Verlag OntoPrax Berlin

Russlandbild in Vergangenheit und Gegenwart

Vom biologischen zum geopolitischen Rassismus?

Übersicht

1. Das „wahre“ Russlandbild
2. „Putinismus“ als „Faschismus“?
3. Im Strudel des geopolitischen Rassismus?

Anmerkungen

„Russland ist mehr eine elementare Kraft als ein Kabinett,
mehr Mastodon als Diplomat, und muss behandelt
werden wie schlecht Wetter, bis man es ändern
kann, – nicht wie denkende Politiker.“
(Bismarck)1

1. Das „wahre“ Russlandbild

„St. Petersburg galt nach 1871“ – berichtet der Chronist – „als der allerschwierigste Posten der österreichisch-ungarischen Diplomatie; er blieb der wichtigste. Dreimal zwischen 1871 und 1914 wurde der Petersburger Botschafter nach Wien auf den Posten des Außenministers berufen.“2 Warum war der St. Petersburger Posten für die österreichisch-ungarische Diplomatie „der allerschwierigste“?

Es herrschte eine antideutsche bzw. frankophile Stimmung am Zaren-Hof und in der Presse. „Vorläufig überwiegt“ – schreibt Legationsrat Freiherr Constantin von Trauttenberg (1841-1914) am 11. Februar 1880 – „und fast mehr noch in der öffentlichen Meinung als in der Presse, ein tiefgehendes Gefühl der Antipathie und des Misstrauens gegen Deutschland“ (ebd., 184 f.).

In einem vertraulichen Schreiben an Heinrich von Haymerle (1828-1881) schreibt Trauttenberg am 9. April 1880: Vom Sendungsbewusstsein im Sinne Nikolaj Danilevskijs (1822-1885) ergriffen, sei „die slavische Civilisation“ dazu berufen, „das Erbe des verfaulten Europas anzutreten“. Diese Idee sei „völlig in Fleisch und Blut der Nation übergegangen“, daran würden „alle offiziellen Freundschaftsversicherungen nicht ein Jota ändern“. „Leute, die dies nicht sehen können oder wollen … haben uns leider schon viel Unheil zugefügt, und es wäre wahrlich Zeit, dass das trügerische Bild von Russland, wie es sich in ihren Köpfen malte, endlich durch eine richtige Zeichnung ersetzt werde“ (ebd., 188).

Das „trügerische Bild von Russland“ besteht laut Trauttenberg darin, „nicht sehen (zu) können oder (zu) wollen“, dass die russische Zivilisation nach Westen zu expandieren gewillt ist, um „das Erbe des verfaulten Europas anzutreten.“ Expansionismus sei also die „wahre“ Natur des imperialen (nach heutigem Jargon: imperialistischen) Russlands.

„Mit diesem Gedankengang“ – kommentiert Reinhard Wittram Trauttenbergs Bericht – „entsprachen die Österreicher den Ansichten Bismarcks, der ja auch beides ins Auge fasste: das gefährliche Treiben der von der zarischen Gewalt unabhängigen Ideen und die Unmöglichkeit eines kriegerischen Praevenire“ (ebd., 188 f.).

Freilich klagte bereits der preußische General und deutsche Botschafter in St. Petersburg Hans Lothar von Schweinitz (1822-1901) darüber, „dass selbst >ein so klarer und praktischer Kopf wie Fürst Bismarck< die russischen Verhältnisse in mancher Hinsicht immer noch verkenne: man könne hier nicht mit denselben Mitteln arbeiten wie in anderen europäischen Staaten, >wo es eine öffentliche Meinung und mancherlei andere Faktoren gibt, die hier fehlen<“ (ebd., 189).

„Bismarck“ – schreibt der Staatsminister Freiherr Lucius von Ballhausen in seinen „Bismarck-Erinnerungen“ – deutete wiederholt an, dass die Unterhaltung mit dem germanophilen russischen Diplomaten und Botschafter in Großbritannien Graf Peter A. Schuwalow (1827-1889) „sehr ergebnisreich gewesen sei. Sein ganzes Bemühen ginge dahin, den russischen Elefanten so zu leiten, dass er kein Unheil bei seinen täppischen Bewegungen anrichte. Er suche Russland und Österreich auf friedlichem Fuß zu halten, was bei den popularitätssüchtigen, parlamentarisch verrückten Ungarn schwierig sei. Er habe dem Kaiser von Österreich wiederholt auseinandergesetzt, ob nicht ein Russland mit einem Fuß in Sofia oder in Konstantinopel schwächer sei, als ein solches mit der Direktion auf Krakau. Es müsste denn sein, dass Österreich selbst Konstantinopel wolle.“3

Die Europäer haben sich schon immer darum bemüht, die „wahre“ imperiale Natur des „russischen Elefanten“ zu enttarnen, die „russische Gefahr“ heraufzubeschwören und seine „wahren“ außenpolitischen Absichten zu enträtseln. Das Gespenst der russischen Gefahr liegt seit Napoleon I. über Europa (>in hundert Jahren wird Europa kosakisch sein<).“ „Derartige Stimmungen“ – schrieb der Schwede Rudolf Kjellén (der Erfinder des Begriffs Geopolitik) im Jahr 1914 – „begleiteten das Gerücht von einem organischen Plan und einer geheimen Tradition im Zarenhause, die 1812 (>buchstäblich< 1836) in Frankreich veröffentlicht und als >das Testament Peters des Großen< besprochen wurde. Hier finden wir ein vollständiges politisches Schema zur Unterwerfung des >abgelebten Europas< unter das Joch des >jungen und gesunden< Russlands.4

Und so sinnierte derselbe Trauttenberg 1880 über die künftigen Beziehungen zwischen Russland und Europa: „Niemand wünsche einen Krieg … und trotzdem … scheint mir jede Rechnung auf die Zukunft unsichtbar und schwankend. Die unklaren und konfusen Ideen über die traditionellen Aufgaben Russlands, die in allen, selbst in den höchsten Kreisen verbreitet sind, können in einem gegebenen Augenblick der Politik ganz andere Impulse geben. Das allgemeine Unbehagen im Innern, die Furcht vor Explosionen desselben, gepaart mit der Scheu, dem Lande die Berechtigung zuzugestehen, sich ernstlich mit seinen Angelegenheiten zu beschäftigen, – die chauvinistische Stimmung der unverantwortlichen Leiter und Macher der öffentlichen Meinung sowie der höheren Armeekreise, – Eitelkeit, Ehrgeiz, falsche Sentimentalität und vor allem jener Grundfehler des slavischen Charakters , der Mangel an Kohärenz des Denkens – sind Faktoren , die zwar nicht greifbar, aber deshalb nicht weniger von ausschlaggebender Bedeutung sein können“ (ebd., 190).

Diese gut 140 Jahre zurückliegenden Analysen, Stellungnahmen und Berichte eines Diplomaten der österreichisch-ungarischen Monarchie über die >expansionssüchtige Natur< Russlands, seine geistige und politische Verfasstheit sowie die herrschenden Missstände im Machtzentrum des Russischen Reiches der 1870er-/Anfang der 1880er-Jahre klingen heute in unseren Ohren sehr vertraut und unterscheiden sich mitnichten vom heutigen „wahren“ Russlandbild in den westlichen Mainstream-Medien. Nichts hat sich seitdem im Wesentlichem in der europäischen bzw. westlichen Wahrnehmung Russlands geändert.

Ein >ungreifbares Etwas<, von dem Trauttenberg spricht, – dieses mächtig, unberechenbar, gefährlich Drohende – werde in dem Augenblick erst sichtbar, wenn „urplötzlich“ und „unprovoziert“ ein Krieg in Europa ausbreche. Mit einem solchen diffusen Russlandbild leben wir bereits seit Jahrhunderten.

Unter dem aufschlussreichen Buchtitel „Perverses Abendland – barbarisches Russland“ schreibt Gabriele Scheidegger über „Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse“: „Wenn Russen und Westeuropäer im 16. und 17. Jahrhundert zueinander in Kontakt kamen, herrschte selten eitel Freude. Meistens schieden sie naserümpfend oder gar ekelerfüllt voneinander und beide Seiten sahen sich in ihren Vorurteilen voll bestätigt.“5

„Die Positivisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zogen“ – schreibt Scheidegger weiter – „lautstark gegen die Rückständigkeit Russlands zu Felde. Der Kronzeuge dieser Richtung ist Alexander Brückner, dieser >russifizierte … Droysen- und Rankeschüler<. … Brückner übernahm nicht nur die negativen Urteile der ehemaligen Russlandreisenden, er verstärkte sie noch durch sein eigenes Entsetzen: >Bis in die Zeit Peters des Großen hinein wird den Moskowiten von anderen Völkern einstimmig das denkbar ungünstigste Zeugnis ausgestellt. … Gewaltsamkeit, Verlogenheit, physischer und moralischer Schmutz, Unbildung und Aberglaube, asiatischer Hochmut und die verächtliche Unfähigkeit – dies sind die hervorstechenden Züge in dem Wesen von Staat und Gesellschaft, wie sie sich in Moskau und dessen Vertretern den westeuropäischen Beobachtern darstellen<.“6

Im Zeitalter des Sozialdarwinismus kennen die Phantasmagorien über Russen und ihre rassenbiologischen Eigenschaften keine Grenzen. So schreibt der deutsch-baltische Kulturhistoriker Viktor Hehn (1813-1890) über die „russische Volksseele“ in den erst nach seinem Ableben 1892 erschienenen „Tagebuchblättern aus den Jahren 1857-1875“: „Der Russe besitzt eine große Gelenkigkeit der Glieder, aber diese gleicht mehr den Windungen allzu locker zusammengenähter Puppenteile, als dem freien, stählernen, maßvollen Fluss aller Bewegungen, den wir bei edel organisierten Völkern bewundern. Das russische Auge hat etwas Gläsernes und Oberflächliches, und hieran kann ein aufmerksamer Beobachter auch die jungen Schönheiten der höheren und höchsten Stände sogleich erkennen: da bricht kein Strahl aus den Jungesten der Seele, da spricht kein bewölkter Blick von schwärmerischem Entzücken. Hierzu stimmt der Mangel an spontaner Schöpferkraft und individueller Vertiefung, sowie an Idee und Idealität, der das russische Naturell auszeichnet. Alles, was Russland eigentümlich zu sein scheint, ist … entlehnt und von den Nachbarn aufgenommen. … erfunden hat Russland nichts. … Mit dem Mangel an produktiver Originalität hängt ein anderer Charakterzug, der Mangel an Idealität, im russischen Naturell zusammen. … Der Verführung durch Phantasie ist der Russe am wenigsten ausgesetzt.“7

Als der Herausgeber des Werkes war Theodor Schieder von Hehns Ausführungen begeistert. Im Vorwort zu seinem Werk schreibt er euphorisch: „Wenn wir nun diese rasch hingeworfenen, stets unter dem Eindrucke des Augenblicks niedergeschriebenen Notizen, Betrachtungen und Anekdoten in Buchform unter dem von Hehn selbst gewählten Titel: >De moribus Ruthenorum< herauszugeben uns entschlossen haben, so geschieht es auf Grund der Erwägung, dass hier ein Kenner ersten Ranges sein Urteil über das russische Volkstum niedergelegt hat.“8

Im Einvernehmen mit dem „Kenner ersten Ranges“ fügt Schieder ergänzend hinzu: „Gegenüber der in Deutschland landläufigen Überschätzung der Macht des russischen Kolosses, wies er auf die tönernen Füße des Riesen hin – die mores Ruthenorum schienen ihm den Satz zu widerlegen, dass diese Rasse den inneren Gehalt habe, um einer seit Jahrhunderten erarbeiteten Kultur Herr zu werden. Der russische formale Realismus erschien ihm ohnmächtig den idealen Kräften des Abendlandes gegenüber, und wenn ihm auch je länger je mehr die Hoffnung schwand, die große Entscheidung zwischen Ost und West, zwischen russischem Orient und abendländischem Wesen zu erleben – die Zuversicht blieb ihm, dass die Entscheidung erfolgen müsse und welches der Ausgang sein werde, lehrte ihn seine Kenntnis der mores Ruthenorum.“9

Ist also der auf den „tönenden Füßen“ stehende „russische Koloss“ im Gegensatz zu Bismarcks Mutmaßung doch kein „Mastodon“? Und ist die russische „Rasse“ mit ihren „mores Ruthenorum“ wirklich ohnmächtiger als das „abendländische Wesen“ mit seinen „idealen Kräften“?

Vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges beobachten wir mit zunehmender Tendenz eine deutliche Parallele zwischen einer rassenbiologischen Beurteilung und kulturellen Herabstufung der „minderwertigen“ russischen „Rasse“ und der geopolitischen Verunglimpfung und Herabwürdigung von „Putins Russland“. Von der Sprache eines Bismarcks, der Russland zwar distanziert, aber immerhin mit Respekt behandelte, kann überhaupt keine Rede mehr sein.

Russland sei heute weder „eine elementare Kraft“ oder „Mastodon“ (Bismarck), weder ein auf den tönenden Füßen stehender Koloss noch ein „lebensunfähiges Ungeheuer“ (Pasquale Mancini). Viel schlimmer: Russland unter Putin sei heute ein „faschistoides Regime“, vor dem man weder Angst noch Respekt, aber viel „Verachtung“ und „Abscheu“ empfinden müsse. Denn „das Grundproblem mit Russland“ sei – behauptet eine pseudowissenschaftliche Studie – „die Natur des Regimes, welches sich in einen faschistoiden Größenwahn hineingesteigert hat und offenbar unbeirrt an der Umsetzung seiner imperialen Pläne arbeitet: der Revision des Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen.“10

„Faschismus“ und „Revisionismus“ sind eben die zwei schwerwiegenden Anschuldigungen an die Adresse von „Putins Russland“, die das „wahre“ Russlandbild in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit prägen sollten und nachfolgend näher untersucht werden.11

2. „Putinismus“ als „Faschismus“?

Dass ein Bild von der Wirklichkeit auch im Atomzeitalter über Krieg oder Frieden entscheiden kann, darauf hat Albert Wohlstetter (1913-1997) – der Abschreckungstheoretiker und Vordenker der Revolution in Military Affairs sowie Mitarbeiter der RAND Corporation in den 1950er/60er Jahren längst und eindringlich hingewiesen. Um die Entscheidungen des Gegners vorherzusagen, sei es laut Wohlstetter von wesentlicher Bedeutung, „seinen kulturellen Code – im Jargon von RAND: seinen >Operational Code< – zu entschlüsseln. Dem Konzept des >Operational Code< lag der Gedanke zugrunde, dass strategische Entscheidungen nicht notwendigerweise eine Reaktion auf die äußere Welt sind, sondern einem Bild von ihr folgen, den kulturell konstruierten Bildern der Wirklichkeit aufseiten der Entscheidungsträger. Die Entscheidungsprozesse des Feindes wurden demnach durch ein Prisma von Überzeugungen gefiltert, das sein weiteres Verhalten mehr oder weniger vorbestimmte.“12

Dies vorausgeschickt, ist nun nach dem Russlandbild der Gegenwart zu fragen. Dieses Russlandbild wird zunehmend in den Mainstream-Medien mit „Putinismus“ als „Faschismus“ gleichgesetzt. So stellte der Zeitungsjournalist Christian Rickens die suggestive Frage „Darf man Russland >faschistisch< nennen?“, die er eigentlich bereits in der Überschrift zu seinem Artikel „Ein Faschist, aber kein Nazi“13 längst beantwortet hat. Dabei legt er seinen Ausführungen die eigene Faschismusdefinition zugrunde: „Militärische Aggression gehört zum Wesenskern faschistischer Regime, denn sie benötigen sie zur Legitimation ihrer Herrschaft nach innen.“ Geht man von dieser selbsterfundenen und der zeitgeschichtlichen Faschismusforschung zuwiderlaufenden Bestimmung des „Wesenskern“ des Faschismus aus und lässt die vergangenen zweiundzwanzig Jahre Revue passieren, so wird man schnell feststellen müssen, wie abwegig diese Faschismusdefinition ist.

Denn im Umkehrschluss würde das bedeuten, dass die militärischen Aggressionen“ bzw. die völkerrechtswidrigen Interventions- und Angriffskriege der USA und ihrer Nato-Verbündeten in den Jahren von 1999 bis 2021 allesamt von „faschistischen Regimen“ geführt wurden.

Der Faschismus-Begriff ist längst zu einem vom zeitgeschichtlichen Zusammenhang losgelösten Schimpfwort verkommen, das bei jeder Gelegenheit und Ungelegenheit mantraartig allerseits und allerorts angewandt und gegen jeden x-beliebigen politischen und/oder geopolitischen Gegner denunziatorisch missbraucht wird.

Der Faschismus ist genauso wie Kommunismus und Nazismus ein zeitgeschichtliches Phänomen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, darf aber weder mit Marxismus noch „mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt werden“. Er ist Produkt der westeuropäischen Geistes- und Verfassungsgeschichte. Zutreffend stellte Ernst Nolte deswegen in einer Diskussion fest: „Sowohl der Kommunismus wie der Faschismus sind aus der Gesellschaft des >europäischen liberalen Systems< hervorgegangen.“14

„Die Grundlage des deutschen Nationalsozialismus war der biologische Determinismus, der Rassismus in seiner extremsten Ausprägung, und die Vernichtung der Juden. Der Krieg gegen die minderwertigen Rassen“, worunter auch die slawischen „Untermenschen“ gezählt wurden, spielte eine viel „wichtigere Rolle als der Krieg gegen den Kommunismus.“ Der Rassismus beschränkte sich zwar nicht allein auf Deutschland. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts grassierte er mit dem Aufkommen des Sozialdarwinismus in Frankreich ebenso wie in Großbritannien und anderen europäischen Kolonialmächten. Aber selbst wenn der Rassismus in Frankreich „ein Element der revolutionären Rechten darstellte, so war er doch nie der zentrale Bezug einer Ideologie, einer Bewegung oder eines Regimes. Tatsächlich fand sich biologischer Determinismus nicht in allen Varianten des Faschismus. Der Rassismus ist also keine notwendige Voraussetzung für den Faschismus, er trägt jedoch zum faschistischen Eklektizismus bei.“15

Der Faschismus entstand – geistesgeschichtlich betrachtet – „als unmittelbares Ergebnis einer spezifischen Marxismusrevision, einer Revision und nicht einer Variante oder eines Abklatsches des Marxismus.“ Die Ideologie des Faschismus müsse daher „als Revolte gegen den Materialismus“ begriffen werden. „Es waren die Sorelianer in Frankreich und Italien, die Theoretiker des revolutionären Syndikalismus, die mit dieser neuen und eigenständigen Revision des Marxismus begannen, und eben darin lag ihr Beitrag zur Geburt der faschistischen Ideologie.“16

Als Ideologie konnte der Faschismus, wie gesagt, allein auf dem Boden des westeuropäischen Nationalstaates entstehen und als Protest gegen die Moderne und ihre ökonomischen und sozialen Auswüchse gedeihen. Russland war hingegen nie ein Nationalstaat und konnte darum per definitionem aus sich auch keinen Faschismus gebären.

Nicht von ungefähr war schon in der Revolution von 1848 die Janusköpfigkeit der Moderne zu beobachten, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte. Und bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze17 in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“ Diese moderne aneinander gekoppelte Nationsbildung und Verfassungsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins bis zum brachialen Ethnonationalismus, Chauvinismus, Rassismus usw. einher.

Wer im Faschismus also – meinen die Autoren der zitierten Studie zu Recht – allein „ein Nebenprodukt des Ersten Weltkriegs …, einen einfachen Reflex bürgerlicher Selbstverteidigung gegen die Nachkriegskrise“ sehen will, wird „von diesem fundamentalen Phänomen“ des 20.Jahrhunderts „nichts begreifen“ können (ebd., 17).

„Die faschistische Ideologie, wie sie um die Jahrhundertwende entstand und in den zwanziger und dreißiger Jahren fortentwickelt wurde, ist das Produkt der Verschmelzung des organischen Nationalismus mit der antimaterialistischen Revision des Marxismus, sie drückt einen revolutionären Willen aus, der sich auf die Ablehnung des Individualismus liberaler wie marxistischer Prägung gründet, und sie verkündet die Prinzipien einer neuen, eigenständigen politischen Kultur. Kollektivistisch, antiindividualistisch und antirationalistisch, lehnte sie anfangs das Erbe der Aufklärung und der Französischen Revolution ab, um dann, in einer zweiten Phase, eine totale Veränderung auf geistigem, moralischem und politischem Gebiet anzustreben, die allein den Fortbestand der menschlichen Gemeinschaft gewährleisten konnte, in die alle Schichten und Klassen der Gesellschaft vollkommen integriert wären.“ Kurzum: „Der Faschismus behauptete, die verheerendsten Auswirkungen der Modernisierung auf dem europäischen Kontinent beseitigen zu können“ (ebd., 17).

Wer daher darauf beharrt, den sog. „Putinismus“ mit Faschismus gleichzusetzen, hat entweder keine Ahnung von dessen geistes- und verfassungsgeschichtlichen Wurzeln oder missbraucht das Schlagwort >Faschismus< sinnentleert als geopolitscher Kampfbegriff zwecks Denunzierung und Diffamierung des geopolitischen Rivalen. Ziel des russischen Ukrainefeldzuges ist geo- und sicherheitspolitischer Natur und hat mit der faschistischen Ideologie weder um die Jahrhundertwende noch in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts nichts im Geringsten zu tun.

3. Im Strudel des geopolitischen Rassismus?

Die Bezichtigung des Revisionismus, der das „Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen“ verändern will, ist genau dasjenige, was den sog. „Westen“ so besorgt macht und in Rage bringt. Warum eigentlich? Ist es nicht etwa ein natürlicher Lauf der Geschichte, in welcher Imperien entstehen und vergehen und/oder eine überkommene Ordnung einer Revision unterzogen bzw. von einer kommenden abgelöst wird? Und bedeutet die Geschichte nicht – wie Vilfredo Pareto einst plastisch formulierte – ein „Friedhof der Eliten“? Befindet sich nicht etwa alles – wie schon der Vorsokratiker Heraklit zu wissen glaubte – in Wandel und Veränderung? Denn alles, was entsteht, vergeht.

Oder gehört es sich nicht, wenn sich die „Untertanenrasse“ anmaßt, über die „Herrenrasse“ zu erheben? Nein, eines biologischen Rassismus kann man den Westen heute wahrlich nicht bezichtigen!

Wir sind ja schließlich nach den Erfahrungen mit der Nazi-Barbarei „aufgeklärt“. Wir haben eben nicht mehr nötig, die „Natur des (russischen) Regimes“ rassenbiologisch zu denunzieren. Nein, heute wird nicht mehr etwa rassenbiologisch bzw. sozialdarwinistisch gedacht und bewertet, sondern geopolitisch entwertet und geomoralisch abgewertet. An die Stelle des biologischen tritt heute der geopolitische Rassismus.

Im Zeitalter der US-amerikanischen Hegemonialordnung darf nämlich allein der US-Hegemon die völkerrechtswidrigen Interventions- und Angriffskriege und keine andere Großmacht führen.

Dass beispielsweise der als „humanitäre Intervention“ verklärte Überfall der USA und der Nato auf die Volksrepublik Jugoslawien am 24. März 1999 – der sog. Kosovo-Krieg – völkerrechtswidrig war, gestand kein geringerer als Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder selber 15 Jahre nach der NATO-Intervention in Jugoslawien ein. Am 9. März 2014 äußerte er sich auf einer Veranstaltung der Wochenzeitung „Die Zeit“: „Natürlich ist das, was auf der Krim geschieht, etwas, was auch ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist. Aber wissen Sie, warum ich ein bisschen vorsichtiger bin mit einem erhobenen Zeigefinger? Ich muss nämlich sagen: Weil ich es selbst gemacht habe.“

Mit dem Kosovo-Krieg etablierten die USA nach dem Untergang des Sowjetimperiums eine hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machten die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege im 21. Jahrhundert wieder salonfähig. Mit dem Kosovo-Krieg (und nicht erst mit dem Ukrainekrieg) wurde die UN-Nachkriegsordnung endgültig zu Grabe getragen. Erst mit dem Kosovo-Krieg hat eine erneute „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) stattgefunden, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Weltordnung nach dem Untergang des ideologischen und geopolitischen Rivalen überging.

Es war nur folgerichtig vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium Richard Perle 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).18

Der von der Regierung Bush jr. am 20. März 2003 entfesselte Irakkrieg war – um noch ein weiteres Beispiel zu nennen – ebenfalls ein brutal geführter völkerrechtswidriger Angriffskrieg mit Hundertausenden Menschenopfer. Schlimmer noch: Der Sturz Saddam Husseins und die Besetzung des Iraks wurden bereits fünf Jahre zuvor in amerikanischen Denkfabriken konzipiert. Ein 1997 gegründetes „Project for the New American Century“ (PNAC), das laut Statut für „Amerikas globale Führerschaft“ stritt, forderte bereits am 26. Januar 1998 „in einem Brief an >Mr. William J. Clinton<, den damaligen US-Präsidenten, zum Sturz Saddam Husseins auf – und zu einer radikalen Umkehr im Umgang mit der Uno“.19

Ziel all jener in den vergangenen zwei Jahrzehnten geführten sog. „humanitären Interventionen“ war und ist immer noch eine dauerhafte Aufrechterhaltung der US-amerikanischen Hegemonialordnung, und zwar nicht nur gegenüber Russland und China, sondern auch gegenüber den europäischen Nato-Verbündeten (siehe dazu Wolfowitz´ Ideen von 1992).20

Soll diese „Enttabuisierung des Militärischen“ bedeuten, dass die USA – folgt man Rickens Faschismusdefinition – in ihrem „Wesenskern“ ein „faschistisches Regime“ sei? Diese Behauptung würde Rickens sicherlich mit Empörung zurückweisen. Woher kommt dann dieser penetrante Versuch, Russland in der deutschen und europäischen Öffentlichkeit (und nicht nur von einem Zeitungsjournalisten) als ein „faschistisches Regime“ zu denunzieren und als eine revisionistische Macht an den Pranger zu stellen?

Die Gründe liegen in einem immer noch nicht bewältigten europäischen Rassismus. Dieser Rassismus ist nicht mehr biologischen Ursprungs, wohl aber geopolitischer Natur.

An die Stelle des kulturellen und biologischen Rassismus, der zwischen zivilisierten, halb- oder nichtzivilisierten Staaten unterschieden hat, trat im Zeitalter der US-amerikanischen Hegemonialordnung, die sich nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums ausgebildet hat, die sog. „zivilisatorische Differenz … zwischen liberalen Gesellschaften, >ordentlichen Mitgliedern einer vernünftigen Gemeinschaft wohlgeordneter Völker< und >outlaw-Staaten (Lothar Brock)21 oder in der Terminologie der amerikanischen Neocons formuliert: Die unzivilisierten „Rogue States“ benötigen Zwangsmaßnahmen seitens der liberalen Demokratien zur Durchsetzung der von ihnen festgeschnürten universalen Standards.

Nun wird seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine aus westlicher Sicht auch „Putins Russland“ zu den unzivilisierten „Rogue States“ hinzugezählt, sodass der mit „Faschismus“ gleichgesetzte „Putinismus“ nunmehr als jenseits der „Zivilisationsgrenze“ angesehen, ihm daraufhin ein Wirtschafts- und Informationskrieg erklärt und er folgerichtig mit allen Mitteln ungehemmter ökonomischer, medialer und hypermoralisierender Gewalt bekämpft und delegitimiert werden soll. Damit erlebt der geopolitische Rassismus seine Geburtsstunde, der sich „furchtlos“ gegen einen mächtigen, bis auf die Zähne bewaffneten geopolitischen Rivalen richtet.

Was der Westen für sich in Anspruch nahm, in den vergangenen zwanzig Jahren nach Belieben rechtsfreie Räume zu schaffen, in denen er seine Macht mit ungebremster und ungehemmter militärischer Gewalt jahrzehntelang zu praktizieren und durchzusetzen wusste, lehnt er für seinen geopolitischen Rivalen als „völkerrechtswidrig“ und „kriegsverbrecherisch“ vehement ab. Russland wird vom Westen das abgesprochen, was dieser für sich wie selbstverständlich in Anspruch nahm. Quod licet Iovi, non licet bovi – Was der „Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht“. Das heißt: Was die „westliche Zivilisation“ jenseits ihrer „Zivilisationsgrenze“ mit einer exzessiven „ungehemmten Gewaltanwendung“ in den vergangenen zwanzig Jahren praktizieren dürfte, darf der russische „Barbar“ noch lange nicht und muss darum mit (fast) allen zur Verfügung stehenden Mitteln geächtet, verurteilt, zur Rechenschaft gebracht und schließlich vor einem Kriegstribunal gestellt werden. Eine wahrlich besorgniserregende und überaus gefährliche Entwicklung! Glaubt der Westen wirklich, dass er mit einer nuklearen Supermacht genauso wie mit einer Bananenrepublik umspringen kann?

Anmerkungen

1. Zitiert nach Wittram, R., Die russisch-nationalen Tendenzen der achtziger Jahre, in: ders., Das Nationale als europäisches Problem. Beiträge zur Geschichte des Nationalitätsprinzips vornehmlich im 19. Jahrhundert. Göttingen 1954, 183-213 (189).
2. Zitiert nach Wittram (wie Anm. 1), 184.
3. Ballhausen, L. v., Bismarck-Erinnerungen. Stuttgart u. Berlin 1920, 364 f.
4. Näheres dazu Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Kriegspropaganda: gestern und heute. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Scheidegger, G., Perverses Abendland – barbarisches Russland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse. Zürich 1993, 9.
6. Scheidegger (wie Anm. 5), 26.
7. Hehn, V., De moribus Ruthenorum. Zur Charakteristik der russischen Volksseele. Tagebuchblätter aus den Jahren 1857-1875. Hrsg. v. Theodor Schiemann. Berlin 1892, 6 ff.
8. Schiemann, Th., Vorwort, in: Hehn (wie Anm. 7), 12.
9. Schiemann (wie Anm. 8), 13 f.
10. ISPK: „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für eine Beendigung des Krieges“. 12. Juli 2022, S.17.
11. Der nachfolgenden Betrachtung wird das Werk von Sternhell, Z./Sznajder, M./Ascheri, M., Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Von Sorel zu Mussolini (Hamburg 1999) zugrunde gelegt.
12. Zitiert nach Robin, R., Gleichgewicht des Schreckens oder des Irrtums? In: Greiner, B./Müller, T. B./Weber, C. (Hg.), Macht und Geist im Kalten Krieg. Studien zum Kalten Krieg, Bd. 5, 276-297 (284).
13. Rickens, Ch., Ein Faschist, aber kein Nazi, in: Handelsblatt, 9. Juni 2022, 16.
14. Totalitarismus und Faschismus. Eine wissenschaftliche und politische Begriffskontroverse. Kolloquium im Institut f. Zeitgeschichte am 24. November 1978. Wien 1980, 61.
15. Sternhell (wie Anm. 11), 15 f.
16. Sternhell (wie Anm. 11), 16.
17. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
18. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
19. Bölsche, J., Die Macht der Märchen, in: Spiegel, 8. Dezember 2003.
20. Vgl. Silnizki, M., Anti-Moderne.US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 22 f.
21. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66 f).

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