Verlag OntoPrax Berlin

Putin ist nicht Chruschtschow

Zur Frage nach der Unvermeidbarkeit des Unmöglichen

„Зачем нам такой мир, если там не будет России?“
(Wozu brauchen wir eine solche Welt, wenn es dort
kein Russland geben wird?)
(Putin, 2018)

Der russische Politikwissenschaftler Aleksej Fenenko hat in einem Interview am 13. Mai 2024 die kühne These aufgestellt, dass „die USA aus der Kubakrise den Schluss gezogen haben, dass die Sowjetunion in einem kritischen Moment zurückschrecken wird. Das ebnete den Amerikanern den Weg, in Vietnam und anderen Teilen der Welt in den Krieg zu ziehen. So sehen sie es im Westen“ (… из Карибского кризиса США сделали вывод, что Советский Союз отступит в критический момент. Это открыло американцам дорогу для войны во Вьетнаме и других регионах мира. Вот так они это видят на Западе).1

Ob das Zurückweichen der Sowjets vor dem letzten und entscheidenden Schritt in der Kubakrise, der die Welt in einen atomaren Abgrund gestürzt hätte, die USA dazu bewegten, ins Vietnam-Abenteuer zu stürzen, sei dahingestellt. Dass aber die Mutmaßung, dass Russland unter Putin wie zurzeit der Kubakrise „in einem kritischen Moment“ ebenfalls zurückschrecken werde und die USA mit ihren Nato-Bündnisgenossen endlos eskalieren und sich jede denkbare und undenkbare Provokation leisten können, darauf sollte man lieber nicht wetten.

Das Undenkbare kann schneller, als man denkt, denkbar werden. Russland betrachtet den Ukrainekonflikt, dem die jahrzehntelang andauende Nato-Osterweiterungspolitik vorausging, gegen die sich das postsowjetische Russland von Anfang an vehement wehrte2, als existenziell für sein geopolitisches Überleben in einem seit dem Ende des „Kalten Krieges“ nicht enden wollenden Kampf gegen die westliche Expansion.

Und sollte der Westen weiterhin ungebremst eskalieren, dann würde das Unmögliche unvermeidbar (невозможное неизбежно) und das Undenkbare würde denkbar. Genau diese Warnung hat Putin neulich ausgesprochen.

Am Ende seines Staatsbesuchs in Usbekistan hielt Putin am 28. Mai 2024 eine Pressekonferenz in Taschkent. Bei dieser Pressekonferenz nahm er u. a. Stellung zu den Äußerungen der europäischen Politiker, der Ukraine zu erlauben, die vom Westen gelieferten Waffen auch in Russland einzusetzen.

„Stoltenberg“, meinte Putin, „muss wissen, dass die Langstrecken-Präzisionswaffen nicht ohne die Weltraumaufklärung benutzt werden können. Die endgültige Wahl des Ziels und der sog. Flugrichtung können nur hochqualifizierte Spezialisten auf der Grundlage dieser Weltraumaufklärung bestimmen. Die einen Angriffssysteme können dabei diese Aufgaben automatisch und ohne jedwede Beteiligung der ukrainischen Militärangehörigen erfüllen. Wer macht das? Das machen sowohl die Hersteller als auch jene, die diese Angriffssysteme liefern.

Die anderen Systeme, wie beispielsweise ATACMS, werden ebenfalls auf der Grundlage der Weltraumaufklärung vorbereitet, formuliert und berechnet … Diese Aufgabe wird nicht von ukrainischen Militärangehörigen, sondern von den Repräsentanten der Nato-Länder ausgeführt.

Kurzum, die Repräsentanten der Nato-Länder in Europa, insbesondere in den kleinen Ländern, müssen sich darüber im Klaren sein, womit sie da spielen. Sie müssen daran denken, dass sie Staaten mit kleinem Territorium und mit dicht besiedelter Bevölkerung sind. Diesen Faktor müssen sie beachten, bevor sie über die Attacken auf russischem Territorium schwadronieren. … Die ständige Eskalation kann zu schwerwiegenden Folgen führen. … Mal sehen, wie es weiter geht.“3

Diese Stellungnahme Putins zeigt zum einen, dass die russische Führung genau weiß, wer die vom Westen gelieferten Hightech- und Präzisionswaffen bedient. Die Ukrainer sind das jedenfalls nicht. Und das bedeutet, dass die Nato direkt und nicht nur mittelbar im Ukrainekrieg involviert ist. Zum anderen warnt Putin die Nato unmissverständlich mit schwerwiegenden Konsequenzen, sollten sie ihre Ankündigung tatsächlich auch umsetzen und Russland große Schäden zufügen.

Die gängige Meinung, die russische Führung würde sich gar nicht trauen, den letzten und entscheidenden Schritt zu tun und ihre Warnung in die Tat umzusetzen, sollte man sich lieber nicht zu eigen machen, um sich nicht in trügerischer Sicherheit zu wiegen. Putin hat bereits mehrmals bewiesen, dass er seinen Worten Taten folgen lässt. Es ist darum manchen Hasardeuren in Europa und den USA abzuraten, wie zurzeit der Kubakrise „Chicken Game“ zu spielen.

Dass das Draufgängertum eine lange Tradition in der US-Außenpolitik hat, offenbarte ausgerechnet die Kubakrise 1962.

Überliefert ist die Atmosphäre der innersten Entscheidungszirkel des Krisenmanagements, in welcher die Kennedy-Brüder ihre Absichten gegenüber Chruschtschow artikulierten: „Sie planten, >to cut his balls off<, ihm >die Hoden abzuschneiden<, ihn folglich zu >kastrieren<.“4

Kein Geringerer als der damalige Verteidigungsminister Robert S. McNamara hob noch Jahre später immer wieder hervor, „wie knapp man an der Katastrophe vorbeigeschlittert sei.“ Die treibende Kraft in diesem machtpolitischen Pokerspiel war John F. Kennedy selber. Ihm gelang es „Chruschtschow öffentlich zu demütigen: Sein Widersacher spielte das amerikanische >Chicken-Spiel< nicht mit und gab nach; diese >Blamage< trug später entscheidend zu seinem Machtverlust bei … Dass es Kennedy um die Desavouierung seines Gegenspieles ging, während er gleichzeitig hinter dem Rücken selbst seiner Berater mit Chruschtschow Kompromisse aushandelte, hat Hersch in The Dark Side of Camelot minutiös rekonstruiert. Am Ende … steht der >kastrierte< Chruschtschow als Beispiel skrupulöser politischer Vernunft da und der >siegreiche< Kennedy als rücksichtsloser Risikospieler.“5

Lässt sich heute dieses Risikospiel wiederholen? Wohl kaum! Zwar kann der Westen nach der erfolgreichen Beendigung des „Kalten Krieges“ immer noch vor lauter Kraft kaum gehen. Heute stellen die meisten Repräsentanten der transatlantischen Machteliten die Verachtung und Respektlosigkeit gegenüber dem geopolitischen Rivalen – verbunden mit Drohungen und Verunglimpfungen – geradezu demonstrativ zur Schau, ohne sich der friedensgefährdenden Tragweite dieser deplatzierten Zurschaustellung bewusst zu sein.

Putin ist aber kein Chruschtschow und Russland ist keine Sowjetunion mehr. Russland ist heute zum einen viel verwundbarer, als die Sowjetunion es seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges jemals war, und kann es sich darum nicht leisten, Schwächen zu zeigen. Allein schon aus gesichtswahrenden Gründen würde die russische Führung hart reagieren, sollte sie zur Wand gedrückt werden.

Putin verfolgt zum anderen eine ganz andere Geopolitik als Chruschtschow und seine Nachfolger. Der britische Ex-Premier Tony Blair (1997-2007) hat etwa vor knapp zwei Jahren in einem Vortrag vom 16. Juli 2022 am Institute for Global Change eine für die westlichen Politiker ungewöhnlich realistische Analyse der geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart gemacht, indem er u. a. gesagt hat: „Die größten geopolitischen Veränderungen kommen in diesem Jahrhundert aus China und nicht aus Russland. Wir nähern uns dem Ende der politischen und ökonomischen Vorherrschaft des Westens. Die Welt wird mindestens bipolar und möglicherweise sogar multipolar sein. Zum ersten Mal in der Neueren Geschichte kann der Osten mit dem Westen gleichziehen. China ist bereits heute die zweite Supermacht und wird nicht isoliert bleiben. Es wird Verbündete haben. Russland ist heute schon ein Verbündeter, möglicherweise auch Iran.“

Was an dieser Analyse allerdings fehlt, ist die Frage nach dem Warum dieser geopolitischen Revolution6. Russland spielt geopolitisch in diesem weltumwälzenden Prozess neben China eine entscheidende Rolle, wobei es nicht nur der Blockkonfrontation des „Kalten Krieges“ abgeschworen hat, sondern im Gegensatz zu Chruschtschow auch zu einer ganz anderen Außen- und Geopolitik übergegangen ist.

Putin ist zur traditionellen, bis auf Stalin mitgetragenen Kontinentalmachtstrategie zurückgekehrt7. Russland hat gerade unter Putin der sowjetischen seit Chruschtschow eingeleiteten Weltmachtstrategie abgeschworen und sie endgültig aufgegeben.

Der Ukrainekonflikt reiht sich in diese Kontinentalmachtstrategie ein, die sich vor allem vehement gegen eine weitere Nato-Expansionspolitik wehrt, vor der solche ausgewiesenen Russlandkenner wie George F. Kennan und Henry Kissinger bereits in den 1990er-Jahren eindringlich gewarnt haben. Die Ukraine wäre als Nato-Mitglied für Russland eine geostrategische Katastrophe, da es eine „strategische Tiefe“ – „den Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ – verloren hätte, worauf die US-Denkfabrik Carnegie Endowment vor gut zwei Jahren hingewiesen hat.8

Russland fühlt sich darum – zu Recht oder zu Unrecht, sei dahingestellt – geo- und sicherheitspolitisch existenziell bedroht und wird, falls nötig, bis zum bitteren Ende kämpfen. Das macht den wesentlichen Unterschied zur Kubakrise. Im Gegensatz zur Sowjetführung unter Chruschtschow ist die russische Führung unter Putin zu allem entschlossen.

Putin ist nicht Chruschtschow. Und wer wie der Westen glaubt, die russische Führung mit irgendwelchen Drohgebärden und/oder Provokationen einschüchtern zu können, ist auf dem Holzweg. Er riskiert dabei die „Unvermeidbarkeit des Unmöglichen“ (неизбежность невозможного) hautnah zu erleben.

Als Putin am 18. Oktober 2018 am jährlichen internationalen Waldai-Forum in Sotschi teilnahm und über die Fragen der nuklearen Sicherheit diskutierte, reagierte er auf eine Frage des Moderators unter Gelächtern und großem Applaus des Publikums mit folgender Replik: „Der Kern der russischen Atomdoktrin besteht darin, dass der Angreifer wissen muss, dass die Vergeltung unvermeidlich ist und dass er vernichtet wird … Wir werden dabei als Märtyrer in den Himmel kommen, sie werden hingegen einfach verrecken, weil sie nicht einmal Zeit haben werden, Buße zu tun.“

Kurzum: Falls der Westen lebensmüde geworden ist, soll er ruhig weiter drohen, provozieren und eskalieren. Vielleicht hat er dann mehr Glück und kommt zusammen mit Putin ebenfalls „als Märtyrer in den Himmel“.

Anmerkungen

1. Фененко, A., Россия разгромит ВСУ, когда избавится от мозоли на ахиллесовой пяте, натертой в СССР.
13. Mai 2024.
2. Näheres dazu Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober
2023, www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl.: „Стольтенберг должен знать что высокоточное оружие большой дальности не может быть использовано без космических средств разведки. Окончательный выбор цели и т. н. полётное задание могут вносить только высококвалифицированные специалисты на основе этих разведданных. Если по одним ударным систем эти задания могут вносится автоматически без всякого присутствия украинских военнослужащих. Кто это делает? Этю делает те кто производит ите кто якобы поставляют эти системы удара. Происходит без участия украинских военнослужащих. А другие системы, например как атакамс, тоже на основе космической разведки готовятся, формулируются, доводят до расчётов … Это задание готовится не украинскими военнослужащими, а представителями стран НАТО.
Ну так вот, эти представителями стран НАТО в Европе, особенно в малых странах, они должны давать себе отчёт, чем они играют. Они должны помнить о том, что они государства с небольшой территорией с очень плотным населением. Этот фактор они должны иметь ввиду, прежде чем говорить о нанесении ударов по русской территории. … Эта постоянная эскалация может привести к серьёзным последствиям. … Посмотрим, что будет происходить дальше.“
4. Zitiert nach Krippendorff, E., Kritik der Außenpolitik. Frankfurt 2000, 97.
5. Krippendorff (wie Anm. 4), 98.
6. Näheres dazu Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.
25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Rumer, E./Weiss, A. S., Ukraine: Putin`s Unfinished Business. Carnegieendowment.org 12.11.2021.

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