Ein geopolitischer Machtkampf um die Ukraine
Übersicht
1. „Was ist, wenn Russland gewinnt?“
2. Die US-Expansionspolitik versus Russlands Geopolitik
3. Geopolitische Auswirkungen des Ukrainekonflikts
Anmerkungen
Einige US-Amerikaner haben „die Vernunft verloren …,
um ihre unipolare Hegemonie zu verteidigen“.
(Chinas Außenminister Wang Yi)1
1. „Was ist, wenn Russland gewinnt?“
„What If Russia Wins?“ (Was ist, wenn Russland gewinnt?). Unter diesem Titel veröffentlichten Liana Fix und Michael Kimmage ihre gemeinsame, eine Woche vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 18. Februar 2022 erschienene Studie in Foreign Affairs, die die Zeitschrift in ihrer Ausgabe vom 14. Mai 2024 zum zweiten Mal abgedruckt hat.
Was hat die Zeitschrift dazu veranlasst, eine vor gut zwei Jahren verfasste Studie erneut zu veröffentlichen? Die Antwort findet man im Untertitel der Studie: „A Kremlin-Controlled Ukraine Would Transform Europe“ (Eine vom Kreml kontrollierte Ukraine würde Europa verändern). Die im Vorfeld des Krieges geäußerte Warnung scheint der Zeitschrift so wichtig zu sein, dass sie sich veranlasst fühlte, die Studie erneut abzudrucken.
Wovor warnt die Studie aber genau? Im Gegensatz zu zahlreichen Publikationen in den vergangenen zwei Jahren seit dem Ausbruch des Ukrainekriegs zeichnet sich die Studie durch ein gewisses analytisches Niveau aus. Freilich ist auch sie nicht frei von Ressentiments, Vorurteilen und rudimentären Kenntnissen der russisch-ukrainischen sowie russisch-transatlantischen Beziehungen seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der Herausbildung der unipolaren Weltordnung unter der US-Führung.
Was in dieser Studie wie im Übrigen in beinahe allen vorangegangenen und nachfolgenden US-Studien fehlt, ist eine Reflexion des eigenen außenpolitischen Handelns, das maßgeblich die Weltordnungspolitik der vergangenen dreißig Jahren prägte. Ihr liegen neben der Nato-Expansionspolitik2 und Brzezinskis „imperialer Geostrategie“ zur Beherrschung Eurasiens3 nicht zuletzt die US-Russland- und Ukrainepolitik zugrunde4.
Diese fehlende Auseinandersetzung mit der eigenen US-Außenpolitik ist derart irritierend und verblüffend, dass man das Gefühl haben muss, als würden die internationalen Beziehungen keine reziproke Veranstaltung sein und als würde Russlands Außen- und Geopolitik sich in einem luftleeren Raum befinden und nicht reaktiv auf die US-Expansions-, Interventions- und Invasionspolitik der vergangenen dreißig Jahre agieren.
Diese merkwürdige Umkehrung von Ursache und Wirkung ist charakteristisch für das US-amerikanische und transatlantische außenpolitische Denken. Immerhin warnten Liana Fix und Michael Kimmage davor, Russland zu unterschätzen, womit sie, wie sich heute herausgestellt hat, auch recht hatten.
Bereits die russische Intervention im Sommer 2015 in den Bürgerkrieg in Syrien hat die US-Führung zunächst überrascht, dann schockiert und schließlich falsch eingeschätzt. Vor diesem Hintergrund ließ sich Obama frustriert zu der Äußerung hinreißen: Syrien werde zu einem „Sumpf“ für Russland und Putin (vgl.: „Syria would become a >quagmire< for Russia and Russian President Vladimir Putin“).
Syrien würde – warnte er anschließend – zu Russlands Vietnam oder Putins Afghanistan – ein schwerer Fehler, der sich schließlich gegen russische Interessen rächen würde (vgl.: „Syria would be Russia’s Vietnam or Putin’s Afghanistan, a grievous mistake that would eventually rebound against Russian interests“).
Obama sollte sich irren, wie wir heute wissen. Russlands Intervention in Syrien wurde nicht zum „Sumpf“ für Putin. Ganz im Gegenteil: Moskau rettete Baschar al-Assad vor einer drohenden Niederlage und setzte seine Intervention in ein diplomatisches Druckmittel um.
Das war eine große Überraschung für die US-Führung und ein Warnsignal, die russischen geo- und sicherheitspolitischen Interessen ernst zu nehmen. Die Warnung wurde jedoch ignoriert. Zu übermächtig fühlte sich das US-Establishment, um auf irgendjemanden Rücksicht nehmen zu müssen, von Russland als „regionaler Macht“ (Obama) ganz zu schweigen.
Nun ist der Krieg in der Ukraine von einem ganz anderen Kaliber. Und die Äußerung des ehem. britischen Außenministers James Cleverly (2022-2023) war darum nicht ganz von der Hand zu weisen, als er beteuerte, dass ein Krieg in der Ukraine für Russland „ein Sumpf“ und der Preis für den Kreml sehr hoch sein würde.
Die anfänglichen taktischen und strategischen Fehler der russischen Militär- und politischen Führung haben dem Briten zunächst recht gegeben und den Eindruck erweckt, als würde die Ukraine mit einer tatkräftigen Unterstützung des Westens den Krieg tatsächlich für sich entscheiden können. Der Verlauf des Krieges hat uns freilich eines Besseren belehrt.
Liana Fix und Michael Kimmage konnten allerdings im Vorfeld des Kriegsausbruchs davon noch nichts wissen. Umso bemerkenswerter ist ihre Ursachenforschung über die Hintergründe und Intentionen einer möglichen russischen Intervention in der Ukraine.
Bemerkenswert ist dabei nicht so sehr ihre unüberhörbare Skepsis über die Siegesgewissheit und Prahlerei eines James Cleverly und seiner Gesinnungsgenossen, als vielmehr ihre Analyse der entstandenen geopolitischen Gemengelage, der mehrere Annahmen zugrunde liegen:
- Putins Kalkül spreche ihrer Überzeugung zufolge dafür, dass er „den europäischen Status quo“ (the European status quo) auf den Kopf stellen will.
- Putin befinde sich auf „einer historischen Mission“ (a historic mission), um Russlands Einfluss in der Ukraine zu festigen.
- Wenn das Kalkül des Kremls aufgehe und Russland die Kontrolle über die Ukraine erlange, dann werde eine neue Ära für die USA und Europa beginnen (a new era for the United States and for Europe will begin).
- Die transatlantischen Eliten stünden dann vor einer doppelten Herausforderung: „die europäische Sicherheit zu überdenken“ (rethinking European security) bei gleichzeitiger Vermeidung „eines größeren Krieges mit Russland“ (a larger war with Russia).
- Die USA und ihre Verbündeten würden als Folge der russischen Militäraktion in der Ukraine womöglich nicht mehr in der Lage sein, „eine neue europäische Sicherheitsordnung zu schaffen“ (to create a new European security order).
Diese Analyse ist geradezu paradigmatisch für das transatlantische außenpolitische Denken der vergangenen dreißig Jahre, dem drei unerschütterliche und nicht zu hinterfragbare Postulate bzw. Selbstverständnisse der westlichen Geo- und Sicherheitspolitik zugrunde liegen:
- Das unveränderliche und unveränderbare Status-quo-Postulat: Die sich seit dem Ende der bipolaren Weltordnung herausgebildete unipolare Welt sei in Stein gemeißelt, unveränderbar, nicht verhandelbar und stehe darum nicht zur Diskussion. Wer wie Putin mit seiner „historischen Mission“ wagt, „den europäischen Status quo auf den Kopf zu stellen“, stellt die gesamte Welt- und damit US-Hegemonialordnung in Frage. Dieser geopolitische Revisionismus muss mit allen zur Verfügung stehenden Mittel kompromisslos bekämpft und niedergerungen werden.
- Das naturgegebene Expansionspostulat, das in der Ukraine das selbstverständliche Ziel der transatlantischen Expansionspolitik sieht: Sollte Russland die Ukraine unter seiner Kontrolle bringen, würde geo- und sicherheitspolitisch eine neue Ära beginnen, die von den transatlantischen Eliten kategorisch abgelehnt wird.
- Das Unterordnungspostulat, das darauf hinausläuft, dass Russland seine geo- und sicherheitspolitischen Interessen dem Westen unterzuordnen hat.
Diese drei Postulate der transatlantischen bzw. US-Geopolitik prägen bis heute die US-Russlandpolitik. Sie lassen darauf schließen, dass das außenpolitische Führungs- und Beratungspersonal der USA die Handlungsmaximen der Supermächte im „Kalten Krieg“ längst über Bord geworfen hat und gar nicht einsieht, dass es irgendwelche Zugeständnisse an Russland machen soll.
Daraus ergibt sich auch der Vorwurf: Putin wolle „den europäischen Status quo“ auf den Kopf stellen. Dieser Vorwurf verkennt freilich die sich seit dem Ende des „Kalten Krieges“ herausgebildete Sicherheitsarchitektur in Europa.
Die bestehenden Friedens- und Sicherheitsstrukturen stehen nämlich bereits seit dreißig Jahren auf dem Kopf. Die Supermächte der bipolaren Weltordnung handelten nach dem Prinzip, das da lautet: „nicht dort angreifen, wo der andere – der einzige Rivale, der einzige Gleichwertige – sein vitales Interesse sieht“. Die USA und die Sowjetunion gehorchten „diesem Gesetz“, weil sie sich „auf keinen Krieg auf Leben und Tod“ einlassen wollten, um „sich nicht gegenseitig mit Atombomben zu bekriegen“.5
Dieses fundamentale Gesetz des „Kalten Kriegs“ wurde nach dem Untergang der Sowjetunion beerdigt. Der Grund war genauso trivial wie kurzsichtig: Der Westen betrachtete Russland, vom Sieg im „Kalten Krieg“ euphorisiert, nicht mehr als einen gleichwertigen Rivalen, auf den man geo- und sicherheitspolitisch Rücksicht nehmen sollte.
Als Folge dieser kurzsichtigen Russlandpolitik entstand ein Machtungleichgewicht in Europa, das Russlands geo- und sicherheitspolitische Interessen vollständig ignorierte. Denn das entstandene Machtungleichgewicht führte letztendlich zu einer exzessiven Nato-Expansionspolitik, womit sich Russland nie abfinden konnte.
Mit dem Ukrainekrieg beendete es abrupt die Fortsetzung jener transatlantischen Sicherheitspolitik, die nach dem Ende des Ost-West-Konflikts von der Nato-Osterweiterung geprägt und vom US-Hegemon als der Ordnungsmacht in Europa dreißig Jahre lange dominiert wurde.
Russland stellt mit seiner Intervention das entstandene Machtungleichgewicht als europäisches Ordnungsprinzip nicht nur in Frage, sondern ist auch bestrebt, das Machtgleichgewicht in Europa wiederherzustellen und die europäische Sicherheitsarchitektur vom Kopf auf die Füße zu stellen.
Genau diese geo- und sicherheitsstrategische Tragweite der russischen Intervention in der Ukraine verkannten Fix/Kimmage im Vorfeld des Kriegsausbruchs. Und die Transatlantiker weigern sich bis heute diese Entwicklung ungeachtet des seit zwei Jahren tobenden Krieges zu akzeptieren.
Immer noch beharrt ein einflussreicher Teil des außenpolitischen US-Establishments auf der Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, wie beispielsweise die am 26. März 2024 erschienene Studie in Foreign Affairs unter dem bezeichnenden Titel „What Ukraine Needs From NATO. Advanced Weapons – and Clarity on What Membership Will Require“ (Was die Ukraine von der NATO braucht. Fortschrittliche Waffen – und Klarheit darüber, was die Mitgliedschaft erfordert) deutlich macht.
Mit dem Kriegsausbruch ist der Traum von der Nato-Mitgliedschaft für die Ukraine zum Alptraum geworden.
2. Die US-Expansionspolitik versus Russlands Geopolitik
„Wenn Russland seine politischen Ziele in der Ukraine mit militärischen Mitteln erreicht“ – schreiben Fix/Kimmage -, werde „Europa nicht mehr das sein, was es vor dem Krieg war. Nicht nur die US-Vormachtstellung in Europa (U.S. primacy in Europe) wird erschüttert. Jede Vorstellung davon, dass die EU oder die Nato den Frieden auf dem Kontinent sichern können, würde sich als Illusion erweisen. Stattdessen muss sich die Sicherheit in Europa auf die Verteidigung der Kernmitglieder der EU und der Nato beschränken. Alle außerhalb der Clubs werden für sich alleinstehen, mit Ausnahme von Finnland und Schweden. Dies muss nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung sein, die Erweiterungs- oder Assoziierungspolitik zu beenden; aber es wird de facto Politik sein. … Die EU und die Nato werden nicht mehr in der Lage sein, eine ambitionierte Politik über ihre eigenen Grenzen hinaus zu verfolgen.“
Die zitierte Passage ist sehr aufschlussreich, zeigt sie doch, wie wenig die Verfasser bereit und gewillt sind, der Frage nachzugehen, ob die transatlantische Geo- und Sicherheitspolitik seit dem Ende des „Kalten Krieges“ nicht auch daran schuld ist, wie und warum es zu einer solchen Zuspitzung des Konflikts überhaupt kommen konnte.
Ganz im Gegenteil: Indem sie nach wie vor die transatlantische Expansionspolitik – die EU- und Nato-Osterweiterung – befürworten, bejahen sie die bisherige Nato-Expansionspolitik und geben im Grunde unbewusst zu, dass sie die Ursachen des Konflikts verkennen.
Zwar stellen sie zutreffend fest, dass die US-Vormachtstellung in Europa (U.S. primacy in Europe) mit dem Kriegsausbruch erschüttert und dass die Nato-Sicherheitsarchitektur sich als „Artefakt eines verlorenen Zeitalters“ (the artifact of a lost age) herausstellen wird. Dass aber diese Erschütterung auch selbstverschuldet ist, wird ignoriert.
Und diese Ignoranz der eigentlichen Ursachen des Krieges ist bis heute das ungelöste Problem der transatlantischen Sicherheitspolitik. Dass die Kriegsursachen entweder verkannt oder komplett ausgeblendet und ignoriert werden, liegt einzig und allein in der Selbstverortung der transatlantischen Eliten in diesem Konflikt, die die Konfrontation zwischen Russland und dem Westen ideologisch definieren oder – wie die US-Amerikaner – manichäisch verklären, statt sie geopolitisch zu verorten.
Dahinter verbirgt sich ein mittlerweile gut hundert Jahre nie enden wollender Versuch die geopolitischen Ziele ideologisch bzw. axiologisch zu camouflieren. Vor dem Zeitalter der Ideologien, das etwa seit dem Ende des Ersten Weltkrieg beginnt, waren die europäischen Machteliten viel ehrlicher und gingen viel unbefangener mit der geopolitischen Zielsetzung ihrer Macht- und Weltpolitik um.
„Expansion is everything. … I would annex the planets if I could“, verkündete einer der Wortführer des britischen Imperialismus, Cecil Rhodes (1853-1902), einst ohne jede Hemmung. Kein Transatlantiker wird es heute allein schon aus Gründen des Political Correctness wagen, eine solche Äußerung über die Lippen zu bringen.
Aber genau um diese Expansion geht es den Transatlantikern seit der Clinton-Administration die ganze Zeit nach dem Ende der bipolaren Weltordnung. Man könnte in diesem transatlantischen Expansionsdrang auch eine Kolonialpolitik alten Stils erblicken, die nicht zuletzt in der Kolonisierung der Ukraine ihr geostrategisches Ziel sieht.
Wie das Zeitalter des europäischen Imperialismus (1884 – 1914) drei Jahrzehnte andauerte und mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu Ende ging, so dauerte die transatlantische Expansionspolitik unter der Führung des US-Hegemonen zwischen 1991/92 und 2021/22 ebenfalls drei Jahrzehnte an, die mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine abrupt zu Ende gegangen ist.
Den Grundstein für diese Entwicklung legte die Clinton-Administration mit ihrer Entscheidung für eine expansionistische US-Außen- und Weltpolitik6. Dass eine solche folgenschwere Entscheidung ausgerechnet Bill Clinton getroffen hat, war kein Zufall.
Clinton war ein gelehriger Schüler eines US-amerikanischen Zivilisationstheoretikers, Carroll Quigley (1910-1977). In seiner Rede zur Annahme der Präsidentschaftskandidatur nannte Clinton „Quigley neben John F. Kennedy jenen Menschen, der seinen politischen Idealismus am tiefsten beeinflusst hat. Clinton war Mitte der sechziger Jahre Student bei Quigley in Georgetown (Washington D. C.), zu einer Zeit, als Quigley gerade an seinem Hauptwerk Tragedy and Hope … arbeitete.“7
Nach Quigleys Zivilisationstheorie ging die „Geschichte des Westens“ (Heinrich A. Winkler) auf einen ständigen Wechsel zwischen Expansions- und Konfliktphase zurück.8 Aus der Perspektive dieser Zivilisationstheorie gesehen, bedeutete der Zusammenbruch des Sowjetreiches das Ende der „Konfliktphase“ und der Beginn einer neuen „Expansionsphase“ der westlichen Zivilisation.
In dieser erneuten Expansionsphase muss der postsowjetische Raum als eine „außenstehende Zivilisation“ (Quigley) vom Westen „zivilisiert“ und das heißt: kolonisiert werden, um so seine ökonomische Rückständigkeit im Sinne der Errungenschaften der westlichen Zivilisation überwinden zu können. Zur Abfederung dieses Zivilisierungs- bzw. Demokratisierungsprozesses bedürfe es zwingend einer Nato-Expansionspolitik.
Quigleys Zivilisationstheorie nimmt jene Tendenzen der US-amerikanischen Außen- und Weltpolitik vorweg, die von Clinton in die Wege geleitet wurden und bis heute die US-Außenpolitik maßgeblich prägen. Der prominenteste Vertreter und Protagonist dieser expansionistischen US-Außenpolitik war Clintons engster Freund und US-Vizeaußenminister Nelson Strobridge „Strobe“ Talbott (1993-2001).
1997 gerieten Strobe Talbott und George F. Kennan aneinander, als Kennan erfahren hat, dass die Nato nicht nur die Tschechische Republik, Ungarn und Polen aufnehmen will, sondern auch eine militärische und maritime Kooperation mit der Ukraine anstrebt. „Nirgends erscheint diese Entscheidung so verhängnisvoll und fatal als im Fall der Ukraine mit schicksalshaften Konsequenzen“, warnte Kennan Talbott in einem privaten Brief.9
Kennan sorgte sich vor allem um „Sea Breeze“ – eine gemeinsame Ukraine-Nato-Marineübung. Der damals anhaltende Streit zwischen Kiew und Moskau über den Marinestützpunkt in Sewastopol auf der Krim trug zusätzlich zu den Spannungen bei. Wie passte eigentlich diese Marineübung – fragte Kennan Talbott – zu Washingtons Bemühungen, Russland davon zu überzeugen, dass die Nato-Osterweiterung keine unmittelbaren militärischen Konnotationen habe?
Talbott zollte laut Costigliola zwar Kennan seinen Respekt, teilte seine Befürchtungen aber aus grundsätzlichen Erwägungen nicht. Er ging vielmehr davon aus, dass der ökonomische Niedergang Russland dazu zwingen würde, sich dem Westen anzupassen. Wörtlich schreibt Talbott an Kennan: „Russland wird aus seiner tief verwurzelten Denkgewohnheit und Verhaltensweise ausbrechen müssen, indem es lernen wird, mit seinen Nachbarn zu kooperieren, statt sie zu dominieren. Russland muss sich anpassen und die US-Macht an seinen Grenzen akzeptieren („Russia had to do the adjusting and accept U.S. power on its borders“).10
Diese US-amerikanische Machtarroganz der 1990er-Jahre ist zum „guten Ton“ und zur Richtschnur der russisch-amerikanischen Beziehungen der vergangenen dreißig Jahre geworden. Und genau hier hatte die verhängnisvolle Entwicklung ihren Ursprung. Die Clinton-Administration und die nachfolgenden US-Administrationen beabsichtigen die Kooperation mit der Ukraine nicht zu stoppen, sondern diese ganz im Gegenteil auszubauen.
In bester Kolonialherren-Manier betrieben alle US-Administrationen seitdem die Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. Dieser zivilisationstheoretische Ursprung der US-Außen- und Russlandpolitik hat man freilich längst vergessen. Geblieben ist jedoch die US-Machtarroganz der 1990er-Jahre, die aus heutiger Sicht anachronistisch geworden und wie aus der Zeit gefallen ist.
Sie wirkt heute wie eine Karikatur auf die glorreichen Zeiten der US-Hegemonie. An Stelle der Zivilisationstheorie eines Quigleys ist in der Ukraine längst ein brachialer Kolonialkrieg getreten, der von den US-Falken angefeuert wird. Und dieser Kolonialkrieg hat nicht nur einen zivilisations- oder demokratietheoretischen Hintergrund.
Er findet längst im Geiste der sog. britischen „liberalen Imperialisten“ des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts statt, deren prominenteste Vertreter der Premierminister Herbert Henry Asquith (1908-1916), der Außenminister Edward Grey (1905-1916) und der Kriegsminister Lord Richard Burdon Haldane (1905-1912) waren.11
Was zu Zeiten des British Empire „liberaler Imperialismus“ hieß, heißt heute in Zeiten der US-Hegemonie „liberaler Internationalismus“. Selbst die Terminologie hat sich seitdem kaum geändert. Der Geist des „liberalen Imperialismus“ bzw. „Internationalismus“ hat die US-Machteliten bis dato voll im Griff.
Und wie zu Zeiten des British Empire die „liberalen Imperialisten“ den Imperialismus „geradezu zu einer metaphysischen Größe emporgesteigert“12 haben, so verklären die „liberalen Internationalisten“ heute die US-Hegemonie in ihrem pseudoreligiösen Übereifer als das einzig wahre und nicht mehr hinterfragbare Weltordnungssystem.
Von diesem Absolutheitsanspruch leiten sie sodann wie selbstverständlich ihre Expansionspolitik ab, rechtfertigen diese als zwingend erforderlich und erwarten – wie Talbott – von Russland, dass es „sich anpasst und die US-Macht an seinen Grenzen akzeptiert“.
Diese auf Expansion angelegte, „liberal“ verklärte hegemoniale Kolonialpolitik der transatlantischen bzw. US-amerikanischen Machteliten stoßt in Russland spätestens seit Putins Münchener Rede 2007 auf Unverständnis und schroffe Ablehnung. Ihr setzt die russische Machtelite mit zunehmender Intensität ihre eigene traditionsgebundene russische Geopolitik entgegen, indem sie sich vehement gegen die Kolonisation des ostslawischen Raumes wehrt und – um Carl Schmitts Terminologie zu benutzen – gegen das „Interventionsverbot raumfremder Mächte“ ausspricht.
Da die Ukraine ein Teil des ostslawischen Raumes ist, in dem Russen, Ukrainer und Weißrussen jahrhundertelang friedlich miteinander lebten, verbietet Russland jede Einmischung der raumfremden Mächte in die innerslawischen Angelegenheiten.
Kurzum: Russland geht es im Ukrainekonflikt nicht so sehr um die Frage nach einer Unabhängigkeit bzw. Souveränität der Ukraine und/oder eine territoriale Besitznahme, als vielmehr um die Nichtkolonisation des ostslawischen Raumes und Nichtintervention außerostslawischer Mächte.
Genau diese Intention der russischen Geo- und Sicherheitspolitik ignoriert die US-Russlandpolitik seit der Clinton-Administration und verletzt damit die vitalen russischen Sicherheitsinteressen.
Mit Putin erlebte die geopolitische Tradition Russlands eine Renaissance – die Renaissance der Kontinentalmachtstrategie13. Und wer im Westen heute immer noch vom Sieg der Ukraine träumt, im Glauben das Rad der Geschichte wieder zurückzudrehen und zu den Irrungen und Wirrungen der 1990er-Jahre zurückzukehren, der befindet sich auf einem geostrategischen Holzweg und versteht nicht die Zeichen der Zeit.
Die 1990er-Jahre waren eine absolute Anomalie der russischen Geschichte und sind nicht mehr reanimierbar. Ein Konflikt zwischen der als „open door policy“ verklärten US-Expansions- und Kolonialpolitik und der russischen Geopolitik war vorprogrammiert und unausweichlich. Als der Hüter der geopolitischen Tradition der Ostslawen hätte Russland diesen westlichen Affront der Nato-Expansion in der Ukraine nie zugelassen und wird – wie man heute sieht – auch nicht zulassen, was auch immer das kostet.
Moskau führt aus russischer Sicht ein Verteidigungskrieg gegen die raumfremden Mächte, die im ostslawischen Machtraum nichts zu suchen haben. Das zu verstehen, bedeutet sich das eigene geostrategische Versagen selbst einzugestehen.
Denn die Beziehungen zwischen Russland und den USA bzw. dem Westen hätte man nach dem Ende des „Kalten Krieges“ auch anderes gestalten können, als die Clinton-Administration es getan hat. Sie setzte, wie gesehen, getreu der Zivilisationstheorie von Carroll Quigley und immer noch dem Denken des „Kalten Krieges“ verhaftet auf Expansion und Dominanz zunächst in Mittelosteuropa und dann im postsowjetischen Raum.
Die Clinton-Administration und die nachfolgenden US-Administrationen machten Russland erneut und ohne Not zu einem gefährlichen geostrategischen Rivalen. Der kurzlebige Triumphalismus der 1990- und Anfang der 2000er-Jahre rächt sich heute umso mehr, als es sich nunmehr herausstellt, dass Russland mit dem Aufstieg Chinas zur geoökonomischen Supermacht und einer zunehmenden Emanzipation des sog. „Globalen Südens“ eine ganz andere und womöglich viel bessere geostrategische Alternative zum Westen bekommen hat.
Heute bewahrheitet sich Brzezinskis Warnung, die er in seinem 1997 erschienenen Werk „The Grand Chessboard“ ausgesprochen hat: „Das Schlechteste, was den USA widerfahren könnte, ist das Auftreten einer strategischen Allianz zwischen Moskau und Peking, der sich noch Iran anschließen würde.“
Und genau das ist eingetreten: die Entstehung einer (noch) informellen Allianz zwischen Russland und China. Iran und mittlerweile Nordkorea kommen als Teil einer vertieften Partnerschaft noch hinzu und es entsteht womöglich ein gigantischer eurasisch-indopazifischer Koloss als Gegengewicht zum Westen.
3. Geopolitische Auswirkungen des Ukrainekonflikts
Das außenpolitische US-Establishment verkennt heute die Zeichen der Zeit und ignoriert beharrlich die geostrategischen Folgen seiner dreißigjährigen Russlandpolitik, weil es infolge der eigenen ideologischen Selbstverblendung und seiner ökonomisch-militärischen Selbstüberschätzung bei gleichzeitiger Unterschätzung des geopolitischen Rivalen verlernt hat, strategisch zu denken und das Denkbare von vorneherein nicht als undenkbar auszuschließen.
Bis vor fünfzehn Jahren waren die USA gegenüber jeder anderen Großmacht strategisch im Vorteil. Die Amtsjahre von Präsidenten Bill Clinton und George W. Bush jr. (1993-2009) waren nach dem Ende des Ost-West-Konflikts „eine einzigartige Phase amerikanischer Hegemonialpolitik … Seit dem Römischen Reich hat kein Staat mehr solche umfassende und weitreichende Macht besessen. Washington wurde als das >neue Rom< und die USA als >Hypermacht< bezeichnet.“14
Mit dem ökonomischen Aufstieg Chinas und einer militärischen Wiedererstarkung Russlands geht nun aber die Ära der US-amerikanischen Über- und Allmacht allmählich und unaufhaltsam zu Ende. Es bewahrheitet sich erneut der Erfahrungssatz: Keine Epoche der Weltgeschichte und keine strategische Überlegenheit ist auf Dauer und ewig.
Und was vor noch 10/15 Jahren als undenkbar erschien, ist heute denkbar geworden. Ein Scheitern im Ukrainekonflikt würde für den Westen bzw. die USA strategische Konsequenzen haben und ihre Weltmachtdominanz weiter erodieren lassen.
Der Erosionsprozess vollzieht sich bereits seit Jahren aus unterschiedlichen geopolitischen und geoökonomischen Gründen, deren Analyse einer ganz anderen Studie bedarf. Mit dem von der Biden-Administration 2021 vollzogenen Rückzug aus Afghanistan erreichte dieser Prozess einen vorläufigen Höhepunkt.
Der Rückzug leitete gleichzeitig eine radikale geostrategische Wende ein, die Biden anscheinend ermöglichte, auf eine von den US-Geostrategen billigend in Kauf genommene – wenn nicht gar provozierte – russische Intervention in der Ukraine vorbereitet zu sein und handlungsfähig zu bleiben.
Zu Putins „Ehrenrettung“ muss man allerdings hinzufügen, dass Biden Putin aus russischer Sicht gar keine andere Wahl gelassen hat, als in die Ukraine einzumarschieren. Denn hätte er das nicht getan, dann stünde er vor einem unlösbaren Dilemma: Entweder die Ukraine an den Westen und d. h. an die Nato de facto – wenn nicht de jure – ganz zu verlieren und die Ukraine als das „Anti-Russland“-Modell der Angelsachsen endgültig verwirklicht zu sehen, was für die russische Geopolitik nicht nur ein Alptraum wäre, sondern auch die geo- und sicherheitsstrategische Lage Russlands dramatisch – nicht nur dem Westen, sondern auch China gegenüber – unterminiert hätte.
Oder: Putin musste nach dem Motto verfahren: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Das heißt: Russland dreht mit seiner militärischen Intervention die Geschichte zurück und zerstört damit ein für alle Mal das im Verlauf von dreißig Jahren (seit dem Jahr 2014 sogar in beschleunigter Weise) aufgebaute Anti-Russland-Modell der feindselig gewordenen Ukraine, zugleich nimmt es aber gezwungenermaßen die monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen des Westens bewusst in Kauf.
Die russische Führung hat sich für die zweite Variante entschieden und auf die Sanktionen ankommen lassen. Der Kriegsverlauf hat ihr auch das Recht gegeben. Dieses militärische Wagnis hat sich trotz anfänglichen Schwierigkeiten nicht nur ausgezahlt, sondern auch eine geopolitische Revolution im Schlepptau des Ukrainekonflikts ausgelöst.15
Russland bekämpft momentan nicht nur eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine, stellt nicht nur das von den USA errichtete unipolare Machtgebäude in Frage, sondern verteidigt aus russischer Sicht auch den Zusammenhalt des gesamten ostslawischen Machtraumes und versucht zusammen mit China, den BRICS-Staaten und dem „Globalen Süden“ alternative, d. h. von der US-Hegemonie unabhängige Weltordnungsstrukturen aufzubauen.
Diese geopolitische Revolution bedroht selbstverständlich die Weltmachtstellung des Westens, der im Traum nicht daran denkt, darauf kampflos verzichten zu wollen. Und der Ukrainekonflikt ist dabei nichts weiter als eine Zwischenetappe in einem nie enden wollenden Machtkampf zwischen Russland und dem Westen.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Heide, D. u. a., USA fordern Europa zur Zusammenarbeit auf, in: Handelsblatt, 16.05.24, S. 10.
2. Silnizki, M., Dreißig Jahre Nato-Expansion. Zur Vorgeschichte des Ukrainekonflikts. 4. Oktober 2023,
www.ontopraxiologie.de.
3. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Silnizki, M., Dreißig Jahre US-Russlandpolitik. Zwischen Ideologie und Expansion. 17. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
5. Aron, R., Zwischen Macht und Ideologie. Politische Kräfte der Gegenwart. Wien 1974, 350.
6. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
7. Bracher, A., „Das anglophile Netzwerk“ – Carroll Quigleys Enthüllungen zur anglo-amerikanischen Politik,
in: ders., Europa im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen Geschichte des 20.
Jahrhunderts. Basel 2001, 19-47 (19).
8. Näheres dazu Silnizki, M., Zwischen Dilettantismus und Hegemonismus. Außenpolitische Fehlkalkulationen:
gestern und heute. 3. Juli 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Zitiert nach Frank Costigliola, Kennan’s Warning on Ukraine.Ambition, Insecurity, and the Perils of
Independence, in: Foreign Affairs, 27.01.2023.
10. Zitiert nach Costigliola (wie Anm. 9).
11. Vgl. Schröder, H.-C., Imperialismus und antidemokratisches Denken. Alfred Milners Kritik am politischen
System Englands. Wiesbaden 1978, 24.
12. Schröder (wie Anm. 11), 60.
13. Näheres dazu Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik.
25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
14. Reinhard, W., Außenpolitik ohne Gegenpol: Amerikanische Weltpolitik der Ära Clinton/Bush als
Herausforderung für die Theorie, in: Hils, J. u. a. (Hrsg.), Assertive Multilateralism and Preventive War.
Baden-Baden 2012, 11; Paul, M., Kriegsgefahr in Pazifik? Die maritime Bedeutung der sino-amerikanischen
Rivalität. Baden-Baden 2017, 29.
15. Vgl. Silnizki, M., Geopolitische Revolution. Im Schlepptau des Ukrainekonflikts. 31. Januar 2023,
www.ontopraxiologie.de.