Verlag OntoPrax Berlin

Militärblock als Vehikel der US-Außenpolitik

Im Spannungsfeld zwischen Blocklogik und Erosionsprozess

Übersicht

1. Die Angsthysterie: gestern und heute
2. Neue Blockbildungstendenzen?
3. Die Blocklogik als Anachronismus des „Kalten Krieges“

Anmerkungen

„Die Kernwaffen haben den Charakter der Außenpolitik geändert, aber noch
mehr haben sie ihn bestätigt, nämlich insofern, als die Außenpolitik stets
von der Stärke der Waffen abhängt.“
(Raymond Aron)1

1. Die Angsthysterie: gestern und heute

Wie ändern sich doch die Zeiten! Was zurzeit des „Kalten Krieges“ den Sowjets seitens der USA vorgeworfen wurde, wird heute den USA seitens Russlands vorgeworfen. Das außenpolitische US-Establishment war immer schon auf einem Konfrontationskurs zu Sowjetrussland und sparte nicht mit allen möglichen Vorwürfen gegen dessen hegemoniale Ambitionen.

Eine klassische Formulierung findet sich bereits am 7. April 1950 in einem Memorandum mit dem Titel „Bericht des Außen- und Verteidigungsministeriums über Ziele und Programme zur nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten“, das später als „N.S.C. 68“ bekannt wurde.

In diesem „N.S.C. 68“ (Memorandum 68 des Nationalen Sicherheitsrates) heißt es:

„Im Gegensatz zu anderen Mächten, die vor ihr nach Hegemonie strebten, ist die Sowjetunion von einem neuen fanatischen Glauben beseelt, der im Widerspruch zu unserem eigenen steht. Sie versucht dem Rest der Welt ihre absolute Herrschaft aufzuzwingen. Daher kommt es ständig zu Konflikten.“2

Hätte man nicht gewusst, woher diese Äußerung stammt und das Wort „Sowjetunion“ geschwärzt, so hätte man heute spiegelbildlich genau umgekehrt denken können, dass es nämlich um eine Kritik der US-Hegemonie geht, die ausgerüstet mit einem „fanatischen Glauben“ dem „Rest der Welt ihre absolute Herrschaft aufzuzwingen“ bzw. zu oktroyieren versucht.

Und diese Kritik der US-Hegemonie wäre heute sogar zutreffender als die US-Warnung vor einer sowjetischen „absoluten Herrschaft“ über den Rest der Welt im Jahr 1950. Wie zurzeit des publizierten Memorandum 68 herrscht auch heute eine ziemlich aufgeheizte Stimmung und eine vor allem in der Europäischen Union (EU), insbesondere im Baltikum und in Polen geschürte Angst vor der russischen Invasion nach dem möglichen Überrollen der Ukraine.

Die ausschlaggebenden Gründe für diese Angsthysterie waren die in der westeuropäischen Öffentlichkeit Ende der 1940er- und Anfang der 1950er-Jahre weit verbreitete Auffassung: Stalin trachte danach, das besetzte Osteuropa wegen der Anwesenheit der Sowjettruppen dauerhaft zu besetzen und anschließend zu sowjetisieren, die Furcht vor seinem grenzenlosen Expansionsdrang gen Westen und schließlich die Überzeugung, dass jedes totalitäre System letztlich nach der Weltherrschaft strebe.

Heute werden beinahe die gleichen Denkmuster und Angstparolen von den Transatlantikern in der EU-europäischen Öffentlichkeit verbreitet, um nicht nur die Massen gegen die vermeintliche „russische Gefahr“ zu mobilisieren, sondern auch die Macht- und Funktionseliten dazu anzustacheln, den blutig geführten Krieg in der Ukraine weiterhin militärisch und finanziell kritik- und widerspruchlos zu unterstützen.

Nach dem Motto „Halte den Dieb“ werfen ausgerechnet diejenigen, die dreißig Jahre lang seit dem Ende des Ost-West-Konflikts die Nato-Expansion gen Osten gegen einen erbitterten, aber aussichtslosen Widerstand Russlands befürworteten, Putin „Expansionismus“ und „Neoimperialismus“ vor.

Diese Volksverdummungsrhetorik und Tatsachenverdrehung sind nicht einmal originell. Auch das Axiom vom unbegrenzten sowjetischen Expansionismus gehörte nach den Worten von Wilfried Loth „zu den zentralen Mythen des Kalten Krieges, die durch die konkrete sowjetische Westeuropapolitik nicht zu belegen sind.“3

Dass Stalin zudem von Anfang an das Ziel verfolgte, Osteuropa zu „sowjetisieren“, gehört ebenfalls zu den gepflegten Mythen des „Kalten Krieges“.4

Wie auch immer man zu dieser längst untergegangenen Epoche der europäischen und Weltgeschichte stehen mag, zeigt sie doch, dass die heute erbittert geführte und zum Teil auch hasserfüllte Konfrontation zwischen Russland und dem konsolidieren Westen die alten vergessen geglaubten Ressentiments, Vorurteile, Missdeutungen und Missverständnisse reanimiert.

Indem die Nato-Expansionspolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Sicherheitsinteressen Russlands de facto ignorierte, löste die US-Geopolitik eine Eskalationsspirale aus, die letztendlich zum Ukrainekrieg geführt hat, vor dem die namhaften US-Russlandkenner wie George F. Kennan bereits in den 1990er-Jahren gewarnt haben.

Heute sehen wir eine Eskalationsspirale seitens des Westens, der die wachsenden Spannungen im Gefühl der eigenen Unangreifbarkeit, Straflosigkeit und Machtvollkommenheit ganz bewusst in Kauf nimmt. Darin unterscheidet sich die gegenwärtige Eskalationsintensität von der Zeit des „Kalten Krieges“. Diese Angst- und Straflosigkeit macht die heutige Konfrontation so gefährlich.

Es herrscht eine schizophrene Situation: Zum einen ignoriert der Westen die russischen geo- und sicherheitspolitischen Interessen und demonstriert betont seine zur Schau gestellte Angstlosigkeit vor einem nuklearen Inferno und führt furchtlos einen möglichst allumfassenden Sanktionskrieg gegen Russland bei gleichzeitiger militärischer und finanzieller Kriegsunterstützung der Ukraine.

Zum anderen warnt derselbe Westen dringend vor der Gefahr eines Armageddon als Folge des Ukrainekonflikts.

Wäre es zu Zeiten des „Kalten Krieges“ zugegebenermaßen ideologisch noch vorstellbar, dass das sowjetische System wegen seines ihm innewohnenden „Totalitarismus“ aggressiv sei und darum auf Expansion hinaus sein könnte, so wäre eine geopolitische Expansion zwecks Erringung der Stalin vom Westen propagandistisch unterstellten und systemideologisch begründeten Weltherrschaft kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges völlig ausgeschlossen.

Der „sowjetische Totalitarismus“ führte eben nicht zwangsläufig zum „Expansionismus“, und zwar aus ganz einfachem Grund: Das Sowjetimperium war nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges pleite und eine ökonomische Ruine. Zu einer wie auch immer gearteten Expansion oder gar einem Streben nach Weltherrschaft war es ökonomisch nicht handlungsfähig und darum geopolitisch auch nicht handlungswillig.

Der Zweite Weltkrieg hat Sowjetrussland in die Steinzeit zurückgebombt. Die Ausgangspositionen der beiden Siegermächte und ehem. Bündnispartner, die beim Eintritt in die Friedenszeit ideologisch feindselig gegenüberstanden und völlig zerstritten waren, konnten kaum ungleicher sein. Nichts als Frieden wünschte sich das siegreiche, aber eben ökonomisch ruinierte kommunistische Reich selbstverständlich zu eigenen Bedingungen.

Demgegenüber war der Westen unter Führung der einzig verbliebenen Supermacht nach dem Ende der bipolaren Weltordnung geoökonomisch, geopolitisch und nicht zuletzt axiologisch expansionsfähig und expansionswillig.

Die Eskalationsdominanz war gestern wie heute eindeutig auf der Seite einesökonomisch und monetär viel mächtigeren US-Gegenparts. Nach dem Untergang des Sowjetreiches war die geopolitische Lage Russlands noch prekärer. Es hat sich ideologisch ergeben, war geopolitisch machtlos und lag darüber hinaus ökonomisch am Boden.

Die USA suchten darum im Gefühl der eigenen ökonomischen und militärischen Omnipotenz die geo- und sicherheitspolitischen sowie axiologischen Spielregeln der entstandenen unipolaren Weltordnung zu diktieren und sind dabei, wie man heute weiß, kläglich gescheitert. Zu sehr sind sie in ihrem ungezügelten Expansionsdrang rücksichts- und skrupellos geworden.

Ist die Konfrontation des „Kalten Krieges“ noch glimpflich verlaufen und der „Kalte Krieg“ auch „kalt“ (Dmitrij Trenin) geblieben und kann man noch vom Glück sprechen, dass er nicht in einen Dritten Weltkrieg ausartete, so sieht die Lage heute ganz anderes aus. In Anbetracht der im globalen Raum entstandenen mehreren Machtzentren und einer fortschreitenden Erosion der US-Hegemonie ist die heutige geopolitische Lage in mancherlei Hinsicht viel dramatischer und gefährlicher.

2. Neue Blockbildungstendenzen?

Mit einem fortschreitenden Erosionsprozess der US-Hegemonie scheint nun auch die bestehende unipolare Ordnung in eine fragmentierte Weltordnung mit Blockbildungstendenzen auszuarten. Zumindest in der Weltwirtschaft erblickt der WTO-Chefökonom, Ralph Ossa, diese Tendenz.

„Wir beobachten bei den Handelsströmen erste Anzeichen einer Blockbildung“, meint er besorgt in einem Interview für das Handelsblatt am 18. Januar 2024 und fährt fort: „Für eine Analyse haben wir die Staaten anhand ihres Wahlverhaltens in der Uno-Vollversammlung in zwei Blöcke aufgeteilt. Es zeigt sich, dass sich der Handel innerhalb dieser hypothetischen Blöcke sowie zwischen den Blöcken lange Zeit parallel entwickelt hat. Doch nun wächst der Handel innerhalb der Blöcke schneller als zwischen ihnen. Es sind die Anfänge einer Fragmentierung, und das ist besorgniserregend.“

Die von Ossa befürchtete Blockbildung in der Weltwirtschaft ist freilich ein Missverständnis. Tatsächlich findet etwas ganz anderes statt. Als Relikt des „Kalten Krieges“ ist nach dem Ende der bipolaren Weltordnung einzig der westliche Block mit seinen zahlreichen transatlantischen Institutionen unter Führung des US-Hegemonen übriggeblieben.

Vor dem Hintergrund des seit zwei Jahren tobenden Ukrainekrieges tritt der Westen mittlerweile noch konsolidierter und entschlossener auf, als er bis dahin schon war, und hat sich mit seiner allumfassenden Sanktionspolitik gegen Russland in Stellung gebracht.

Da sich Russland aber die westlichen Strafmaßnahmen nicht gefallen ließ und sich zur Wehr zu setzen wusste, musste es notgedrungen seine Handelsbeziehungen neu disponieren und orientiert sich in seiner Außenwirtschaft zunehmend in Richtung der nichtwestlichen Länder, die bereit und willig sind, mit Russland Handel gegen zum Teil erbitterten Widerstand des Westens zu treiben.

Und so erklärt sich auch die von Ossa beobachtete Veränderung der Handelsströme in der Weltwirtschaft. Weil nun aber auch manche anderen Länder vom Westen ebenfalls sanktioniert werden, entwickelt sich eine merkwürdige geoökonomische Machtkonstellation.

Der westliche Block, der aus welchen Gründen auch immer versucht, die sanktionierten Länder von der Weltwirtschaft zu isolieren, gerät selbst in Gefahr sich selbst zu isolieren, wohingegen die sanktionierten Länder stark genug sind, ihre außenwirtschaftlichen Beziehungen am Westen vorbei auf- und auszubauen, ohne sich isolieren zu lassen.

Das bedeutet aber nicht so sehr eine Entwicklung zur Blockbildung als vielmehr ein Zeichen des Erosionsprozesses der westlichen Weltdominanz, die nicht mehr und nicht ohne weiteres in der Lage ist, ihren Machtwillen den anderen Ländern und Staaten mittels der Wirtschaftssanktionen und Finanzrepressionen aufzuzwingen.

Es stehen somit nicht etwa zwei Machtblöcke gegeneinander, sondern es entwickeln sich vielmehr verschiedene Handelsströme, die sich entlang der geopolitischen Präferenzen bewegen und nicht gewillt sind, sich vom Westen erpressen zu lassen, zumal die Sanktionierten sich gar nicht weigern, mit dem Westen Handelsbeziehungen zu unterhalten.

Vielmehr muss der konsolidierte Westen aufpassen, dass er mit seiner Sanktionspolitik nicht in eine Selbstisolation gerät, die es ihm unmöglich macht, aus diesem Schlamassel ohne Gesichtsverlust und vor allem schadlos herauszukommen.

3. Die Blocklogik als Anachronismus des „Kalten Krieges“

Die von Ossa beobachteten „Anfänge einer Fragmentierung“ der globalisierten Weltwirtschaft sind lediglich Symptome, die auf die tektonischen Machtverschiebungen im globalen Raum hindeuten und auf einen Langfristtrend von einer unipolaren zu einer postunipolaren Weltordnung hinweisen.

Der Erosionsprozess der globalen US-Hegemonie schreitet mit Riesenschritten voran und ist nicht mehr aufzuhalten, obwohl der US-Hegemon fieberhaft versucht, dagegen zu steuern oft mit rabiater militärischer Gewalt. Wenn man aber kein anderes Instrumentarium außer Militärmacht hat, dann ist es eher ein Zeichen der Schwäche denn der Stärke.

Militärmacht ist nicht das Attribut der hegemonialen Größe, sondern ihr Werkzeug. Sie ist nicht geeignet, allein die globale Hegemonie zu perpetuieren und aufrechtzuerhalten, alle denkbaren und undenkbaren Situationen zu beherrschen und allen geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen Herr zu werden.

Nicht einmal die zur Schau gestellte Demonstration der US-Militärmacht schreckt heute die mit militärischen Maßnahmen angedrohten Länder und Völker ab, wie man am Beispiel der Huthi-Milizen ablesen kann.

Der Erosionsprozess der globalen Hegemonie der USA hat freilich ein unangenehmer Nebeneffekt für die EU-Europäer. Denn der Verlust der globalen US-Hegemonie bedeutet keineswegs den Verlust der regionalen US-Hegemonie gegenüber der EU und der zum westlichen Block gehörenden Länder (wie Japan, Südkorea, Australien u. a.).

Der Wert Europas für die USA wird in der letzten Zeit zwar immer wieder relativiert und/oder für die US-Geopolitik instrumentalisiert. Ohne Europa würden die USA aber als Global Player marginalisiert. Darum ist die Nato für den US-Hegemon in seinem geopolitischen und geoökonomischen Machtkampf gegen China und Russland um die Weltherrschaft ein unverzichtbarer Machtfaktor.

Vor diesem Hintergrund stellt sich umgekehrt die Frage nach dem Wert der USA für Europa. Diese Frage haben die EU-Europäer sich noch nie gestellt, weil sie immer noch der Blocklogik des „Kalten Krieges“ verhaftet sind und darum in einem Unterwerfungsverhältnis zu den USA stehen.

Denn die „Frage der Vasallität und der Hegemonie ist mit der Allianz unlöslich verbunden, sobald es sich nicht um ein Bündnis zwischen vollkommen Gleichen handelt“, stellte Lothar Ruehl bereits 1974 zutreffend fest und fügte hinzu: „Die Atlantische Allianz, die erste, welche Amerika im Frieden einging, macht keine Ausnahme von dieser Regel.“5

In Anbetracht des tobenden Krieges in der Ukraine glauben die EU-Europäer diese Frage nach dem Stellenwert der USA für Europa gar nicht stellen zu dürfen, was die ganze geopolitische Misere Europas noch mehr verdeutlicht.

Angesichts der veränderten globalen Machtkonstellation und der erodierenden globalen Machtstellung der USA ist die Blocklogik des „Kalten Krieges“ nicht nur überholt und anachronistisch, sondern gefährdet auch die geoökonomischen und sicherheitspolitischen Interessen der EU-Europäer. Europa hat sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“ die US-Expansionspolitik zu eigen gemacht – im trügerischen Glauben, dass diese den ökonomischen, geo- und sicherheitspolitischen EU-Interessen dient.

Das wäre nur dann der Fall, wenn Russland auf dem Entwicklungsniveau der 1990er-Jahre stehen geblieben und der Aufstieg Chinas zur geoökonomischen Supermacht ausgeblieben wäre. Davon kann aber heute gar keine Rede mehr sein. Heute sieht die Welt ganz anderes aus.

Das Russland der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre ist Geschichte. Als geoökonomische Supermacht ist China nicht mehr wegzudenken und die ganze Welt emanzipiert sich mit Riesenschritten vom Westen, wohingegen die EU-Europäer – in ihrem Blockdenken verhaftet – die Gefangenen der US- Geopolitik bleiben und nicht einmal merken, wie diese Gefangenschaft sie ökonomisch ruiniert und sicherheitspolitisch gefährdet, weil die USA die europäische Sicherheit mit ihrem Expansionsdrang verschlimmbessern und nicht gewährleisten.

Diese Verkennung der geoökonomischen, geo- und sicherheitspolitischen Realität rächt sich heute umso mehr, je mehr die USA die „selbstverschuldete Unmündigkeit“ der EU-Europäer gnadenlos auszunützen wissen.

Wenn „das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen,“ bewusst dem eigenen strategischen Denken zugrunde gelegt wird, dann liegt es wohl „nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes …, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen“ (Immanuel Kant).

Dieses europäische „Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen,“ beruht auf der geopolitischen Ordnungsvorstellung, die die von den USA angeführte unipolare Weltordnung und die mit ihr gegebene Machtverteilung voraussetzt, der sich Russland und China zu fügen hat. Die strategische Suprematie der USA dürfe – folgt man dieser Ordnungsvorstellung – nicht in Frage gestellt werden.

Der sicherheitspolitische Nutzeffekt dieser strategischen Orientierung ausschließlich auf die USA schrumpft freilich auf Null zusammen, sobald die Spannungen zwischen dem Westen und Russland in Europa nicht mehr „kalt“ bleiben, sondern „heiß“ werden.

Die nach dem Ende der Bipolarität entstandene Nato-Sicherheitsordnung in Europa hat versagt, weil sie einen Krieg in Europa nicht verhindern konnte. Der Ukrainekonflikt zeigt zudem, dass die USA als Schutz- und Ordnungsmacht in Europa nur begrenzt handlungsfähig und handlungswillig sind.

Die begrenzte Handlungsfähigkeit erklärt sich zum einem mit den veränderten globalen Machtkonstellationen und zum anderen mit der Fähigkeit und Bereitschaft Russlands die Nuklearmacht im Falle der Bedrohung seiner vitalen Sicherheitsinteressen einzusetzen. Das Nuklearmachtpotential garantiert Russland zumindest die Status-quo-Verteidigung, solange und soweit dieser Status quo mit den vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht zusammenfällt.

Zurzeit des „Kalten Krieges“ hielten sich die Sowjetunion und die USA „in ihren gegenseitigen Beziehungen an die einfachste Vorsichtsmaßnahme: Sie hüteten sich vor jedem bewaffneten Zusammenstoß.“ Es sah so aus, „als fürchteten die beiden Großen, dass der Zusammenprall zwischen einem sowjetischen und einem amerikanischen Bataillon die Steigerung zum äußersten auslösen könnte.“

So löschten die sowjetischen Frachter im Vietnamkrieg ihr „Kriegsmaterial in Haiphong, aber selbst die amerikanischen >Falken< fordern nicht die Bombardierung des vietnamesischen Hafens, bei der die sowjetischen Transportschiffe getroffen werden könnten.“6

Heute gilt diese „einfachste Vorsichtsmaßnahme“ nur bedingt. Die beiden Rivalen hüten sich nur vor einem direkten, nicht aber vor einem indirekten bewaffneten Zusammenstoß, der direkt die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands tangieren.

Zwar führt das russische Nuklearmachtpotenzial zur Selbsteinschränkung und Selbstbegrenzung des westlichen bzw. US-amerikanischen militärischen Engagements in der Ukraine, was die sowieso nur geringen Aussichten der Ukraine auf irgendeine siegreiche Beendigung des Konflikts von Anfang an zu Nichte machte.

Diese Selbsteinschränkung unterliegt aber nicht dem fundamentalen Grundsatz des „Kalten Krieges“: „nicht dort eingreifen, wo der andere – der einzige Rivale, der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht.“7 Gehorchte die US-Geostrategie in Zeiten des Ost-West-Konflikts diesem fundamentalen Grundsatz der Konfrontation uneingeschränkt, so gilt er heute nicht mehr, weil der Westen unter der Führung des US-Hegemonen Russland nicht mehr als gleichwertig und ebenbürtig anzusehen bereit ist.

Diese westliche Machtarroganz ist nicht nur deplatziert und birgt in sich die Gefahr einer unkontrollierten Eskalationsspirale, sie widerspricht in eklatanter Weise auch den Realien am ukrainischen Kriegsschauplatz. Denn der Verlauf des Ukrainekonflikts hat dasjenige offenbart, was Mick Ryan (Militärstratege u. Generalmajor der australischen Armee) neuerlich Russlands „strategische Anpassungsfähigkeit (strategic adaptation) nennt.

In seiner umfangreichen Studie „Russia’s Adaptation Advantage für Foreign Affairs vom 5. Februar 2024 weist Ryan „Russlands Überlegenheit bei der strategischen Anpassung“ (vgl.: Russia is superior at strategic adaptation) nach.

„Je länger dieser Krieg dauert, desto besser wird Russland sich darin anzupassen lernen und eine effektivere, moderne Kampftruppe aufbauen. … Wenn Russlands Vorsprung bei der strategischen Anpassung ohne eine angemessene Reaktion des Westens anhält, dann ist das Schlimmste, was in diesem Krieg passieren kann, nicht eine Pattsituation, sondern eine ukrainische Niederlage“ (The longer this war lasts, the better Russia will get at learning, adapting, and building a more effective, modern fighting force. … if Russia’s edge in strategic adaptation persists without an appropriate Western response, the worst that can happen in this war is not stalemate. It is a Ukrainian defeat).

„Obwohl die Ukraine und ihre Partner hart daran gearbeitet haben, Schritt zu halten, hinken sie den russischen Fähigkeiten zur elektronischen Kriegsführung immer noch hinterher“, zitiert Ryan den ehem. Oberkommandierenden der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Salužnyj und merkt gleich an: „Der vielleicht aufschlussreichste Bereich, in dem sich Russland angepasst und einen strategischen Vorteil (a strategic advantage) verschafft hat, ist sein rüstungsindustrieller Komplex (defense-industrial complex)“.

Dass dieser „rüstungsindustrielle Komplex“ auf das sowjetische Erbe zurückzuführen ist und Russland diese Rüstungskapazitäten deswegen schnell reaktivieren und hochfahren konnte, übersieht Ryan bei seiner Analyse des „strategischen Vorteils“ (a strategic advantage), den er allein auf die „strategische Adaptation (strategic adaptation) zurückführt.

Die „wichtigste Lehre aus der ukrainischen Gegenoffensive 2023“ sei nach Ryans Meinung, „dass die Doktrin der kombinierten Waffen, die die Nato den ukrainischen Truppen beigebracht hat, überholt ist“ (A key lesson from the 2023 Ukrainian counteroffensive … is that the combined-arms doctrine that NATO taught to Ukrainian troops is out of date).

„Je länger der Krieg in der Ukraine dauert“, schreibt Ryan am Ende seiner Studie, „desto mehr wird Moskau seine strategische Adaptation verbessern. … Russland hat derzeit die strategische Initiative inne. Darum ist eine Niederlage (der Ukraine) leider immer noch ein mögliches Ergebnis.“

Um dieser Niederlage vorzubeugen, wird der Westen vermutlich nicht tatenlos auf Russlands „strategischen Vorteil“ (strategic advantage) hinschauen und mit einer weiteren Eskalation des Konflikts reagieren.

In Anbetracht der Gefahr einer unkontrollierten Eskalationsspirale mit allen sich daraus ergebenden Folgen für den Weltfrieden wird immer deutlicher, dass die Blocklogik des „Kalten Krieges“ zu einem gefährlichen Anachronismus geworden ist.

Ohne die Einbeziehung Russlands in die gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur, die einen Anti-Block-Charakter annimmt, werde es weder Sicherheit noch Frieden auf dem europäischen Boden geben.

Und sollte trotz alledem alles beim Alten bleiben oder es sogar dahingehend noch schlimmer werden, dass die Selbsteinschränkung der Anti-Russland-Koalition aufgehoben wird, dann muss mit einer dramatischen Eskalationssteigerung gerechnet werden. Dann helfe uns Gott!

Anmerkungen

1. Aron, R., Zur Entwicklung des strategischen Denkens (1945-1968), in: des., Zwischen Macht und Ideologie.
Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 341-374 (373).
2. Zitiert nach Barnet, R. J., Wie es zur neuen Politik der Stärke kam, in: Bittorf, W. (Hg.), Nachrüstung. Der
Atomkrieg rückt näher. Hamburg 1981, 171-192 (173).
3. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
4. Корниенко, Г. М., Холодная Война. Свидетельство её участника. Москва 1995, 9 ff.
5. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 99 f.
6. Aron (wie Anm. 1), 349.
7. Aron (wie Anm. 1), 350.

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