Verlag OntoPrax Berlin

Sandkastenspiele in den deutschen „Denkfabriken“

Zur Frage nach der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine

Übersicht

  1. Ein Glaubensbekenntnis statt einer nüchternen Analyse
  2. Der Kriegsausbruch, das Budapester Memorandum und „die Krim-Annexion“
  3. „Nationale Identität der Ukraine“?
  4. Die Ukraine als eine demokratisch verfasste Gesellschaft?
  5. Die US-Geostrategie und die Sicherheitsgarantien
  6. Ein sicherheitspolitischer Eskapismus

Anmerkungen

                                                                                                                „Самый страшный плен, это плен собственых иллюзий.“
(Die allerschlimmste Gefangenschaft ist die Gefangenschaft der eigenen Illusionen.)

  1. Ein Glaubensbekenntnis statt einer nüchternen Analyse

Im Vorfeld vom Nato-Gipfel in Vilnius ist eine gerade hysterisch geführte Diskussion über die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine ausgebrochen. Die interessierten Kreise heizen die Stimmung auf und manche Außenpolitiker und Politikberater fühlen sich regelrecht dazu berufen, ein Glaubensbekenntnis für den Nato-Beitritt der Ukraine abzugeben. Vor allem die Mittelosteuropäer, allen voran Polen und die baltischen Republiken, plädieren nachdrücklich für einen sofortigen ukrainischen Nato-Beitritt. Auch im „Old Europe“ werden Stimmen laut, die sich für eine schnellst mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine aussprechen. Freilich gab es vereinzelt auch besonnene Stimmen, wie die jüngste Veröffentlichung „Don’t Let Ukraine Join NATO“ von Justin Logan und Joshua Shifrinson in der renommierten Zeitschrift Foreign Affairs vom 7. Juli 2023 zeigt, die sich vehement gegen die Aufnahme der Ukraine in die Nato aussprechen. Diese Stimmen bleiben jedoch in der aufgeheizten und vom Krieg besessenen Stimmung, die von Mainstream-Medien geschürt wird, kaum wahrnehmbar. Und so glauben nicht nur die Außenpolitiker, sondern auch manche Repräsentantinnen der deutschen „Denkfabriken“ dazu aufgerufen zu sein, ihre „fachliche Expertise“ und in deren Schlepptau ihr Credo „natürlich“ für den Nato-Beitritt der Ukraine abzugeben. Wie könnte es auch anderes sein?! Zwar geben sie freimutig zu, dass ein solches „Abenteuer“ risikobehaftet sei. Was man aber nicht lassen kann, tut man eben doch. Mantraartig propagiert man mittlerweile allerseits und allerorts den ukrainischen Nato-Beitritt, indem man – offenbar ohne dessen bewusst zu sein – dem Slogan aus dem „Kalten Krieg“ folgt: „better dead than red“, um die Pro-Beitritt-Stimmung anzufeuern.

Die eifrigen Befürworter der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine glauben wohl das Wunschbare mit dem Machbaren, das Wunschdenken mit der geopolitischen Realität zu versöhnen, um ihre Allmachtsphantasien ausleben zu können, ohne dabei Rücksicht auf einen mächtigen Gegenspieler nehmen zu müssen. Sie reden sich unverdrossen und unermüdlich ein, dass Russland bloß ein Scheinriese und ein „Papiertiger mit Atombombe“ sei, wie Mao Tse-tung mit Bezug auf die US-Nuklearmacht zu sagen pflegte.

Wir leben im Zeitalter einer Politiker- und Beratergeneration, die im Gegensatz zu ihren Vätern und Müttern jedwede Angst und Furcht vor einem nuklearen Inferno verloren haben. Diese Angst- und Furchtlosen ignorieren jede Gefahr einer atomaren Konfrontation und entwerfen alle möglichen Theorien und Theoreme im Glauben, die nukleare Supermacht Russland damit beeindrucken, ja abschrecken oder gar einschüchtern zu können. Irritiert blickt man auf diese wahrlich beängstigende Entwicklung, die sich nicht nur in den Mainstream-Medien, sondern auch in manchen Veröffentlichungen niederschlägt, die dem interessierten Publikum als „Analysen“ zu aktuellen Fragen der europäischen und internationalen Sicherheitspolitik präsentiert werden. Man fragt sich besorgt: Verstehen sie überhaupt, wie sehr sie so mit dem Feuer spielen? Angst- und furchtlos entwerfen sie realitätsferne Theorien, sinnieren über die imaginären „Optionen“ für die ukrainische Nato-Mitgliedschaft und behandeln die nukleare Supermacht Russland, als wäre Russland eine Bananenrepublik. Einer der renommiertesten russischen außenpolitischen Experten, Dmitrij Trenin (Mitglied des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik Russlands und ehem. Direktor des Carnegie Moscow Center), wies bereits am 23. September 2022 in einem Interview auf das „Verschwinden der Angst“ (страх исчез) hin und meinte anschließend: „Ich habe den Eindruck, dass wir zumindest in Europa Menschen sehen, die mit geschlossenen Augen auf den Abgrund zusteuern. Und das ist in der Tat äußerst gefährlich. Darauf gibt es nur eine Antwort: Holen Sie die Angst zurück!“1

Der beste Beweis dafür, dass man in der Tat bereit ist, „mit geschlossenen Augen auf den Abgrund zuzusteuern,“ sind zwei Veröffentlichungen, die im Vorfeld vom Nato-Gipfel erschienen sind und nonchalant die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine befürworten, wohl wissend, dass selbst die Biden-Administration und die deutsche Bundesregierung sich dagegen aussprechen.

Nun ja, wer keine Verantwortung über Land und Leute trägt, kann es sich auch leisten, verantwortungslos zu sein. Eine Veröffentlichung stammt von zwei SWP-Autorinnen, Margarete Klein und Claudia Major, unter der Überschrift „Dauerhafte Sicherheit für die Ukraine“ (SWP-Aktuell 44, Juni 2023) und Benjamin Tallis verfasste eine DGAP-Studie „Security Guarantees for Ukraine“ (DGAP Policy Brief 21/2023, 30.06.2023).

Die beiden Studien plädieren ohne Wenn und Aber für die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, die angeblich „im geostrategischen und normativen Interesse der Nato (liegt)“ (SWP-Studie). Und die DGAP-Studie ergänzt: „Die NATO-Mitgliedschaft ist die einzig gangbare Option, um mittelfristig die Entstehung einer gefährlichen Grauzone zu vermeiden.“

Dass Russland ebenfalls seine Sicherheitsinteressen hat und auch in der Lage und willens ist, sie mit aller ihm zur Verfügung stehenden Gewalt zu verteidigen, ignorieren die beiden Veröffentlichungen. Sie argumentieren so, als würden sie in einem machtleeren Raum – einem Proseminar zur freien Assoziation – befinden und Russland als eine vernachlässigbare Entität behandeln.

Der Gedanke, dass der eigentliche Kriegsgrund womöglich eine nicht enden wollende Nato-Expansionspolitik bzw. Nato´s „open door policy“ sein könnte, scheint für Klein/Major und Tallis derart abstrus zu sein, dass es nicht einmal der Rede wert ist, darüber zu diskutieren. Schlimmer noch: Dass ausgerechnet das, was kriegsauslösend wäre, zur Grundlage einer möglichen Friedensregelung gemacht werden sollte, da verschlägt einem die Sprache. Verstehen die Autorinnen der SWP- und DGAP-Studien überhaupt, was sie da befürworten?

Offenbar ging es ihnen allein darum, die interessierte Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine „alternativlos“ sei. Die beiden Studien sind freilich alles andere als eine nüchterne Analyse der Vorgeschichte, Hintergründe und Ursachen des Ukrainekonflikts. Vielmehr sind sie Kampfschriften zwecks Propagierung und Rechtfertigung des ukrainischen Nato-Beitritts und eine Kampfansage an all jene, die die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine in Frage stellen.

Darum gründet ihre ganze Argumentation auf bloßen Unterstellungen, unbegründete Behauptungen, Klischees und nicht zuletzt Unkenntnis der russisch-ukrainischen Beziehungen der vergangenen dreißig Jahre.

2. Der Kriegsausbruch, das Budapester Memorandum und „die Krim-Annexion“

Bereits der erste Satz der SWP-Studie, der von einer „erneuten russischen Invasion“ spricht, ist eine Geschichtsklitterung. Ferner behauptet die Studie antifaktisch, dass Selenskyj „unter extremem militärischem Druck … im März 2022 eine Neutralität seines Landes und die Aufgabe des Ziels Nato-Beitritt an(bot) …“. Das war aber kein „Angebot“, sondern ein bereits ausgehandelter und unterschriebener Vertrag, in dessen Folge Russland seine Streitkräfte aus der Kiewer Umgebung abgezogen hat.

Den Abzug feierte die ukrainische Seite später als einen Sieg über die russischen Invasoren. In Wahrheit war das u. a. eine fatale strategische Fehleinschätzung der geo- und militärpolitischen Lage seitens der russischen Führung, die die Angelsachsen nicht auf ihre Rechnung hatte. Die Folge dieser Fehlkalkulation war, dass der überstürzte Abzug im Westen den Eindruck einer militärischen Schwäche Russlands erweckte, was den Krieg – statt einzuhegen – erst recht in Gang setzte.

Klein/Major rechtfertigen hingegen die Rücknahme des „Angebots“ durch die Ukraine mit der „Aufdeckung der russischen Massaker in Butscha und Irpin“. Der eigentliche Grund war vielmehr ein unangekündigter Besuch des Ex-Premierministers von Großbritannien, Boris Johnson, der am 9. April 2022 nach Kiew reiste, um den ausgehandelten Friedensvertrag mit tatkräftiger Unterstützung der USA im Hintergrund erfolgreich zu torpedieren.

Und was die „russischen Massaker in Butscha und Irpin“ angeht, so ist bis heute nicht ganz klar, was da geschehen ist, sieht man von dem seitens der Kiewer Regierung öffentlichkeitswirksam ausgeschlachteten Ereignis ab. Bis heute liegen keine Untersuchungsergebnisse vor. Nicht einmal die Namen der Opfer wurden öffentlich bekanntgemacht.

Um eine Wahrheitsfindung geht es aber der SWP-Kampfschrift gar nicht. Die Autorinnen begnügen sich vielmehr allein mit Gerüchten, Medienberichten und/oder mit den von der Kiewer Regierung gezielt gestreuten Desinformationen, worauf sie ihre ganze Studie aufbauen.

So rechtfertigt die SWP-Studie ihre Forderung nach der ukrainischen Nato-Mitgliedschaft mit dem ukrainischen Vorwurf, den sie sich zu eigen machen, dass nämlich weder „das Budapester Memorandum (1994) noch die politische Unterstützung westlicher Staaten … die Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbas ab 2014 verhindern (konnten), ebenso wenig den Angriff im Februar 2022. Mit dem Budapester Memorandum gab die Ukraine die auf ihrem Territorium stationierten Atomwaffen ab, wofür Russland, Großbritannien und die USA sich verpflichteten, die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten. Doch waren keine konkreten Sicherheitszusagen vorgesehen, sondern nur die Verpflichtung, im Konfliktfall zu beraten und den VN-Sicherheitsrat anzurufen. Russland verletzte das Budapester Memorandum mit der Annexion der Krim 2014.“

Hier werden verschiedene Sachverhalte miteinander vermengt und dadurch verzerrt dargestellt. Es wird zum einen der Eindruck erweckt, als hätte die Ukraine nur deswegen auf die Stationierung der Atomwaffen verzichtet, weil die Atommächte im Budapester Memorandum zusicherten, „die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine zu achten.“

Zum anderen stellt die SWP-Studie ein Junktim zwischen dem Budapester Memorandum und der sog. „Krim-Annexion“ her und beschuldigt Russland einer Vertragsverletzung. Diese ziemlich verkürzte Darstellung der russisch-ukrainischen Zeitgeschichte ist irreführend, unterschlägt sie doch – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt -, die ganze Komplexität der gegenseitigen Beziehungen in den vergangenen dreißig Jahren.

Erstens: Die Ukraine besaß zwar zu dem Zeitpunkt der Auflösung der UdSSR das drittgrößte Atomwaffenarsenal der Welt, hatte aber keine Verfügungsgewalt darüber, da Russland im Besitz der für den Einsatz der Atomwaffen erforderlichen Freischaltcodes war.

Zweitens konnte die Ukraine das Atomwaffenarsenal gar nicht finanzieren, da sie nach dem Zerfall der Sowjetunion pleite war. Das bestätigte kein geringerer als der erste ukrainische Staatspräsident, Leonid Kravčuk (1991-1994), in einem Interview für die Deutsche Welle am 12. Dezember 2014. Die Finanzierung hätte laut Kravčuk fünfundsechzig Dollar Milliarden gekostet und konnte seiner Meinung nach nicht finanziert werden.

Drittens übte bereits die Bush-Administration und später die Clinton-Administration einen massiven Druck auf die Ukraine, auf die im Lande stationierten Atomwaffen zu verzichten. Anderenfalls drohten sie die Ukraine zu isolieren. All das zeigt nur, dass die Bedeutung des ukrainischen Atomwaffenverzichts für das Budapester Memorandum nicht überschätzt werden darf.

Was das Budapester Memorandum selber angeht, so wurde es von der russischen Staatsduma nie ratifiziert und ist darum rechtlich nicht bindend gewesen. Selbst die deutsche Botschafterin in der Ukraine, Anka Feldhusen, hat in einem Interview (November 2020) erklärt, dass das Memorandum nicht mehr als eine politische Deklaration und kein internationaler Vertrag sei.

Dieser Auffassung schloss sich im Übrigen auch der ehem. US-Botschafter in der Ukraine, Steven Karl Pifer (1998-2000), der bei der Unterzeichnung des Memorandums anwesend war. In einem dem Fernsehkanal „112 Ukraine“ am 5. Dezember 2019 gegebenen Interview hat er darauf hingewiesen, dass im englischen Text des Memorandums das Wort „assurances“ und nicht „guarantees“ steht.

Vor diesem zeitgeschichtlichen Hintergrund kann von einer Verletzung der territorialen Unversehrtheit der Ukraine infolge der „Krim-Annexion“ mit Berufung auf das Budapester Memorandum gar keine Rede sein. Die Krim-Eingliederung in die Russländische Föderation muss vielmehr im Zusammenhang mit dem als „Maidan-Revolution“ verklärten Staatsstreich (2014) betrachtet werden.

Dieser Staatsstreich hat die Verfassung der Ukraine vom 28. Juni 1996 in eklatantester Weise verletzt

(„Niemand darf die Staatsgewalt usurpieren“, Art. 5) und die von der Verfassung garantierten freundschaftlichen russisch-ukrainischen Beziehungen („In der Ukraine wird die freie Entwicklung, der Gebrauch und der Schutz der russischen Sprache und der anderen Sprachen der nationalen Minderheiten der Ukraine garantiert“, Art. 10) in Frage gestellt.

Es war nur eine Frage der Zeit, dass auch der von der Verfassung garantierte Neutralitätsstatus der Ukraine („Auf dem Territorium der Ukraine ist die Errichtung ausländischer Militärstutzpunkte nicht gestattet“, Art. 17) ausgehebelt wurde. Die Besorgnis der russischen Führung, dass die Halbinsel Krim von der Nato zum Stutzpunkt benutzt und Russland aus der Krim verdrängt wird, war allzu verständlich. Denn die Halbinsel Krim ist für Russland genauso wie für die Nato von einer eminent strategischen Bedeutung.

Bereits 2004 haben Ronald D. Asmus und Bruce P. Jackson den geostrategischen Stellenwert der Krim für den Westen betont.2

Und was den immer wieder, auch von den Autorinnen der SWP-Studie erhobenen Vorwurf: Russland habe die Krim „annektiert“, angeht, so ist dieser Vorwurf selbst in der völkerrechtlichen Literatur umstritten. Annexion ist ein völkerrechtlicher Begriff. Klein/Major sind keine Völkerrechtlerinnen. Sie benutzen den Begriff deswegen nicht im völkerrechtlichen Sinne, sondern als einen geopolitischen Kampfbegriff zur Denunzierung des geopolitischen Rivalen. Auch hier zeigt sich, dass die SWP-Studie keine wissenschaftliche Analyse, sondern eine Kampfschrift zwecks einer gezielten Propagierung durchsichtiger geo- und sicherheitspolitischer Machtinteressen ist.

Eine Annexion liegt per definitionem nur dann vor, „wenn der annektierende Staat das fragliche Gebiet gegen den Willen und unter Ausschaltung der dort herrschenden Staatsgewalt vollständig und endgültig, d.h. effektiv und willentlich in Besitz nimmt.“3 Folgt man dieser Definition, dann wurde die Krim eben nicht annektiert! Annexion heißt die gewaltsame Inbesitznahme eines Gebiets gegen den Willen sowohl der Staatsgewalt als auch der Bevölkerungsmehrheit, und zwar unter Androhung von Gewalt. Die „russische militärische Drohgebärde“ hat – worauf Reinhard Merkel (der Hamburger Rechtsphilosoph und Mitglied im deutschen Ethikrat, 2012-2020) zu Recht hinweist – zwar gegen die UN-Charta verstoßen, „aber sich anders als bei einer Annexion, nicht als Drohung gegen die Bevölkerung der Krim gerichtet und daher das Ergebnis der Abstimmung nicht etwa zu einem schieren, abgenötigten Schwindel gemacht.“4

Der Kampf um die Halbinsel Krim begann im Übrigen bereits im Jahre 2005. Anlässlich des Nato-Gipfeltreffens am 21. April 2005 ermutigte Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer die Ukraine, einen „intensivierten Dialog“ mit der nordatlantischen Allianz zu beginnen. Am 27. Dezember 2005 unterzeichnete Victor Juščenko das präsidiale Dekret 1861/2005. Damit wurde die „Implementierung der Kooperation zwischen der Ukraine und der Nato“ zum staatlichen Grundsatz erklärt. Mit einem weiteren präsidialen Dekret vom 31. Januar 2006 legitimierte Juščenko die Stationierung von ausländischen Soldaten auf ukrainischem Boden, was bis zu diesem Zeitpunkt gemäß der Verfassung verboten war. Eine Genehmigung durch das Parlament in Kiew wurde jedoch nie erteilt. Diese transatlantische Integration stieß freilich sowohl in der Bevölkerung als auch bei Politikern auf breite Ablehnung. Unter Missachtung der Verfassung setzte Juščenko das vereinbarte Programm durch. Im Rahmen des ersten Nato-Manövers (See Breeze 2006) im Schwarzen Meer legte am 27. Mai 2006 der US-Frachter „Advantage“ im Hafen von Feodossija an. Zwei Tage zuvor landete bereits ein US-Militärflugzeug mit 117 Marines auf dem Flughafen von Simferopol, woraufhin sich massiver Protest der Krim-Bevölkerung gegen die „amerikanische Invasion“ formierte. Der Protest der Krim-Bevölkerung gegen die Nato war so groß, dass am Abend des 11. Juni 2006 125 US-Soldaten nach Deutschland ausgeflogen werden mussten. Am nächsten Tag folgten die restlichen 132 Männer. Mehr noch: Das Parlament der Krim hat am 6. Juni 2006 ein Gesetz verabschiedet, dass die Halbinsel zu einer „Nato-freien Zone“ erklärt hat.

Von diesen Ereignissen völlig unbeeindruckt, fing Georg W. Bush im Frühjahr 2008 damit an, seine Nato-Partner zur Gewährung des Membership Action Plan (MAP) für die Ukraine und Georgien zu drängen. Noch am 1. Februar 2008 erklärte Sergej Lavrov der amerikanischen Botschaft in Moskau, dass die Nato-Erweiterung, insbesondere in die Ukraine und Georgien, als eine „potentielle militärische Bedrohung eingestuft werden muss“.

Die USA ließen sich dennoch nicht davon abhalten, zwei Monate später dem Nato-Gipfeltreffen in Bukarest zu erklären, dass die Ukraine Nato-Mitglied werden soll. Die heftige öffentliche Reaktion Russlands darauf wurde in den USA so gewertet, dass man genau auf dem richtigen Weg sei, um diese Länder von Russland zu schützen. Dass Victor Janukovič als Gegner der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine 2010 die Präsidentschaftswahlen gewann, hätte im Westen als Zeichen gedeutet werden sollen, dass die Bevölkerungsmehrheit der Ukraine gar nicht der Nato beitreten wollte.

Stattdessen hieß die Devise von da an „jetzt erst recht“. Die Amerikaner wurden schließlich von Janukovič endgültig gegen sich aufgebracht, als er in Geheimverhandlungen mit Moskau das Abkommen von Charkow unterzeichnete, worin die im Jahr 2017 auslaufenden Verträge für den russischen Stutzpunkt in Sewastopol um weitere 25 Jahre verlängert werden.

Dieser knappe zeithistorische Exkurs macht deutlich, dass eine Gewaltandrohung gegen die Krim-Bevölkerung gar nicht nötig war, um die Krim zu „annektieren“. Mehr noch: Der Kampf um die Krim hatte eine geostrategische Dimension und richtete sich unmittelbar gegen die fortdauernde Nato-Expansionspolitik.

Allein schon vor diesem Hintergrund sieht man, dass es eine exzessive Nato-Expansionspolitik der vergangenen Jahrzehnte, die im Falle der Krim schon lange vor dem Jahr 2014 auf einen entschiedenen Widerstand der russischen Bevölkerungsmehrheit stieß, und nicht Putins vermeintlicher „Neoimperialismus“ der eigentliche kriegsauslösende Grund im Jahre 2022 war.

Die US-amerikanische Historikerin, Mary E. Sarotte, hat in ihrem gerade erst veröffentlichten Artikel „NATO’s Worst-of-Both-Worlds Approach to Ukraine“ (Foreign Affairs, 10. Juli 2023) enthüllt, dass die Clinton-Administration bereits im Jahr 1994 (!) mit den Gedanken gespielt habe, die Ukraine in die Nato aufzunehmen. Sarotte verweist hierbei auf das Schreiben vom 13. Oktober 1994 des damaligen Nationalen Sicherheitsberaters, Antony Lake (1993-1997), an seinen Chef, Bill Clinton, über die „Möglichkeit einer NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine und der baltischen Staaten“ (possibility of NATO membership for Ukraine and Baltic States).

Überliefert ist auch Clintons Reaktion darauf: „Clinton zeichnete ein großes Häkchen auf die Titelseite von Lakes Empfehlungen und schrieb: >Es sieht gut aus<.“ (Clinton drew a large check mark the cover page of Lake’s recommendations and wrote, „looks good“). Wir schreiben, wie gesagt, das Jahr 1994!

Die Nato-Expansionspolitik und nicht Putins „Neoimperialismus“ war von Anfang an der Stein des Anstoßes in den russisch-amerikanischen Beziehungen nach dem Ende des „Kalten Krieges“.5

Und wenn die Autorinnen der SWP- und DGAP-Studien auf die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine beharren, was letztlich auf eine weitere Nato-Expansion hinausläuft, so bedeutet dieses Plädoyer, zu Ende gedacht, nicht nur der Krieg in Permanenz, sondern auch eine bewusste (?) Inkaufnahme der Gefahr einer atomaren Eskalation. Liegt eine solche Zukunftsperspektive wirklich im Interesse Deutschlands und der EU?

3. „Nationale Identität der Ukraine“?

Verwundert nimmt man auch solche Behauptungen der SWP-Studie zur Kenntnis, wie die folgenden: „Russlands Intentionen bleiben aggressiv, solange es – wie von Präsident Putin in geschichtsrevisionistischen Essays dargelegt – die territoriale Integrität, staatliche Souveränität und nationale Identität der Ukraine in Frage stellt … Solange die russische Führung an ihrem neoimperialen und aggressiven Ansatz festhält, droht ein erneuter Angriff“ usw. usf.

All das ist nichts weiter als eine leere Phraseologie. Sie denunziert, statt einer sachlichen Analyse gerecht zu werden und macht haltlose Vorwürfe, statt sachlich zu bleiben. Phrasendrescherei verstellt immer den Blick auf die Realität, wie sie ist und nicht wie sie sein könnte, mit fatalen, sich daraus ergebenden Schlussfolgerungen und Fehleinschätzungen. Phrasen verklären, statt aufzuklären. Was sie mitteilen (wollen), sind unverbindliche Assoziationen mit dem, was nicht da ist, aber da sein könnte.

In jeder Phrase lauert ein Phantom, ohne dass es im realen Leben vorkommt. Alle Phraseologie verbraucht sich in Folge unaufhaltsamer Abnutzung ihrer Bedeutung in der Kampfarena der Macht und verkommt letztlich zu einer einfachen Denunziation.

Darum ist völlig unklar, was Klein/Major unter Putins „Geschichtsrevisionismus“ verstehen und was sie mit „nationaler Identität der Ukraine“ meinen, von einem „neoimperialen“ Gerede ganz zu schweigen.

Die Ukraine war nie ein Nationalstaat! Der Versuch der Ukraine, nach der Erlangung ihrer Eigenstaatlichkeit bzw. nach der Loslösung vom Sowjetreich den eigenen ethnisch gefärbten Nationalstaat im multikulturellen Umfeld und gleichzeitig einen modernen Rechts- und Verfassungsstaat aufzubauen, musste kraft des Fehlens jedweder national- und rechtsstaatlichen Tradition zwangsläufig zu einer dysfunktionalen Entwicklung der politischen Institutionen und der gesellschaftlichen Formationen führen.

Hinzu kamen die geopolitisch motivierten Einwirkungen der raumfremden Mächte, welche die ukrainische Verfassungswirklichkeit zusätzlich verkomplizierten. Dieses gleichzeitige, sich selbst ausschließende Zusammenwirken vom Nationalismus, Herrschaftstradition und Geopolitik hat den Aufbau der rechts- und verfassungsstaatlichen Strukturen erschwert und eine macht-, sozial- und wirtschaftspolitische Verfassungswirklichkeit entstehen lassen, deren dysfunktionaler Charakter eine rechtsstaatliche und marktwirtschaftliche Entwicklung praktisch unmöglich machte.

Als Folge dieser Dysfunktionalität entstand eine Symbiose von der dem Westen entlehnten liberal-demokratischen Ideenwelt, dem ethnisch gefärbten Nationalstaatsbewusstsein und der tatsächlich gelebten, aber von den ukrainischen Führungs- und Machteliten unreflektierten russischen bzw. sowjetischen Herrschafts- und Verfassungstradition.

Im Unterschied zu der westeuropäischen Verfassungsentwicklung, in der das individuelle Bekenntnis zur grande nation die Nation als politische Willensgemeinschaft konstituierte, war in Mittel- und Osteuropa „die Nationszugehörigkeit dem Belieben des Individuums weitgehend entzogen. Sie war durch objektive Faktoren wie blutmäßige Abstammung, Sprache und kulturelle Überlieferung bedingt. Einem voluntaristischen stand mithin ein deterministischer Begriff der Nation gegenüber.“6 Genau diese Entwicklung beobachteten wir seit dem Staatstreich in der Ukraine (2014) mit wachsender Tendenz.

Mehr noch: Vor dem Hintergrund der geopolitisch motivierten verfassungsideologischen Expansionspolitik des Westens im postsowjetischen Raum und insbesondere in der Ukraine ist festzustellen, dass die westliche Verfassungsoffensive auf Granit des deterministischen Nationalstaatsbewusstseins gestoßen ist und dadurch einen grandiosen Schiffbruch erlitten hat. Sie musste auch deswegen auf der ganzen Linie scheitern, weil das erwachte Nationalbewusstsein darüber hinaus noch von der fehlenden neuzeitlichen Rechts- und Verfassungstradition begleitet wurde.

Diese westliche verfassungsideologische Oktroyierungspolitik hinterließ sodann nur noch einen Abklatsch der westlichen Demokratie in der Ukraine, anstatt eine liberal-demokratische Erneuerung des Landes in Gang setzen zu können.

Der Wandel vom totalitären Einheitsstaat zu einem liberal-demokratisch verfassten Nationalstaat schlug in der Ukraine allein schon deswegen fehl, weil die abgespaltete Sowjetrepublik sich primär als Territorial- und nicht als Personenverband definierte.

Das Kernproblem dieses vom Sowjetimperium abgespaltenen Territoriums ist der Umstand, dass das neu entstandene Machtgebilde namens Ukraine nach wie vor einerseits den Traditionsbeständen wie Abstammung und ethnische Zugehörigkeit und andererseits der russischen bzw. sowjetischen Herrschaftstradition verhaftet ist, die ihrerseits nach 2014 allmählich und unverhohlen mit einer Renaissance des auf Stepan Bandera und Roman Šuchevič zurückzuführenden ukrainischen Faschismus vermengt und in einen neuformierten eklektisch anmutenden ukrainischen Ultranationalismus transformiert wird.

Die Ukraine ist darum zu einer Entgrenzung ihres erneuerten ultranationalistischen Identitätsbewusstseins weder fähig noch willig. Der westlichen Verfassungsideologie steht eben diese ultranationalistisch fundierte und ethnisch gefärbte Entgrenzungsunwilligkeit des ukrainischen Identitätsbewusstsein im Wege. Sie kann ihn darum weder überwinden noch brechen.

Indem alle tradierten Inhalte einer verfassungspolitischen Integration des vormodernen Europas durch das neuzeitliche Legitimationsprinzip aufgerieben wurden und an ihre Stelle Verfahren traten, in denen über Inhalte unter Beteiligung der Staatsbürger erst entschieden wird, bezeichneten die nationalstaatlichen Grenzen nichts anderes als die Geltungsgrenzen dieses neuen Legitimationsprinzips und der auf dessen Grundlage zustande gekommenen Verfassungsordnung. „Grenzen dieser Art sind aber von vornherein auf Grenzüberschreitungen hin angelegt,“7 was dem ukrainischen Nationalismus zuwider ist.

Allein die prowestliche und antirussische Außenpolitik der Ukraine verschleiert diese antiliberale, antidemokratische und darum an und für sich antiwestliche Verfassungs- und Identitätsgesinnung der ukrainischen Funktions- und Machtelite. Der immer wieder stattfindende Versuch einer Sprengung dieses ethnisch gefärbten, antiliberalen Identitätsbewusstseins mittels des grenzüberschreitenden liberalen Legitimationsprinzips der Neuzeit ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Da aber das ukrainische Identitätsbewusstsein raumgebunden, nicht entgrenzend und darum gegenüber dem Entgrenzungszwang der westlichen liberalen Verfassungsideologie immun ist, hat sich in der Ukraine nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat etabliert, als vielmehr, wie gesagt, dessen Fassade.

Die neben dem neuformierten ukrainischen Ultranationalismus gleichzeitig existierenden auf die russische bzw. sowjetische Herrschaftstradition zurückgehenden, historisch gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen lassen sich zudem trotz einer prowestlichen ukrainischen Außen- und Geopolitik weder transformieren noch reformieren, sondern nur camouflieren, da diese kraft ihrer Eigengesetzlichkeit bestehen können und genügend Abwehrkräfte besitzen, um sich selbst unbeschadet der geopolitischen Orientierung zu behaupten.

Der Krieg in der Ukraine hat diese unauflösbare ukrainische Symbiose von einer prowestlichen Außen- und Geopolitik und antiliberalen innerstaatlichen Tendenz nur noch vertieft und verschlimmbessert. Das zu verstehen, bedeutet nicht eine „nationale Identität der Ukraine“ in welchem Zusammenhang auch immer bloß als gegeben zu unterstellen, wie es die Autorinnen der SWP-Studie tun, sondern im geopolitischen Kontext als einen der Gründe zu reflektieren, der auch den Kriegsausbruch in der Ukraine mitverschuldet hat.

  1. Die Ukraine als eine demokratisch verfasste Gesellschaft?

Die DGAP-Studie zeigt ebenfalls, wie wenig der Verfasser, Benjamin Tallis, die ukrainische Verfassungswirklichkeit kennt und wie sehr er ins Blau hinein argumentiert. Über eine „Demokratie“ in der Ukraine fantasierend, glaubt er getreu den ideologischen Mainstream-Vorgaben im Ukrainekonflikt einen imaginären Kampf zwischen Demokratie und Autokratie entdeckt zu haben: „Eine Erweiterung der Nato würde … die Wahrscheinlichkeit der autoritären imperialistischen Gewalt in der Zukunft verringern und die Tapferkeit der Ukrainer bei der Verteidigung der Demokratie eindeutig belohnen, indem sie ihre Chancen erhöht, aus ihrem Kampf ums Überleben eine bessere Zukunft zu erwecken. Dieser Imperativ ist eng mit anderen demokratischen Zielen verbunden, einschließlich des Wiederaufbaus der Ukraine, der eine starke Sicherheitsbasis erfordert, um die privaten Investitionen anzuziehen.“

Mehr noch: „Aus mehreren Gründen wäre die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine“ – beteuert Tallis – „auch die beste Option für alle Verbündeten, die sich dafür einsetzen, die Welt sicherer für Demokratien zu machen.“ Und er fügt gleich hinzu: „Noch wichtiger ist jedoch, dass demokratische Staaten nicht zulassen können, dass sich die Aggression Russlands auszahlt … Eine Erweiterung der Nato würde somit die Wahrscheinlichkeit autoritärer imperialistischer Gewalt in der Zukunft verringern – und die Tapferkeit der Ukrainer bei der Verteidigung der Demokratie eindeutig belohnen, indem sie ihre Chancen erhöht, aus ihrem Kampf ums Überleben eine bessere Zukunft zu erwecken.“

Es ist faszinierend, immer wieder zu sehen, wie sehr doch die neue Expertengeneration ideologisch anpassungsfähig ist und wie schnell sie gelernt hat, ihre rudimentären Sachkenntnisse ideologisch zu camouflieren. Hier werden im gleichen Atemzug sowohl die ideologischen Vorgaben des Systems als auch die virtuelle Welt der Medien mit der ukrainischen Verfassungswirklichkeit verwechselt.

Offenbar hat Tallis noch nicht gemerkt, dass die „Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) spätestens mit dem Untergang der bipolaren Weltordnung zu Ende gegangen ist. Wir leben mittlerweile im Zeitalter der Großmächterivalität und der Ukrainekonflikt ist in diesem Kontext geopolitischer und nicht ideologischer Natur.

Als wäre das nicht genug, verklärt der DGAP-Autor die Nato als eine Wohltätigkeitsorganisation. „Neben den starken militärischen Fähigkeiten, insbesondere denen der USA, ist der >soziale< Effekt der Bündnismitgliedschaft (the >social< effect of alliance membership) ein Schlüsselelement für die Widerstandsfähigkeit der Nato.“ Und darin sieht er den eigentlichen Grund, „warum die Ukraine dem Bündnis beitreten will.“

Dass die Ukraine womöglich ein Nato-Mitglied werden will, damit die Allianz mit und für die Ukraine gegen Russland kämpft, kommt Tallis offenbar gar nicht in den Sinn. Zu sehr ist er damit beschäftigt, sich und die Umwelt darin zu überzeugen, wie wichtig die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sei.

Dabei ist es gar nicht klar, was er unter „der“ Ukraine versteht, und ob er sich darüber überhaupt im Klaren ist, dass auf ukrainischem Boden neben der geopolitischen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ein Bürgerkrieg tobt. Da kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer, prorussische Ukrainer gegen prowestliche Russen genauso, wie proukrainische Russen gegen russische Ukrainer usw.

Und was die Demokratie in der Ukraine angeht, so wäre der DGAP-Autor gut beraten, zunächst die ukrainische Geschichte der vergangenen dreißig Jahre genauer zu studieren. In der gut dreißigjährigen Geschichte der ukrainischen Eigenstaatlichkeit war sie zu keiner Zeit eine demokratisch verfasste Gesellschaft im Sinne eines westlichen Rechts- und Verfassungsstaates, wenn man die ukrainische Verfassungswirklichkeit und nicht die Verfassungsurkunde der Ukraine zugrunde legt. Formalrechtlich war nämlich auch die Sowjetunion laut der Stalin-Verfassung von 1936 inmitten des Stalin-Terrors „die demokratischste Demokratie der Welt“.

Und selbst nach 2014 hat sich in der Ukraine nicht so sehr ein Rechts- und Verfassungsstaat als vielmehr dessen Fassade etabliert. Diese Fassade verschleiert(e) ein jeglicher liberalen Verfassungssubstanz entleertes Machtgebilde, das die liberale Verfassungsrhetorik nach außen zwar zur Schau stellt, nach innen aber weder in der Lage noch gewillt war, ihr Folge zu leisten.

Diese bloße Imitation geht zum einen mit dem Verlust der eigenen kulturellen Identität einher, ohne dass sich die liberalen Verfassungsgrundsätze etablieren können, und wirkt sich zum anderen destruktiv auf die traditionellen Lebensstrukturen aus, nachdem sie die eigene historisch-gewachsene Tradition für disponibel erklärt hat.8

Und heute? In Kriegszeiten ist aus einer demokratischen Fassade längst eine Militärdiktatur geworden und wird vom Westen aus geo- und machtpolitischen Gründen als „demokratisch“ verklärt. Dieses Machtgebilde will Tallis zusammen mit den transatlantischen Machteliten in die Nato-Allianz aufnehmen, liegt doch diese Zielsetzung auch nach Klein/Major „im geostrategischen und normativen Interesse der Nato“.

4. Die US-Geostrategie und die Sicherheitsgarantien

In Verkennung der kriegsauslösenden Ursachen des Ukrainekonflikts9 bei gleichzeitiger Ignorierung der langwierigen geopolitischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen wirft die SWP-Studie Russland „Neoimperialismus“ vor.

Der Vorwurf eines „Neoimperialismus“, den Olaf Scholz mit seinem Artikel „The Global Zeitenwende. How to Avoid a New Cold War in a Multipolar Era“ in Foreign Affairs am 5. Dezember 2022 in die Welt gesetzt hat10 und von den Autorinnen kritiklos übernommen wurde, verkennt völlig die Intention, Ursachen und Hintergründe des Ukrainekonflikts.

Das hat aber bei einer Beurteilung der aktuellen und künftigen geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen folgenschwere Konsequenzen. Denn die von der SWP-Studie vorgestellten „drei Optionen für Sicherheitsgarantien“ der Ukraine lösen in keinerlei Weise weder das Sicherheitsdilemma Europas noch gewährleisten sie irgendwelche Sicherheit für die Ukraine.

Ganz im Gegenteil: Die sog. „Sicherheitsgarantien“ perpetuieren nur noch die militärische Konfrontation, führen zu einem Krieg in Permanenz und erhöhen die Gefahr einer nuklearen Eskalation. Das sind weder friedensstiftende noch eine militärische Eskalation entschärfende „Optionen“, sondern im besten Falle Sandkastenspiele und im schlimmsten Falle Kriegstreiberei.

Die allerwichtigste Frage stellen die Autorinnen gar nicht: Führen die drei vorgeschlagenen Optionen nicht dazu, dass die Ukraine als ein souveräner Staat zu existieren aufhört? Sie verkennen zudem die Ziele und Intentionen der US-Geostrategie im Ukrainekonflikt. Das Letzte, was die US-Geopolitik interessiert, sind die Sicherheitsgarantien für die Ukraine, weil die US-amerikanische Ukrainepolitik der Biden-Administration primär und in erster Linie eine Anti-Russlandpolitik ist.

Ob dabei die Ukraine zerstört, verseucht, entvölkert oder in anderer Art und Weise unter die Räder kommt, ist nebensächlich, solange Russland als geopolitischer Rivale (dauerhaft) geschwächt wird und man sich der eigentlichen Aufgabe – der Beherrschung Eurasiens – widmet. Denn bei diesem Konflikt geht es den US-Geostrategen gar nicht um die Ukraine, sondern um dasjenige, was Zbigniew Brzezinski einst „imperiale Geostrategie“ nannte.11

Die Ukrainepolitik der Biden-Administration kann und muss im Kontext der US-Russlandpolitik verstanden und begriffen werden. Weder die Sicherheitsgarantien für die Ukraine noch die ukrainische Nato-Mitgliedschaft, sondern eine „strategische Niederlage“ bzw. eine maximale Schwächung Russlands steht im Zentrum der US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.

Wen interessieren dann schon Menschenleben, die Verelendung der Bevölkerung, ein zerstörtes Land usw., wenn es um eine geo- und sicherheitspolitische Vormachtstellung der USA in der Welt und nicht zuletzt um profitable Geschäfte mit dem Krieg und dem Tod geht? Das Leiden und Elend der Menschen sind dann nur noch Fußnoten im blutigen Buch der Geschichte.

Einen solchen Zynismus hat kein geringerer als einer der führenden US-Geostrategen, Zbigniew Brzezinski (1928-2017), verkörpert. 1998 enthüllte er in einem Interview mit der französischen Zeitung „Le Nouvel Observateur“, dass die USA bereits vor dem Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan die Mudschaheddin finanziell unterstützt hätten. Ziel sei es gewesen, die Wahrscheinlichkeit eines Einmarsches der Sowjets zu erhöhen.

Gefragt, ob er die Unterstützung des islamischen Fundamentalismus inzwischen bereuen würde, antwortete Brzezinski unverblümt: „Was soll ich bereuen? Diese verdeckte Operation war eine hervorragende Idee. Sie bewirkte, dass die Russen in die afghanische Falle tappten und Sie erwarten ernsthaft, dass ich das bereue. Am Tag, da die Russen offiziell die Grenze überschritten, schrieb ich Präsident Carter: Jetzt haben wir die Möglichkeit, der UdSSR ihr Vietnam zu liefern.“

Als der Interviewer nachhakte und auf die Verknüpfung von islamischem Fundamentalismus und Terrorismus hinwies, antwortete Brzezinski: „Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte? … Ein paar verwirrte Muslime oder die Befreiung Mitteleuropas und das Ende des Kalten Krieges?“12

In der Tat: Was ist wohl bedeutender für den Lauf der Weltgeschichte: die Ausschaltung eines mächtigen geopolitischen Rivalen oder ein paar verwirrte und missbrauchte Muslime zwecks Aufrechterhaltung und Ausbaus der US-Welthegemonie? So unsentimental ist nun mal die US- Geo- und Weltpolitik!

Und genau das passiert hier und heute in der Ukraine, auch wenn sich die USA nach außen bei jeder Gelegenheit lautstark zur Kämpferin für die ukrainische Souveränität gegen die russische Aggression hochstilisieren und rhetorisch „uneingeschränkt“ für die Freiheit und Unabhängigkeit des Landes eintreten.

Es geht den US-amerikanischen „Freunden“ allein um die Geopolitik. Alles andere ist das ein zu nichts verpflichtendes Gebaren. Dass dabei die leidgeprüften Ukrainerinnen in Mitleidenschaft gezogen würden, sei miteinkalkuliert und bleibe lediglich eine Fußnote im Buch der Geschichte. Entscheidend ist aus US-geostrategischer Sicht, dass der geopolitische Rivale militärisch geschwächt, moralisch delegitimiert und ökonomisch ruiniert wird.

Zwar diagnostizieren auch Klein/Major die US-amerikanische „Skepsis“ betreffend „einer Beitrittseinladung“, zeigen dafür gar ein Verständnis, indem sie „zahlreiche Risiken eines ukrainischen Nato-Beitritts“ aufzählen: „Eskalationsgefahren, Zeitpunkt, territoriale Reichweite“ und „Handlungsfähigkeit der Nato“.

Sie verkennen aber im gleichen Atemzug die Intention der US-Geopolitik, indem sie am Ende ihrer Studie wortreich beteuern: „Eine >Nichtreaktion< der Alliierten auf dem Nato-Gipfel im Juli kann in der Kriegssituation fatale Folgen haben, weil sie ein Signal der Schwäche und des Zweifelns an die Ukraine und an Russland senden würde. Anstatt die Beitrittsfrage zu vertagen, sollten die Alliierten praktische Zwischenschritte vorschlagen, die der Ukraine unmittelbar nutzen und sie im Interesse der Nato (und der EU) verlässlich absichern.“

„Fatale Folgen“? „Signal der Schwäche“? „Praktische Zwischenschritte“? Welche denn? Diejenigen, die „der Ukraine unmittelbar nutzen und sie im Interesse der Nato (und der EU) verlässlich absichern,“ behaupten Klein/Major. Wer sagt aber, dass die Interessen der Ukraine und die der Nato deckungsgleich sind? Und vor allem: Wer entscheidet darüber?

Allein die USA als die europäische Ordnungsmacht! Die US-Interessen sind die der Nato und es liegt eben nicht im US-Interesse die Ukraine in die Nato aufzunehmen! Warum sollten die USA all die von den Klein/Major zu Recht aufgezählten Risiken auf sich nehmen, wenn die Ukraine auch außerhalb des Nato-Bündnisses alles tut, was der US-Geostrategie nützt, nämlich Russland so viel wie möglich zu schaden, um es zu schwächen? Was will man mehr?

Dass die ukrainische Führung sich nicht zu schade ist, sich für die USA im Machtkampf gegen Russland instrumentalisieren zu lassen, ist ein ganz anderes Thema. Dass Klein/Major das nicht wahrhaben wollen, zeigt der Schlusssatz ihrer Studie: „Sollte Vilnius zu einem Gipfel der Unentschlossenheit werden, während parallel die ukrainischen Offensiven in einem möglicherweise entscheidenden Kriegsjahr stattfinden, könnte Russland das als Zeichen der Schwäche des Westens und als Ermunterung verstehen, den Krieg fortzusetzen.“

Dieser Schlusssatz bestätigt zum wiederholten Mal, wie wenig sie die US-Geostrategie der Biden-Administration verstehen, wie wenig sie die Ursachen des Ukrainekonflikts begreifen und wie sehr sich die deutsche Politikberatung provinzialisiert hat. Da hatte die deutsche Sowjetologie zurzeit des „Kalten Krieges“ mehr zu bieten, als die heutige „angst- und furchtlose“ Beratergeneration.

Das Gute am „Kalten Krieg“ war, dass er „kalt“ geblieben ist, sagte Dmitrij Trenin einst. Hoffentlich bleibt auch die gegenwärtige Konfrontation zwischen Russland und der Nato „kalt“. Zweifel sind freilich in Anbetracht einer Generation der „Angst- und Furchtlosen“ mehr als angebracht.

5. Ein sicherheitspolitischer Eskapismus

Nun stellt die SWP-Studie die These auf, dass die Gewährleistung der langfristigen Sicherheit der Ukraine im Interesse Deutschlands, der EU und der Nato liege. Um die These zu untermauern, zählen Klein/Major vier Gründe auf:

  • Russlands Besetzung der Ukraine verschlechtert „massiv“ „die Sicherheitslage in Europa“. „Ein russischer Erfolg würde in Moskau die Überzeugung festigen, dass sich außenpolitische Interessen mit militärischer Gewalt durchsetzen lassen.“ Conclusio: Die „Militarisierung der russischen Außenpolitik“ lasse „sich nur brechen, wenn Russland eine eindeutige Niederlage erleidet.“

Geht man von dieser Begründung aus, so stellen sich mehrere Fragen: Wird „die Sicherheitslage in Europa“ wirklich verschlechtert oder vielmehr die Nato-Expansionspolitik zurückgedrängt, damit die hegemoniale Dysbalance13 überwunden und ein Machtgleichgewicht in Europa wiederhegestellt wird? Ist die „Militarisierung der russischen Außenpolitik“ keine Antwort auf die westliche „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock), die bereits mit dem völkerrechtwidrigen Angriffskrieg der Nato gegen die Volksrepublik Jugoslawien (1999)

begonnen hat? Und ist die „militärische Gewalt“ aus westlicher bzw. US-amerikanischer Sicht kein legitimes Mittel der westlichen bzw. US-Außenpolitik? Haben die USA in den vergangenen zwanzig Jahren (1999-2021) keine zahlreichen Interventions- und Invasionskriege durchgeführt, ohne dass Klein/Major ihnen vorgeworfen haben, die außenpolitischen Interessen „mit militärischer Gewalt“ durchsetzen zu wollen?

  • Die „militärische Unterstützung der Ukraine“ trage „schon jetzt zur Verteidigung der regelbasierten Ordnung und damit auch zur Sicherheit“.

Was die SWP-Autorinnen unter dem Ausdruck „regelbasierte Ordnung“ verstehen, bleibt völlig im Dunkeln. Aber genau darin besteht das Kernproblem der europäischen und internationalen Friedens- und Sicherheitsordnung. Die sog. „regelbasierte Ordnung“ ist längst zu einem geopolitischen Kampfbegriff mutiert, den der Westen wie eine Monstranz vor sich herträgt, um die eigenen geo- und sicherheitspolitischen Machtinteressen zu legitimieren.

Was wir seit dem Ende der bipolaren Weltordnung beobachten, ist das Vorhandensein von zwei parallellaufenden Ordnungssystemen, die sich zwar überlappen und aufeinander angewiesen sind, nicht desto weniger aber zwei voneinander unabhängige Ordnungsprinzipien und Machtzentren innehaben. Die beiden verhalten sich zueinander wie Friedenssicherungs- zu Friedensschaffungssystem.

Das eine beruht auf dem höchsten Ordnungsprinzip der UN-Charta – dem Prinzip der kollektiven Friedenssicherung. Es ist ein völkerrechtlich legitimiertes und geopolitisch induziertes Machtverteilungsprinzip der kollektiven Friedenssicherung. Das andere beruht hingegen auf einem „regelbasierten“ Ordnungsprinzip, dessen einzige „Regel“ im sich selbst legitimierenden Machtwillen des Suzeräns besteht, den Weltfrieden durch seine eigenmächtige Friedenschaffungsfunktion nach Belieben gewährleisten zu können.

Ein solches Friedensschaffungssystem ist seinem Selbstverständnis nach ideologisch fundiert und nicht rechtlich legitimiert, geopolitisch und nicht völkerrechtlich sanktioniert. Die ideologische Quintessenz der Friedensschaffungsfunktion der „regelbasierten Ordnung“ hat der Vorsitzende des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle , bereits 2002 mit einer kaum zu übertreffenden Deutlichkeit zum Ausdruck gebracht, als er seine „tiefe Besorgnis“ darüber geäußert hat, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der Nato als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).

Richard Perle lieferte damit eine ideologische Rechtfertigung für die Transformation des Systems der kollektiven Friedenssicherung der UN-Charta in das Friedensschaffungssystem der von den USA dominierten unipolaren Weltordnung, die auf dem Gewaltmonopol des US-Suzeräns und nicht auf dem des UN-Weltsicherheitsrates beruht.

Die Protagonisten nennen dieses von den USA favorisierte Weltordnungssystem die „regelbasierte Ordnung“. Die sog. „regelbasierte Ordnung“ beruht auf einer Umdeutung des UN-Rechts der kollektiven Friedenssicherung in ein von den USA monopolisiertes Friedensschaffungssystem, welches für sich das Recht in Anspruch nimmt, über Krieg und Frieden eigenmächtig zu entscheiden.

Und es war der verstorbene Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007), der bereits 2003 das Selbstermächtigungsrecht der noch nicht so genannten „regelbasierten Ordnung“ mit Nachdruck befürwortete. Er nannte sie „Weltgewaltordnung“.14 Was Klein/Major hingegen unter „regelbasierter Ordnung“ verstehen, ist nicht erkennbar.

  • Dass „die Sicherheitslage in Europa“ „stabiler wäre, wenn nach dem Krieg eine der stärksten und kampferprobtesten Armeen Europas in die Nato integriert würden“, ist ein Wunschdenken.

Zum einen ist die vermeintliche „stärkste Armee Europas“ längst dezimiert worden. Allein seit dem Beginn der sog. ukrainischen „Konteroffensive“ am 4. Juni 2023 haben die ukrainischen Streitkräfte innerhalb von nur sechs Wochen nach Angaben des russischen Verteidigungsministers, Sergej K. Schojgu, vom 11. 07.2023 gut 26000 Militärangehörigen verloren.

Und folgt einer Einschätzung von Robert F. Kennedy jr., dem Neffen des 35. US- Präsidenten, John F. Kennedy, der seine Bewerbung für die Präsidentschaftskandidatur 2024 offiziell eingereicht hat, so sieht die Lage für die ukrainische Armee geradezu katastrophal aus. Die Ukraine habe seiner Meinung zufolge seit dem Kriegsausbruch einen Verlust von ca. 350.000 Militärangehörigen zu beklagen.

Ferner hat das russische Verteidigungsministerium am 9. Juli 2023 Zahlen über die Söldner-Truppen in der Ukraine veröffentlicht, die auf der ukrainischen Seite gegen Russland kämpf(t)en. Insgesamt zählte es 11675 Söldner aus 84 Ländern auf, worunter sich u. a. 2600 Polen, jeweils 900 aus den USA und Kanada, 800 aus Georgien, 700 aus Britannien, 300 aus Kroatien und 200 aus Frankreich befanden. 4845 wurden laut dem Verteidigungsministerium getötet und 4801 kehrten nach Hause zurück.

Wenn es so weiter geht, dann würde es bald womöglich gar keine ukrainische Armee mehr geben. Bedenkt man, dass sich die aktuelle Bevölkerungszahl in der Ukraine schätzungsweise zwischen zwanzig und dreißig Millionen bewegt, so stellt sich die Frage: Woher sollte die Ukraine denn ihre Soldaten überhaupt nehmen, um gegen Russland zu kämpfen und ihr Land zu befreien? Von einer „stärksten und kampferprobten Armee“ Europas kann unter diesen Umständen wahrlich gar keine Rede sein.

Zum anderen wäre der Krieg ohne eine beinahe hundertprozentige Kriegsfinanzierung und Waffenlieferung des Westens bereits morgen zu Ende. Das hat kein geringerer als der deutsche Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius behauptet.

Unter Applaus im Bundestag hat er bei der Regierungsbefragung am 24. Mai 2023 öffentlich kundgetan, was alle schon längst wussten. Wir sind in den Ukrainekrieg massiv involviert. Ohne den Westen, die USA, die EU und auch Deutschland wäre der Ukrainekrieg morgen zu Ende. Wörtlich sagte Pistorius mit kaum zu überbietender Deutlichkeit: „Wenn wir aufhören Waffen zu liefern, wäre das Ende der Waffenlieferungen heute das Ende der Ukraine morgen. Das mögen Sie wollen und akzeptieren, wir tun es nicht.“

  • Der „wirtschaftliche und infrastrukturelle Wiederaufbau der Ukraine“ erfordere „externe Sicherheit“, beteuern Klein/Major. Schön wär`s! Die Ukraine ist infrastrukturell zerstört, liegt ökonomisch am Boden und ist schon jetzt durch den Krieg ausgezerrt und ausgeblutet. Mehr noch: Bei den Waffen, die heute in der Ukraine im Umlauf sind, braucht sie eher eine innere denn eine „externe Sicherheit“.

Es stellt sich zudem die Frage: Wie soll die „externe Sicherheit“ ohne eine wie auch immer geartete Abmachung mit Russland errungen werden? Die Antwort unserer Sicherheitsexpertinnen folgt auf dem Fuße. Sie schlagen gleich „drei Optionen für Sicherheitsgarantien“ der Ukraine vor:

(1) „Die erste Option besteht in der Demilitarisierung Russlands.“ Das sei nur dann zu erreichen, meinen Klein/Major, wenn „die russische Führung und Bevölkerung … ihr neoimperiales Rollenverständnis aufgeben,“ was „ein Regimewechsel und eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der hegemonialen Vergangenheit unumgänglich“ mache.

Verwundert stellt man fest, dass die SWP-Autorinnen die Geschichte des postsowjetischen Russlands gar nicht kennen. Denn das, was sie empfehlen, haben Russen in den 1990er-Jahren nach dem Untergang des Sowjetreiches schon mal erleben dürften, und zwar mit verheerenden Folgen für Land und Leute.

Die 1990er-Jahre waren die Zeit der sog. „liberalen“ Reformen, Demokratisierungsbestrebungen und nicht zuletzt die bewusste Abwendung Russlands von seiner „imperialen Vergangenheit“. Kein geringerer als der erste Premier des postsowjetischen Russlands, Jegor Gajdar, der am 1. Januar 1992 die marktradikalen Reformen einführte, war immer der Überzeugung, dass „пытаться вновь сделать Россию империей – значит поставить под вопрос её существование“ (Der Versuch, aus Russland erneut ein Imperium zu machen, bedeutet seine Existenz in Frage zu stellen).15

Überliefert ist auch die berühmte Äußerung von Boris Jelzin, der bei seinem Auftreten in Kasan am 6. August 1990 dazu aufrief: „Берите столько суверенитета, сколько сможете проглотить“ (Nehmen Sie so viel Souveränität, wie Sie schlucken können). Zwar wird Putins Äußerung: Die Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ oft dazu missbraucht, ihm eine restaurative bzw. revisionistische und neoimperiale Außenpolitik vorzuwerfen und der westlichen Öffentlichkeit zu suggerieren, dass er von einer Wiederherstellung des Sowjetreiches träume.

Dieser Suggestion fehlt aber jegliche geopolitische Substanz. Zum einen unterschlägt man eine andere, von Putin noch 2010 vertretene Auffassung: „Wer den Untergang der UdSSR nicht bedauert, hat kein Herz. Wer aber die UdSSR wiederherstellen will, hat keinen Verstand.“ Zum anderen würde sich Russland national- und geoökonomisch übernehmen, würde es das imperiale Abenteuer anstreben wollen.

Das Ergebnis der sog. „liberalen Reformen“ der 1990er-Jahre war niederschmetternd, was allgemein bekannt ist und längst untersucht wurde.16

Das bedeutet aber im Umkehrschluss, dass die von Klein/Major vorgebrachte Begründung für die Sicherheitsoption weder mit einem „neoimperiale Rollenverständnis“ noch mit der „hegemonialen Vergangenheit“ etwas zu tun hat. Vielmehr liegen die Gründe ganz woanders.

(2) Die zweite Option ist erst recht völlig abenteuerlich. Sie besteht darin, „dass die Ukraine ihr Abschreckungspotential durch eine unilaterale Nuklearisierung stärkt, das heißt entweder ein Atomwaffenarsenal aufbaut oder mittels einer Ankündigung Druck erzeugt.“ Eine Art Einschüchterungsoption!?

Die beiden Optionen sind derart abstrus, dass Klein/Major sie selber als realitätsfern betrachten: „Eine Demilitarisierung ist zurzeit unrealistisch, eine Renuklearisierung nicht wünschenswert, denn sie würde die europäische Sicherheitsordnung und das globale Nichtverbreitungsregime schwer belasten und sicherlich russische Reaktionen provozieren.“

(3) Wozu ist dann das ganze Gerede von der „Demilitarisierung“ und „Renuklearisierung“? Allein um das eigentliche Anliegen der SWP-Studie zu propagieren, nämlich die einzig „richtige“ (dritte) Option. Und die heißt – wie konnte es auch anderes sein -: die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. „Die abschreckende Wirkung gegenüber Moskau“ ließe sich „am effektivsten durch eine Nato- Mitgliedschaft der Ukraine erzielen. Sollten die Alliierten ihr diese Perspektive nicht aufzeigen, könnte sie über andere Wege versuchen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, beispielsweise einer Renuklearisierung.“

Also doch „eine Renuklearisierung“!? Was Klein/Major hier die ganze Zeit konstruieren und propagieren, ist weder Außenpolitik noch Sicherheitspolitik, sondern eine Obsession! Zwanghaft versuchen sie Luftschlösser zu bauen, die jenseits jeder geo- und sicherheitspolitischen Realität sind.

Zudem verstehen sie offenbar nicht, dass ihr obsessives Beharren auf die „Nato-Mitgliedschaft“ statt Sicherheit für die Ukraine das Ende der ukrainischen Souveränität bedeuten könnte.

Das sind Sandkastenspiele, die weder mit der Vorgeschichte des Ukrainekonflikts noch mit dem Kriegsgeschehen an der Front etwas zu tun haben. Auf diese Art und Weise wird man weder Sicherheitsgarantien für die Ukraine gewährleisten noch Russland abschrecken noch diesen völlig überflüssigen Krieg beenden können.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Silnizki, M., Ist die Geschichte wiederkehrbar? Zur Gefahr einer schleichenden Globalisierung des Krieges. 5. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de; ders., „Strategischer Parasitismus“ oder verantwortungslose Strategie? Zur Frage nach Angstlosigkeit und Nuklearhysterie. 18. Oktober 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Asmus, R. D./Jackson, B. P., Eine Strategie für den Schwarzmeer-Raum, in: Internationale Politik 6 (2004), 75-86.
3. Ipsen, K., Völkerrecht. München 62014, 5, 29.
4. Merkel, R., Warum die Krim nicht annektiert wurde und der Westen „mit gespaltener Zunge“ redet, 10.01.2018.
5. Näheres dazu Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de; ders., Zwischen Dilettantismus und Hegemonismus. Außenpolitische Fehlkalkulationen: gestern und heute. 3. Juli 2023, www.ontopraxiologie.de.
6. Winkler, H. A., Der Nationalismus und seine Funktion, in: ders., Liberalismus und Antiliberalismus. Studien zur politischen Sozialgeschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts. Göttingen 1979, 52-80 (54).
7. Maus, I., Vom Nationalstaat zum Globalstaat oder der Verlust der Demokratie, in: ders., Über Volkssouveränität. Elemente einer Demokratietheorie. Berlin 2011, 375-406 (379).
8. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Zur Frage der europäischen Glaubwürdigkeit. Von der Umarmung der US-Geopolitik erdrückt. 28. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
10. Vgl. Silnizki, M., „The Global Zeitenwende“. Russlandbild des Bundeskanzlers. 20. Dezember 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US- amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
12. Zitiert nach Ritz, H., Warum der Westen Russland braucht. Die erstaunliche Wandlung des Zbiegniew Brzezinski, in: Blätter f. dt. u. intern. Politik 57 (2012), 89-97 (90).
13. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Die „regelbasierte Ordnung“ und der „Globale Süden“. Zur Frage der nichtwestlichen Perzeption des Ukrainekonflikts. 13. März 2023, www.ontopraxiologie.de; ders., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Гайдар, Е., Гибель империи. РОССПЭН 2006, 10.
16. Statt vieler siehe Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.

Nach oben scrollen