Verlag OntoPrax Berlin

Nach dem Krieg wie vor dem Krieg?

Auf den Spuren der Vergangenheit

Übersicht

1. Das Ende einer Epoche
2. Am Vorabend einer Katastrophe?

Anmerkungen

 

„Die größte Gefahr für Amerika ist Amerika.“
(Thomas L. Friedman, 11.07.2019)

1. Das Ende einer Epoche

In seinem 1978 erschienenen Werk Am Ende der Neuzeit versucht Arnold Buchholz die Metamorphosen des 20. Jahrhunderts gleich im ersten Satz auf den Punkt zu bringen: „Es gibt keine Epoche der menschlichen Geschichte, die der unseren in der Wucht der Veränderungen aller Art auch nur annährend vergleichbar wäre.“1

Vor einer ähnlichen „Wucht der Veränderungen“ stehen wir auch heute beinahe ein Vierteljahrhundert nach dem Beginn des 21. Jahrhunderts. Und diese „Wucht der Veränderungen“ wird uns mit Sicherheit nicht gefallen. Die Welt befindet sich in einem dramatischen Umbruch. Nichts wird so bleiben, wie es mal war. Und Europa? Die USA? Die EU? Die Nato? Was machen sie?

Inmitten des Krieges an der Peripherie Europas wünschen sie das Ende des Krieges zu ihren Bedingungen, stellen aber zugleich tagtäglich fest, dass der Wunsch unerfüllbar ist, um sodann verbissen und gehässig noch mehr Öl ins Feuer des Krieges zu gießen – in der Hoffnung, der Krieg werde auf einer wundersamen Weise in einem von ihnen diktierten Frieden enden. Credo, quia absurdum est!

Zwecks Beendigung des Krieges entfachen wir noch mehr Krieg, um Krieg zu beenden bzw. um eine vermeintlich bessere Verhandlungsposition nach der Beendigung des Krieges zu erkämpfen.

Diese Logik der Kriegsbefürworter funktioniert nicht. Der bisherige Verlauf des Krieges hat taktisch und strategisch genau das Gegenteil gezeigt: Je länger der Krieg dauert, umso stärker, kriegserprobter und kriegserfahrener wird Russland, umso erschöpfter wirkt das ukrainische Militär und umso schwächer, kraft- und lustloser die westliche Unterstützung. Gut 250 Milliarden Dollar, die der Westen in diesen Krieg bis jetzt „investiert“ hat, haben sich in nichts aufgelöst und kein Surplus gebracht.

Schlimmer noch: Der Westen steht auch geostrategisch auf verlorenem Posten: Der sog. „Globale Süden“ emanzipiert sich im Eiltempo und die Weltmehrheit wendet sich allmählich und beharrlich vom Westen ab. Die epochale „Wucht der Veränderungen“ ist geradezu mit bloßen Händen zu greifen.

Die Noch-Mehr-Krieg-Rhetorik führt nicht zu Friedensverhandlungen zu westlichen Bedingungen, sondern zur Entfremdung des Westens vom Nichtwesten. Am Ende des Krieges wird die Überschrift für das westliche Kriegsengagement lauten: Krieg verloren – Frieden verloren – alles verloren.

Je länger der Krieg dauert, umso mehr nivelliert er die westliche Weltdominanz, umso mehr bestätigt er Trotzkis Erkenntnis, dass ein Krieg die Funktion des „großen Gleichmachers“ erfülle.2 Als „großer Gleichmacher“ wird der Ukrainekonflikt am Ende nicht etwa zum „ewigen Frieden“ führen, sondern vielmehr einen „Frieden“ in Gang setzen, der den Frieden wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges beenden („peace to end peace“)3 und eine neue Epoche einleiten wird, die noch mehr Kriege erzeugt -nach dem Motto: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg!

Die unipolare Weltordnung befände sich dann in der tiefsten Krise ihrer gut dreißig Jahre andauernden Existenz. Die Fortführung des unipolaren Weltordnungssystems unter den Bedingungen der neuentstandenen Großmächtekonstellation gliche dann einer Quadratur des Kreises. Im Übergang von dem im Sinkflug begriffenen unipolaren US-Hegemonialsystem zu der sich herausbildenden Postunipolarität wird die Frage von Krieg und Frieden zur Schlusselfrage unseres Zeitalters.

Erschwerend kommt dabei hinzu, dass die Kontinentaleuropäer in ihren Bedrohungsszenarien einer strategischen Fehleinschätzung unterliegen. Denn die tatsächliche Bedrohung des Kontinentaleuropas kommt nicht vom „Osten“, sondern vom „Westen“ – nicht von Russland, sondern von den Angelsachsen. Das bedeutet nicht etwa, dass die USA im Verbund mit den anderen Angelsachsen gegen Europa Krieg führen, wohl aber einen großen europäischen Krieg zwischen Russland und der EU provozieren bzw. anzetteln könnten, um dann sich als Retter in der Not auf die Seite der EU-Europäer zu schlagen und das Kriegsgeschehen an der Seite stehend militärisch und finanziell tatkräftig zu unterstützen, ohne dabei die eigenen Finger schmutzig zu machen.

Das geostrategische Ziel der USA wird im Falle der gelungenen Provokation glasklar sein: so viel Öl ins Feuer des Krieges zu gießen und die beiden Kriegsparteien wie im Falle des Ukrainekonflikts so stark wie nur möglich zu schwächen – in der trügerischen Hoffnung, die eigene Welthegemonie doch noch retten bzw. aufrechterhalten zu können. Selbst wenn die Aufrechterhaltung der US-Hegemonie sich am Ende als Illusion erweisen würde, würde der durch den möglichen Krieg zwischen Russland und Europa entstandene Schaden auch für die USA immens und irreparabel sein.

Da die US-Hegemonie von den Großmächten Russland und China längst in Frage gestellt wird, weltweit immer mehr an der Gestaltungskraft verliert und sich nicht anderes helfen kann, als mit endlosen Wirtschaftssanktionen und militärischen Drohgebärden hilflos um sich zu schlagen, erhöht sich die Gefahr eines globalen Krieges umso mehr, je mehr die USA versuchen, Krisenherde in den verschiedenen Teilen und Ecken der Welt künstlich zu erzeugen, um dadurch in trüben Gewässern zu fischen.

Dass sich die Geschichte wiederholen kann, zeigen die kriegs- und krisenbehafteten Entwicklungen der vergangenen fünfundzwanzig Jahren, die der Unruhezeit ähneln, die dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges vorausging und 1914 zu Ende ging.

„Von den zwanzig Jahren vor 1914 ging kein einziges ohne größeren Krieg, ob >hinten weit in der Türkei< oder jenseits der Meere, oder doch ohne von Schwertegerassel erfüllte internationale Spannung vorüber. Selbst wenn man von den langen und blutigen, doch als bloße Polizeioperationen nicht ins Kriegsregister eingetragenen Kolonialfeldzügen absieht, bei denen Frankreich und England im Sudan und England und Russland in Persien an den Rand des Krieges gerieten, bleibt die chronologische Liste dieser zwei Jahrzehnte recht eindringlich: chinesisch-japanischer, italienisch-abessinischer, griechisch-türkischer, spanisch-amerikanischer Krieg, Burenkrieg, Boxerkrieg, russisch-japanischer Krieg, erste Marokkokrise, bosnische Annexionskrise, zweite Marokkokrise, italienisch-türkischer Krieg, erster Balkankrieg, zweiter Balkankrieg … Im Rückblick lässt sich sogar die Zündschnur verfolgen, in der das Feuer von der Aufteilung Nordafrikas ins >Pulverfass< Südosteuropas hinüberlief: über den vom Zaun gerissenen italienischen Tripolis-Feldzug, aus dessen ruhmlosen Bandenkämpfen in der lybischen Wüste die italienischen Eroberer die Flucht nach vorn in die Ägäis und nach den Dardanellen antraten und damit das Signal zum Generalangriff der Balkanstaaten auf den ottomanischen Erbfeind gaben … – eine Entwicklung, die der seit Metternich mit dem verwesenden ottomanischen Reich solidarische Habsburger Obrigkeitsstaat >nicht dulden konnte<, weshalb er die Balkanstaaten gegeneinander hetzte … Dafür … kam das Attentat von Sarajewo, wie gerufen …“4

Die Folge war der Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Der europäische Kontinent blieb freilich bis dahin die Insel der Glückseligen und von den um ihn greifenden Flammen der Kriege und Krisen weitgehend verschont.

Bis 1914 wogen sich die Europäer wie heute in der trügerischen Hoffnung, die heraufziehenden Gewitter des Krieges werden vorüberziehen und sie nicht treffen. Die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ (George F. Kennan) hat sie allerdings voll erfasst und es besteht kein Zweifel, dass die Urkatastrophe des 21. Jahrhunderts unausweichlich sein würde, sollten die Kontinentaleuropäer kein neues Equilibrium in Europa herstellen wollen oder können.

Legt man nun die zwanzig Jahre dauernden Kriege und Krise vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges als Vergleichsmaßstab zugrunde, so sind auch heute ähnliche Vorgänge im außereuropäischen Raum bzw. an der Peripherie Europas zu beobachten, die als Vorboten eines kommenden globalen Krieges gelten könnten.

2. Am Vorabend einer Katastrophe?

Die weltpolitische Spannung der Gegenwart hat sich in den vergangenen zwei Jahren seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine explosionsartig verschärft. Zahlreiche Kriegs- und Krisenherde schießen wie Pilze aus dem Boden und das Ende dieser Entwicklung ist nicht in Sicht. Geopolitische Spannungen, geoökonomische Konfrontation, zahllose gegenseitige Sanktionen, ökonomische und technologische Interdependenzen und immer wieder militärische Drohgebärden und Einschüchterungsversuche führen zunehmend zur Implosion und Infragestellung aller bestehenden globalen Ordnungsstrukturen.

Und in diesem wirren Machtumfeld findet ein unaufhaltsamer Erosionsprozess der unipolaren Weltordnung statt, in dem verschiedene Machtakteure ihre gegensätzlichen Machtansprüche anmelden und diese ohne Beachtung der bisherigen, kurz zuvor noch als selbstverständlich gegoltenen Spielregeln in den internationalen Beziehungen durchzusetzen versuchen.

Es entsteht eine skrupellose, rücksichtslose und vor allem regellose Weltunordnung, die sich allein auf der Gewalt und einer gegenseitigen Abschreckung und Eindämmung zu gründen scheint. An Stelle einer regelbasierten Sicherheitsordnung tritt eine sicherheitspolitische Regellosigkeit, die die noch halbwegs funktionierenden Sicherheitsstrukturen zunichtemacht.

Das Einzige, worauf diese Sicherheitserosion noch beruht, ist Angst und Abschreckung. Alle anderen Spielregeln des Mit-, Neben- und Gegeneinander wurden außer Kraft gesetzt.

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges vollzog sich ein dreifacher Wandel der sicherheitspolitischen Vorstellungen von der „kollektiven Sicherheit“ über die bipolare bis zur unipolare Sicherheitsordnung.

Die „kollektive Sicherheit“ war schon in statu nascendi eine Totgeburt, die bipolare Sicherheitsordnung war die Folge der neuentstandenen machtpolitischen Kräfteverhältnisse der Nachkriegszeit und die unipolare Weltordnung entstand als Folge des Zusammenbruchs eines der beiden Systemrivalen des „Kalten Krieges. Innerhalb von nur achtzig Jahren stehen wir erneut vor einem sicherheits- und ordnungspolitischen Wandel mit einem ungewissen Ausgang.

Die drei bisherigen sicherheitspolitischen Ordnungsvorstellungen und Strukturen waren entweder unerfüllte Träume oder zeitlich befristete, aus der Not geborene Provisorien. Stehen wir heute nunmehr wieder vor einem neuen Provisorium oder gar vor einem möglichen Kollaps aller Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen? Warum waren aber die bisherigen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entweder gescheitert oder nur von kurzer Dauer?

Der US-Außenminister Cordell Hull begründete 1943 seine durch die geplante Weltorganisation verkörperten sicherheitspolitischen Vorstellungen damit, „dass es künftig keinen Bedarf mehr geben würde für Einflusssphären, Allianzen, für das Machtgleichgewicht oder irgendeine andere dieser speziellen Regelungen, durch die in der unglückseligen Vergangenheit die Staaten versuchten, ihre Sicherheit zu gewährleisten oder ihre Interessen zu fördern.“5

Diese von der Roosevelt-Administration vertretene globale Sicherheitspolitik ohne Einflusssphären, Allianzen, Machtgleichgewicht usw. erwiesen sich gleich nach dem Ableben Roosevelts als Illusion und realitätsfern. Die althergebrachten Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen von Hegemonie, Gleichgewicht, Bündnisbindungen und nicht zuletzt die ideologischen Differenzen waren derart dominant und unüberwindbar, dass von der Idee einer „kollektiven Sicherheit“ keine Rede sein konnte.

Bereits an der in San Francisco stattgefundenen Konferenz (April/Juni 1945) zur Gründung der UNO wurde schnell klar, dass es mit der UNO als Organisation der kollektiven Sicherheit nicht weit her ist. Und es waren ausgerechnet die US-amerikanischen Hardliner, die die Idee der kollektiven Sicherheit der Roosevelt-Administration erfolgreich torpedierten.6

Die Idee der kollektiven Sicherheit war gestorben, noch bevor sie das Licht der Welt erblickte. Was dann passierte, ist bekannt: die Entstehung und Ausbildung der bipolaren Weltordnung. Die seit Jahrhunderten etablierten und sich in Europa wechselseitig ablösenden Ordnungsprinzipien der Hegemonie und des Machtgleichgewichts wurden nicht von der kollektiven Sicherheitsordnung, sondern von der scharfen ideologischen Systemkonfrontation abgelöst.

In der Retrospektive betrachtet, konnte Henry Kissinger deswegen bezüglich der US-Außenpolitik des „Kalten Krieges“ kritisch anmerken, dass die „innenpolitischen Debatten über die Eindämmungspolitik auf der Grundlage jenes klassischen amerikanische Denkens geführt worden war, das geopolitische Erwägungen einfach ausschloss. Die eine Gruppierung betrachtete Außenpolitik als eine Unterabteilung der Theologie, während ihre Gegner sie für eine Unterabteilung der Psychiatrie hielten.“7

Dieses „theologisch-psychiatrische“ Denken löste laut Kissinger (ebd., 783) nicht „das ursprüngliche Dilemma“ der US-Außenpolitik, „dass nämlich die Eindämmungspolitik zwischen Konfrontation und Status quo keinen Mittelweg kannte.“ „Die Ost-West-Beziehungen waren (dadurch) in eine Sackgasse geraten“, weil die „traditionelle Eindämmungstheorie … eine diplomatische Pattsituation herbeigeführt (hatte)“, diagnostizierte Kissinger (ebd., 784) und wies selbstlobend darauf hin, dass die Nixon-Administration diese Pattsituation aufgebrochen und stattdessen „das nationale Interesse als maßgebliches Kriterium für eine langfristige amerikanische Außenpolitik“ verankert hat.

Kissinger predigte hier mit anderen Worten verklausuliert eine Rückkehr zur Politik der Staatsräson und vollzog damit eine radikale Kehrtwende von der ursprünglichen Idee der kollektiven Sicherheit über die de facto existierende Realpolitik des sog. „Gleichgewichts des Schreckens“ bis zur Machtstaatspolitik der Staatsräson des 19. Jahrhunderts.

Die Kehrtwende führte zur Entspannungspolitik der 1970er-Jahre, die ungeachtet deren Ablehnung durch die Reagan-Administration u. a. auch das Fundament für einen Erosionsprozess der Sowjetunion gelegt hat. Am Ende dieser Entwicklung stand der Zusammenbruch der Bipolarität und der Aufstieg der USA zur globalen Führungsmacht, sodass sich auch die Bipolarität als ein vorübergehendes Weltordnungssystem erwiesen hat.

Und nun kämpft die vom US-Hegemon angeführte unipolare Weltordnung um ihr Überleben und erweist sich ebenfalls wie die vorangegangenen Ordnungssysteme als nicht mehr überlebensfähig. Eine erstaunliche Entwicklung, wenn man bedenkt, dass der US-Hegemon noch vor wenigen Jahren vor lauter Kraft kaum gehen konnte.

Wie konnte es dazu kommen? Und vor allem: Was kommt auf uns zu, sollte die Unipolarität von der Postunipolarität abgelöst werden? Um die beiden Fragen beantworten zu können, muss man die Natur der Unipolarität, wie sie sich in den vergangenen dreißig Jahren ausgebildet hat, näher untersuchen. Die Natur der unipolaren Weltordnung kann man am besten in Anlehnung an einen der eifrigsten Apologeten der US-Hegemonie, Karl Otto Hondrich (1937-2007), als „Weltgewaltordnung“ charakterisieren.8

Die sich als „Weltgewaltordnung“ ausgebildete Unipolarität hat den territorialstaatlich geprägten Souveränitätsbegriff, wie er seit dem Westfälischen Frieden 1648 die internationalen Beziehungen und das Völkerrechtsdenken beherrscht hat, relativiert und dessen universale Prinzipien in Frage gestellt. Diese völkerrechtlichen Prinzipien lauten:

  • die souveräne Gleichheit aller Mitglieder, wobei die Völkerrechtssubjektivität nur Staaten zukommt;
  • das Gewaltverbot (mit Ausnahme des Selbstverteidigungsrechts);
  • das Interventionsverbot (Gebotes der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten).

Die drei Prinzipien des Völkerrechts erlitten in der unipolaren Weltordnung eine folgenschwere Relativierung, die zuerst im Kosovokonflikt 1999 deutlich wurde. „Das >Interventionsverbot< musste einer Rechtfertigung aus Gründen >humanitärer Intervention< weichen, einer menschenrechtlich begründeten >Nothilfeaktion< … Und das Gewaltverbot, verstanden als Beschränkung der Zulässigkeit der Verteidigung auf Abwehr von Angriffen auf das eigene Territorium, wurde gegenüber der Bekämpfung eines drohenden und schon in Ausführung begriffenen Verbrechens des Völkermords zurückgesetzt.“9

Diese Entterritorialisierung und Entgrenzung der Zulässigkeit der militärischen Gewaltanwendung wurden zu den neuen Grundsätzen der das UN-Völkerrecht ignorierenden und vom US-Hegemon angeführten unipolaren „Weltgewaltordnung“.

Der Unipolarität liegen statt des UN-Völkerrechts drei geo- und sicherheitspolitischen Maximen zugrunde, die sich von der am 17. September 2002 verkündeten „National Security Strategy“ der USA ableiten lassen: (1) Der Weltfrieden könne allein mittels einer permanenten und unanfechtbaren militärischen US-Überlegenheit dauerhaft gesichert werden. (2) Der Einsatz militärischer Gewalt müsse zeitlich und räumlich unbegrenzt möglich sein. (3) Es sei legitim, Gewalt gegen die sog. „Schurkenstaaten“ bzw. „rogue states“ anzuwenden.10

Diese drei Maximen konstituieren eine auf die absolute militärische Überlegenheit der USA gegründete Gewaltordnung und nicht eine Weltrechts- bzw. Weltfriedensordnung. Das bedeutet aber, dass Macht in den internationalen Beziehungen dem Recht vorgeordnet wird und sie sich – da die Macht stets einer Legitimation bedarf, allein moralisch oder ideologisch legitimieren lässt. Moralische Legitimation der Macht bedeutet wiederum, dass die Gewalt legitimierende Macht sich selbst legitimiert kraft der moralisch bzw. ideologisch fundierten Deutungshoheit des eigenen Handelns.

Man kann gar die These wagen, dass die moralische Selbstlegitimation umso größer sein muss, je rechtloser die Gewaltanwendung und je aussichtsloser eine völkerrechtliche Legitimation der Machtausübung ist. Anders formuliert: „Je stärker die eigene moralische Überlegenheit über den Gegner, den Feind angesetzt wird, desto geringere Anforderungen werden an die Rechtsgründe für die Befreiung vom allgemeinen Gewaltverbot gestellt.“11

Folgt man dieser moralisch sich selbst legitimierenden Gewaltlogik, dann dürfte derjenige, den der US-Hegemon für einen „Schurkenstaat“ hält, jederzeit angegriffen werden. Ein solch weit gefasstes Macht-, ja Allmachtverständnis lässt in Verbindung mit der moralischen Selbstüberhöhung „das rechtliche Gewaltverbot“ und überhaupt „alle rechtlichen Regeln zur Eindämmung internationaler Gewaltanwendung leerlaufen“ (ebd., 362).

Die auf der sich moralisch legitimierende Gewaltlogik gegründeten Unipolarität bedeutet, dass der US-Hegemon allein entscheidet, wer als „Schurkenstaat“ zu gelten hat und mit welchen Mitteln sein „Regime“ zu beseitigen ist. Damit tritt an die Stelle der Vereinten Nationen, die ja „als legitimierte Weltzentrale“ (ebd., 363) existiert, in der Unipolarität der US-Hegemon als der Weltgewaltmonopolist.

Die Monopolisierung der Gewalt durch einen weltbeherrschenden Hegemonen birgt in sich ein Risiko der Tyrannis und führt zu eigener Selbstgefährdung. Denn wenn es zutrifft, dass in den welthistorischen Prozessen Gewalt fortwährend neu erzeugt und gelebt wird, „dann kann ein Welt-Gewaltmonopol nur durch ebenso permanente Unterdrückung jeder schwächeren Gewaltregung aufrechterhalten werden“ (ebd., 365).

Der Hegemonialanspruch der USA, eine alle und alles beherrschende „überstaatliche Instanz“ zu sein, führte zu einer Weltgewaltordnung, die – um mit Hannah Arendt zu sprechen – zum „tyrannischsten Gebilde“ geworden ist, „das sich überhaupt denken lässt, vor dessen Weltpolizei es dann auf der ganzen Erde kein Entrinnen mehr“ gibt, „bis er schließlich auseinanderfällt“.12

Und genau dieses Auseinanderfallen der Unipolarität findet gerade vor unseren Augen statt und dem ist kein Entrinnen mehr. Es wäre fehl am Platz, sich darüber zu freuen, weil die Implosion der Unipolarität ein explosives Gemisch in sich birgt, das mit Explosion des bestehenden Weltordnungssystems, einem ökonomischen und technologischen Machtverlust der westlichen Hemisphäre, einer drastischen Eskalation der Spannungen zwischen den Großmächten und einer zunehmenden Gefahr eines globalen Krieges einhergeht. Die Zeichen stehen auf Sturm!

Anmerkungen

1. Zitiert nach Hildebrandt, W., Kulturschwelle oder Zeitgeist? In: ders., Versuche gegen die Kälte. Schriften zu
Literatur und Zeitgeistforschung. München 1987, 171-177 (171).
2. Vgl. Leonhard, J., Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918-1923. München 2018, 179 f.
3. Vgl. Leonhard (wie Anm. 2), 28.
4. Lüthy, H., Das Ende einer Welt: 1914, in: ders., In Gegenwart der Geschichte. Historische Essays. Köln
Berlin 1967, 271-310 (277 f.).
5. Statement vom 18. November 1943. Zitiert nach Czempiel, E.-O., Modelle der Weltordnung, in: Vorländer,
H., Gewalt und die Suche nach weltpolitischer Ordnung. Baden-Baden 2004, 91-112 (92).
6. Vgl. Silnizki, M., Auf dem Wege zu einer anderen Staatenwelt? Im Spannungsfeld zwischen Blocklogik und
Bündnisfreiheit. 17. März 2024, www.ontopraxiologie.de.
7. Kissinger, H. A., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782.
8. Hondrich, K. O., Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung, NZZ v. 22./23.3.2003.
9. Denninger, E., Recht, Gewalt und Moral – ihr Verhältnis in nachwestlicher Zeit. Ein Bericht, in: Kritische
Justiz 38 (2005), 359-367 (361).
10. Vgl. Denninger (wie Anm. 9), 361.
11. Denninger (wie Anm. 9), 362.
12. Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1987, 131.

 

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