser sagte kürzlich in einem Interview über die Spannungen zwischen den USA und China um Taiwan: „Ich habe ein afrikanisches Sprichwort gelernt: Wenn Elefanten kämpfen, verliert nur das Gras. Wir sind das Gras in dieser Situation. Wir wollen nicht mit Füßen zertreten werden.“

Keine Ad-hoc-Koalition dieser Welt wird den USA in ihrem Kampf gegen die geopolitischen Rivalen Russland und China helfen (können). Sie wird wie das Gras erbarmungslos mit den „Füßen“ der rivalisierenden Großmächte zertrampelt und die „neue Denkweise“ (new mindset) wird genauso, wie die Debatte der US-Konservativen über eine andere US-Außenpolitik, fruchtlos bleiben, solange das geopolitische „Kriegsbeil“ nicht begraben wird.

2. Kooperative oder konfrontative US-Außenpolitik?

Richtig ist allerdings, dass die neuentstandene geopolitische Gemengelage von der Art ist, dass sie als Momentaufnahme nicht ohne weiteres auf einen Nenner unipolar/multipolar gebracht werden kann. Befindet sich die unipolare Weltordnung seit dem Irakkrieg allmählich auf dem Rückzug und hat deren Erosionsprozess mit dem Rückzug aus Afghanistan 2021 seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht, so steht das Ergebnis des Proxy-Krieges zwischen den USA und Russland auf ukrainischen Boden noch nicht fest.

Findet ein zunehmender Prozess der Emanzipation einer Reihe von Groß- und Mittelmächten, allen voran Russland und China, aber auch Indien, Türkei oder Iran und Saudi-Arabien – dergestalt statt, dass sie sich nicht mehr vom US-Hegemon abhängig machen wollen, so verbleibt die EU nach wie vor der geo- und sicherheitspolitischen Logik des „Kalten Krieges“ verhaftet, immer noch der US-Geostrategie ausgeliefert und ohne jedweden Ehrgeiz, unabhängig vom US-Schutzpatron ein Subjekt der Geopolitik werden zu wollen, um eine eigenständige souveräne Außen- und Sicherheitspolitik gestalten zu können.

Der Prozess einer geopolitischen Emanzipation ist aber ein Prozess der Verselbstständigung bzw. Souveränisierung des eigenen Machwillens. Im Gegensatz zu den EU-Europäern ist der sog. „Globale Süden“ bzw. Nichtwesten mittlerweile dazu bereit und fähig. Der Grund besteht eben in der sich neu ausbildenden Großmächtekonstellation, der weder Hegemonie noch hegemoniale Dysbalance2, sondern eine posthegemoniale Machtbalance zugrunde liegt.

Wir haben heute eine geo- und sicherheitspolitisch gespaltene Welt, in welcher die noch bestehende hegemoniale Dysbalance (in Europa) und die posthegemoniale Machtbalance (im globalen Raum) die zwei systembildenden Strukturen der globalen Sicherheits- und Friedensordnung sind, in deren Zentrum drei rivalisierende, bis an die Zähne bewaffnete Groß- und Supermächte stehen: die USA, China und Russland.

Diese geopolitische Komplexität des in Bewegung geratenen Weltordnungssystems macht eine Reduktion der Analyse der weltpolitischen Entwicklungen allein auf das Gegensatzpaar Unipolarität/Multipolarität genauso unbefriedigend, wie die Ad-hoc-Koalitionsstrategie den Erosionsprozess der US-Hegemonie ausbremsen kann.

Die geoökonomischen und geopolitischen Rahmenbedingungen im globalen Raum haben sich wiederum schon jetzt dergestalt geändert, dass die USA nicht mehr die unumstrittene und unangefochtene ökonomische und militärische Übermacht sind. Mit China und Russland hat der US-Hegemon eine mächtige ökonomische und militärische Konkurrenz bekommen.3

Vor diesem Hintergrund ist es allzu verständlich, wenn die US-Außenpolitik der Biden-Administration einer heftigen Kritik seitens der US-Konservativen unterzogen wird. Vor allem die bereits oben zitierte Studie von Dan Caldwell geht hart ins Gericht mit der US-Außenpolitik sowohl der US-Demokraten als auch der US-Republikaner.

Eine Debatte über die Außenpolitik der Republikaner wäre fruchtlos – meint Caldwell -, wenn die Konservativen sich „nach einer Rückkehr zu Karikaturen der Außenpolitik der ehem. US-Präsidenten Ronald Reagan und Trump (a return to caricatures of the foreign policies of former U.S. Presidents Ronald Reagan and Trump)“ sehnen würden. Es sei heute weder das Jahr 1983, als Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnete, noch das Jahr 2016, „als Trump die Präsidentschaft zum Teil dadurch gewann, dass er das außenpolitische Versagen nicht nur der ehem. Präsidenten der Demokraten, sondern auch der Republikaner zu Recht verurteilte.“

„Die Konservativen müssen akzeptieren, dass sich die Welt in den letzten sieben Jahren dramatisch verändert hat, ganz zu schweigen von den letzten 40 Jahren. Die USA sehen sich heute mit viel größeren wirtschaftlichen und militärischen Zwängen als am Ende des Kalten Krieges konfrontiert und diese Zwänge können nicht durch einen überzogenen Optimismus oder bloße Willensstärke überwunden werden. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Konservatismus Grenzen kennt (conservatism recognizes limits).“

Und so stellt Caldwell apodiktisch fest: Die USA seien keine konkurrenzlose Macht mehr (The United States is no longer an unrivaled power). Diese schonungslose Bestandsaufnahme der neuentstandenen geopolitischen Realität ist bemerkenswert, stellt sie doch die ganze Misere der US-Außenpolitik bloß, die sich beharrlich weigert, die neuen Realitäten anzuerkennen und die Grenzen der US-Hegemonie zu akzeptieren.

Der außenpolitische Eskapismus ist freilich für die USA nicht nur konterproduktiv, ruinös und beschleunigt nur noch den Erosionsprozess der US-Hegemonie. Er nimmt mittlerweile obsessive Züge an. Diese Obsession wird immer deutlicher, je länger der Ukrainekrieg dauert.

„Die ins Stocken geratene Gegenoffensive“ – schreibt Brahma Chellaney (ein indischer Geostratege und Publizist) in seinem Artikel „Biden’s Ukraine strategy is failing“ (Bidens Ukraine-Strategie scheitert) für The Hill vom 8. August 2023 – „hat die Hoffnungen der Nato auf einen großen militärischen Durchbruch gegen Russland zunichte gemacht … Die scheiternde Gegenoffensive bringt Präsident Joe Biden unterdessen in eine schwierige Lage. Statt seine Strategie zu überdenken, wirft er einfach gutes Geld dem schlechten hinterher und hofft auf ein Wunder: einen möglichen  Durchbruch auf dem Schlachtfeld  gegen die russischen Streitkräfte oder einer politischen Aufruhr in Moskau.“

Während Biden die Tür zur Diplomatie mit Russland verschlossen halte – entrüstet sich Chellaney –, habe er China angefleht, die chinesisch-amerikanischen Beziehungen durch direkte Gespräche zu stabilisieren. Tatsache sei aber, dass Biden umso mehr versucht habe, China zu beschwichtigen, je mehr die USA ihre Beteiligung am Ukrainekrieg in der Hoffnung vertieften, „einer chinesisch-russischen Achse gegen Amerika“ (a Sino-Russian axis against America) entgegenzuwirken.

Geschweige davon, dass die sog. „chinesisch-russischen Achse gegen Amerika“ de facto längst existiert, machen die von den USA verhängten Russlandsanktionen laut einem  Bericht  der in Washington ansässigen „Free Russia Foundation“ China zum „größten Gewinner“, ohne die Kriegsmaschinerie des Kremls einzudämmen oder Putin an den Verhandlungstisch zu drängen.

Daraus zieht der Inder einen folgenschweren Schluss, dass eine stärkere Beteiligung Amerikas an dem ukrainischen Zermürbungskrieg „nur die militärischen Ressourcen des Westens“ aushöhle und die Flut  der amerikanischen Waffen in die Ukraine bereits jetzt die militärische Stärke der USA in der indopazifischen Region schwäche. 

„Die USA wollten Russland in der Ukraine ausbluten lassen“ (The U.S. set out to bleed Russia in Ukraine). Stattdessen – spottet Chellaney – ist es aber Amerika und nicht Russland, dem die Munition ausgehe. Biden gab kürzlich in einem  CNN-Interview zu: Dieser Krieg sei der Krieg der Munitionen. Und der Ukraine gehe die Munition aus, und wir haben nur noch wenig davon.“ Darum blieb ihm keine andere Wahl, als die Streumunition in die Ukraine zu liefern.

Diplomatische Bemühungen um eine Waffenstillstandsvereinbarung sollten eine natürliche Folge des aktuellen militärischen Stillstands in der Ukraine sein, resümiert Chellaney abschließend und fügt hinzu: Zwar fühlen sich die USA dazu verpflichtet, die Souveränität und die territoriale Integrität der Ukraine wiederherzustellen. Da es jedoch wenig Hoffnung gäbe, Russland zum Rückzug aus den von ihm besetzten Gebieten im Osten und Süden der Ukraine zu zwingen, liege ein langwieriger Krieg nicht im Interesse Amerikas.

Vor dem Hintergrund dieser grundsätzlichen Kritik an Bidens Ukrainepolitik erscheint auch die Ablehnung der US-Außenpolitik und insbesondere des US-Interventionismus der vergangenen Jahrzehnte seitens der US-Konservativen mehr als nachvollziehbar. Es stellt sich freilich die Frage: Welche alternative US-Außenpolitik schlagen die US-Konservativen selber vor?

Weder das Jahr 1983, als Reagan die Sowjetunion als „Reich des Bösen“ bezeichnete, noch das Jahr 2016, „als Trump die Präsidentschaft zum Teil dadurch gewann, können laut Dan Caldwellwie gesehen – keine Vorbilder für die künftige konservative US-Außenpolitik sein. Was dann?

Caldwell geht von der These aus, dass Trumps „America first“-Außenpolitik, die als eine Alternative zur gescheiterten Politik der Post-9/11-Zeit propagiert wurde, zwar ein nützlicher Beitrag zur Diskussion über die künftige konservative Außenpolitik bleibe. Die US-Konservativen sollten aber erkennen, dass die seit den 2016 stattgefundenen dramatischen Veränderungen in den USA und auf der ganzen Welt eine weitaus radikalere Kehrtwende in der US-Außenpolitik erforderlich macht.

Worin der Unterschied zwischen Trumps und Bidens Außenpolitik besteht und wie die künftige US-Außenpolitik der US-Republikaner aussehen sollte, darauf geht Caldwell gar nicht ein. Er beklagt lediglich zum einen das Trittbrettfahrer-Verhalten der EU-Europäer und fordert von ihnen, die Hauptverantwortung für ihre eigene Sicherheit zu übernehmen. Die USA sollten seiner Meinung nach „die Stärkung der Nicht-Nato-Sicherheitsarchitektur in Europa fördern“ (the strengthening of the non-NATO security architecture in Europe) und aufhören, „die Nato als heiliges Sakrament“ (NATO as a holy sacrament) zu behandeln.

Nun ja, der Vorwurf des Trittbrettfahrer-Mentalität ist nicht neu. Bereits 2004 beklagte Ulrich Menzel: „Nicht nur sicherheitspolitisch ist Europa Trittbrettfahrer der USA, auch die sozialstaatliche Abfederung des europäischen Paradieses ist nur möglich, weil die USA den Militärausgaben gegenüber den Sozialausgaben mehr Gewicht beimessen“4 und sich die westliche Supermacht nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang im wohlverstandenen Eigeninteresse um die Stabilität der liberalen Weltordnung kümmerte und deswegen das Trittbrettverhalten der europäischen Verbündeten tolerierte.

Zum anderen müsse eine konservative China-Strategie mehr sein als nur eine rhetorische Beschimpfung Pekings. Die USA müssen vielmehr die Versorgung ihrer ostasiatischen Partner vorrangig mit defensiven Waffensystemen wie Luftabwehr- und Antischiffsraketen ausstatten, die die Kosten der chinesischen Aggression effektiv erhöhen können.

Die beiden Vorschläge zeigen, wie wenig das strategische Denken auch bei den US-Konservativen vorhanden ist. Zwar kritisieren sie Bidens Außenpolitik unentwegt, drehen sich aber stets im Kreis und können die jahrzehntelang praktizierte konfrontative US-Außenpolitik nicht sprengen. Zwar ist die Nato das Relikt des „Kalten Krieges“, das bereits Trump für obsolet erklärte. Es ist aber realitätsfremd, die Nato vor dem Hintergrund des tobenden Krieges in Europa abwickeln bzw. die US-Truppen aus Europa abziehen zu wollen.

Zwar ist es verständlich, dass die US-Konservativen in China eine größere Gefahr und darum schwerpunktmäßig die Konzentration der US-Streitkräfte im Indopazifik befürworten. Die beiden Vorschläge ermöglichen aber weder eine kohärente US-Außenpolitik noch sind sie eine neue US-Geostrategie, da sie letztendlich weiterhin im Modus der Eskalation und Konfrontation verbleiben.

Das ist aber nicht einmal das Hauptproblem der US-Konservativen mit ihrer Forderung nach einer anderen US-Außenpolitik. Das liegt in erster Linie daran, dass sie die außenpolitischen Intentionen der Trump-Administration immer noch nicht richtig begriffen haben. Die wesentliche Intention von Trumps Außenpolitik war die US-Interventionspolitik der vorangegangenen zwei Jahrzehnte zu überwinden. Das ist ihm nur zum Teil gelungen, zumal die nachfolgende US-Administration unter Bidens Führung im Traum nicht daran dachte, auf die längst zur Tradition versteinerte US-Interventionspolitik zu verzichten.

Worum ging es nun Trump? Trump hat richtig erkannt, dass die US-Interventionspolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“ gescheitert ist. Die Kehrseite dieser Erkenntnis war aber Trumps zunehmende Merkantilisierung der US-Außenpolitik bzw. der US-Außenwirtschafts- und Handelspolitik. Die Trump-Administration hat mit anderen Worten den US-amerikanischen Protektionismus reanimiert und die US-Außenpolitik von Grund aus geoökonomisiert.5

Geoökonomie war zu Zeiten der Trump-Administration – wie die Handelsblatt-Autoren 2018 zutreffend anmerkten – „der Schlüsselbegriff dieser neuen Zeit.“ Statt Panzer und Marschflugkörper nützt die Geoökonomie lieber „wirtschaftliche Instrumente, um geopolitische Interesse zu verfolgen. … Es ist die Rückkehr des Merkantilismus im neuen Gewand. Die Ziele sind die gleichen: Reichtum anhäufen, Einflusszonen aufbauen, Abhängigkeiten schaffen. Letztendlich geht es in ersten Linie um Dominanz“6 und im Falle des US-Hegemonen geht es nicht mehr und nicht weniger als „um die Weltherrschaft“.7

Das Problem dieser geoökonomisch fundierten, mit handelspolitischen Sanktionen und finanziellen Repressionen ausgestatteten US-Außenpolitik der Trump-Administration war die Selbstgefährdung des US-Hegemonen, der einen Zielkonflikt zwischen dem globalen, hegemonialen Anspruch auf die weltweite Vormachtstellung und den nationalökonomischen wohlfahrtstaatlichen Interessen provozierte und dadurch die geopolitischen Rivalen China und Russland noch näher zueinander rücken ließ.

Damit verletzte aber Trumps Außenpolitik zwei fundamentalen Grundsätze der US-Geostrategie seit Nixons Präsidentschaft: (1) „Washington muss immer viel bessere Beziehungen mit Moskau und Peking als Moskau und Peking untereinander haben“ (Henry Kissinger). (2) „Die USA können sich eine Konfrontation mit Moskau leisten, falls sie nicht im Konflikt mit China stehen. Die USA können sich auch eine Konfrontation mit China leisten, falls sie nicht im Konflikt mit Moskau stehen. Eine gleichzeitige Konfrontation mit China und Moskau können die USA sich aber nicht leisten“ (Edward Luttwak).

Genau diesen Kampf an zwei Fronten führt die Biden-Außenpolitik heute. Die von der Trump-Administration eingeleitete Geoökonomisierung der Geopolitik wurde von der Biden-Administration einerseits nahtlos übernommen. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine führt sie andererseits einen gnadenlosen Geo-Bellizismus gegen Russland7 und militarisiert zugleich die US-Außenpolitik gegen die beiden geopolitischen Rivalen Russland und China.

Heute geht es also nicht mehr und nicht nur um eine Geoökonomisierung, sondern auch und insbesondere um eine Militarisierung der US-Außenpolitik. Diese Doppelstrategie der Biden-Administration ist riskant und halsbrecherisch. Sie beschleunigt nur noch eine Transformation der Weltfriedensordnung in eine Weltgewaltordnung und macht das Zeitalter der Kriege unabwendbar, in dem die Logik des Krieges und nicht die des Friedens dominiert.

Diese Doppelstrategie der Biden-Außenpolitik, die aus der Geoökonomisierung der Geopolitik der Trump-Administration und einer Militarisierung der US-Außenpolitik besteht, übersehen die US-Konservativen. Ihre Berufung auf die Trump-Außenpolitik ist darum irreführend, weil sie einen von Trump eingeleiteten Paradigmenwechsel in der US-Außenpolitik in seiner konfrontativen Tragweite verkennen und deren potenzielle Eskalationsfähigkeit ignorieren.

Zudem vermögen die US-Konservativen heute mit ihrer unbeholfenen und unreflektierten Kritik an der US-Außenpolitik der Biden-Administration eine wachsende Militarisierung der US-Außenpolitik nicht zu unterbinden, solange sie genauso wie die US-Demokraten auf Konfrontation und Eskalation setzen.

Das Gebot der Stunde ist aber heute eine kooperative und nicht konfrontative US-Außenpolitik. Aber genau diese Kooperationsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit fehlen den beiden Parteien. Zu sehr sind die USA mit ihrem auf Hegemonie ausgerichteten Verhaltensmuster behaftet und zu sehr bauen sie ihre außenpolitischen Beziehungen mit dem Rest der Welt ungebrochen auf ihrer immer noch geglaubten Weltdominanz auf.

Die US-Republikaner und die US-Konservativen sitzen ungeachtet aller Kritik in einem geopolitischen Boot. Auf Dauer ist eine solche konsensuale US-Außenpolitik zum Scheitern verurteilt. Sie hat keine Zukunft mehr.

Anmerkungen

1. Näheres dazu Silnizki, M., Die US-Konservativen und die US-Außenpolitik. Zur Frage nach einer alternativen US-Außenpolitik. 13. April 2023, www.ontopraxiologie.de.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai
2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Näheres dazu Silnizki, M., Russlands geopolitisches Weltbild. Aleksej Puškovs Analyse der US-Außenpolitik. 31. Mai 2023, www.ontopraxiologie.de.
4. Menzel, U., Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays. Suhrkamp 2004, 113.
5. Näheres dazu Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober
2021, www.ontopraxiologie.de.
6. Hua/Hoppe/Koch/Münchrath/Riecke, Kampf um Wohlstand. Handelsblatt, 23./24./25.02.2018, S. 51.
7. Felbermayer, G., „Es geht um die Weltherrschaft“. Interview. Handelsblatt, 7.05.2019, S. 5.

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