Verlag OntoPrax Berlin

Im Zeitalter der Ungewissheiten

Charles Kings „zivilisatorische Konterrevolution“

Übersicht

1. Ideologien kommen und gehen, die Geopolitik bleibt
2. Zwischen Gegenwart und Zukunft
3. Keine US-Weltdominanz ohne eine neue Zukunftsvision
Anmerkungen

„Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“
(Theodor Lessing)

  1. Ideologien kommen und gehen, die Geopolitik bleibt

Bei einer Rede in der Europäisch-Diplomatischen Akademie in Brügge im Oktober 2022 sprach Josep Borrell von Europa als „einem Garten,“ in dem alles funktioniere. Europa sei „die beste Kombination aus politischer Freiheit, wirtschaftlichem Wohlstand und sozialem Zusammenhalt“. Es habe – so der Tenor seiner Rede – alle Attribute der „Moderne“: Freiheit, Wohlstand und Sozialstaat.

Der Rest der Welt sei hingegen „ein Dschungel und der könnte in den Garten eindringen“ und (sollte man hinzufügen) den „Garten“ zerstören.

Diese Äußerung eines der hochrangigen EU-Repräsentanten ist aufschlussreich, zeigt sie doch einerseits die Selbstzufriedenheit der Eurokraten; andererseits deutet sie aber darauf hin, wie sehr die Eurokraten die Gefahren der Außenwelt fürchten. Man spürt in den Worten die ganze Zwiespältigkeit der Gefühle, die zwischen Zufriedenheit und Furcht, Selbstbeweihräucherung und Angst schwankt, die Errungenschaften der „Moderne“ zu verlieren.

Wie groß ist aber die tatsächliche Gefahr? Steht der Eurogarten wirklich wie am 24. August des Jahres 410 nach Christus, als die barbarischen Stämme unter der Führung des westgotischen Königs Alarich in Rom einfielen und die Stadt geplünderten, vor einer Zerstörung?

Dass der Eurogarten allmählich und unaufhaltsam verwildert und längst von Wildrosen des „Dschungels“ erobert wird, merkt heutzutage beinahe jedermann. Was geschieht aber mit dem „Dschungel“ selbst? Dieser scheint immer mehr aufzublühen und man sieht auf einmal die Kirschbäume wachsend und die zarten Kirschblüten blühen scheinbar immer länger auf.

Das ungute Gefühl, das nicht nur im Eurogarten, sondern auch im Westen insgesamt etwas nicht stimmt, beschleicht immer mehr die transatlantischen Eliten.

Und will man Charles King (Prof. f. intern. Politik an der Georgetown University) Glauben schenken, so findet heute in der ganzen Welt eine „zivilisatorische Konterrevolution“ (the civilizational counterrevolution) statt, welche den Westen und insbesondere die US-Hegemonie in ihren Grundfesten erschüttern kann.

In seiner in Foreign Affairs am 24. Oktober 2023 veröffentlichten Studie „The Real Washington Consensus. Modernization Theory and the Delusions of American Strategy“ (Der wahre Washingtoner Konsens. Modernisierungstheorie und der Wahn der amerikanischen Strategie) vertritt er die These, dass die ökonomisch fundierte „Modernisierungstheorie“ überholt sei und es heute neuer Visionen bedürfe.

Die zurzeit des „Kalten Krieges“ als Alternative zur Sowjetideologie entwickelte „Modernisierungstheorie“ von Walt Rostow – „Amerikas Rasputin“ -, wie ihn der US-Diplomat Averell Harriman einst spöttisch nannte, hat heute laut King Konkurrenz bekommen.

„Mehr als je zuvor seit dem Kalten Krieg“ – schreibt er -, „haben neue Konkurrenten heute ihre eigenen Theorien anzubieten und die Ressourcen, um sie zu verwirklichen“. Und so zählt King alle möglichen Bösewichte auf: (1) Das sind zuallererst natürlich „die globalen Kredithaie von Chinas Belt and Road Initiative“. Dass die Chinesen im Grunde nur das tun, was die US-Amerikaner seit Jahr und Tag mit ihrer Dollardiplomatie und Kreditvergabepolitik praktizieren, die nebenbei gesagt regelmäßig internationale Verschuldungskrisen auslösten, verschweigt King.

(2) Ferner zählt er zu diesen Bösewichten, welche „die zivilisatorische Konterrevolution“ anführen, undifferenziert „Russlands Wladimir Putin, Ungarns Viktor Orban und Recep Tayyip Erdogan“ genauso wie Elon Musk – also all diejenigen, die der Außenpolitik der regierenden US-Demokraten in irgendeiner Weise ein Dorn im Auge sind.

Mit anderen Worten, die Ursachen dieser sog. „zivilisatorischen Konterrevolution“ haben nicht so sehr einen ideologischen oder axiologischen als vielmehr einen geo- und machtpolitischen Hintergrund. Es geht primär um die Geopolitik und nicht (mehr) um eine ideologische Systemkonfrontation wie zurzeit des „Kalten Krieges“.

Und selbst unserer Bundesaußenministerin spricht inzwischen – man sehe und staune – von der Geopolitik. „Die Erweiterung unserer Union ist eine geopolitische Notwendigkeit,“ behauptet sie in Bezug auf einen Beitritt der Ukraine. Erstaunlich genug, wenn man bedenkt, dass die Außenministerin bis dato stets ganz andere rhetorische Floskel gebrauchte.

„Putins Moskau“ – kommentiert eine Tageszeitung die Äußerung von Baerbock – werde „weiter versuchen, einen >imperialen Graben< durch Europa zu pflügen, der nicht nur die Ukraine von uns trennen solle, sondern auch Moldau, Georgien und den westlichen Balkan. Wenn diese Länder dauerhaft von Russland destabilisiert werden könnten, macht es >uns alle< angreifbar, so Baerbock. >Wir können uns in Europa keine Grauzonen mehr leisten.“1

Sieht man von der „imperialen Graben“-Rhetorik ab, so ist es doch bemerkenswert, dass die deutsche Außenpolitik immer mehr geopolitisch und nicht axiologisch argumentiert und dass sie immer öfter von (sicherheitspolitischen) Grauzonen statt von einer „wertebasierten“ Außenpolitik spricht, von einer „feministischen“ ganz zu schweigen. Wie ist es aber überhaupt zu einem solchen Wandel in der außenpolitischen Rhetorik gekommen?

Und hat es einzig und allein mit dem seit zwanzig Monaten tobenden Ukrainekrieg bzw. dem neu aufgeflammten Nahost-Konflikt zu tun? Stimmt vielleicht doch die These von einer „zivilisatorischen Konterrevolution“? Wie beurteilt Charles King aber selber die Ursachen dieser – wie er es nannte –„civilizational counterrevolution“?

Hinter seiner These steckt ein schleichendes Gefühl der Unsicherheit und Ungewissheit über das da Kommende, womit man nicht ohne Weiteres fertig zu werden glaubt. Die geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen der Zeit scheinen manchen Vertretern des US-Establishments nicht geheuer zu sein.

Das merkt man allein schon an den zahlreichen Überschriften der in der letzten Zeit erschienenen Artikel. So liest man erstaunt in einer gemeinsamen Studie „A World at War“ (Eine Welt im Krieg) von Emma Beals und Peter Salisbury in Foreign Affairs vom 30. Oktober 2023: „Selig sind die Friedensstifter … Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt und es ist immer noch möglich, die Unterstützung für einen neuen Ansatz zur Lösung von Konflikten zu mobilisieren … Denn die Gewalt lässt sich nicht eindämmen … Containment löst keine Konflikte und erfordert ein aktives Management.“

Die USA als „Friedensstifter“? Dieser einsame Ruf nach Frieden verhallt in der Kriegshysterie unserer Zeit wie das Echo in der Wüste. Man strebt heute eher nach einer neuen Aufrüstung denn nach einer Rüstungskontrolle, allein schon aus Angst ins Hintertreffen zu geraten.

So überschreibt Andrew A. Michta (Direktor der Scowcroft Strategy Initiative beim Atlantic Council in Washington, D.C.) alarmierend seinen Artikel in Politico am 31. Oktober 2023 mit dem Titel „US isn’t ready for a war of great powers“ (Die USA sind nicht bereit für einen Krieg der Großmächte). Und er warnt gleich im Untertitel: „Amerikas Gegner bereiten sich auf einen größeren Konflikt vor – um einen Krieg zu verhindern, muss Amerika dies ebenfalls tun.“

Und die USA? Bereiten sie sich nicht „auf einen größeren Konflikt vor“? Folgt man dem Sprecher des chinesischen Verteidigungsministeriums, Wu Qian, so sind die USA alles anderes als kriegsmüde. Ganz im Gegenteil: Der Chinese bezichtigt die USA in seiner Rede am 1. November 2023 ein „Kriegsjunkie“ und die „Hauptquelle des Chaos“ zu sein.

Der O-Ton des chinesischen Verteidigungsministeriums: „Die USA sind Kriegsdrogensüchtige, die die ganze Welt leiden lassen!“ Sie sind „ein Kriegsjunkie. Sie haben in nur 16 der mehr als 240 Jahre ihres Bestehens nicht gekämpft. Sie haben mehr als 800 ausländische Militärstützpunkte in mehr als 80 Ländern und Regionen auf der ganzen Welt gebaut.“

Die Kriegsrhetorik und Kriegsvorbereitungen nehmen weltweit eher an Fahrt zu als ab und bedrohen die „Pax Americana“. Die jahrzehntelang als „erfolgreich“ geglaubte US-Modernisierungspolitik wird vom Rest der Welt – insbesondere aber von China und Russland – nunmehr in Frage gestellt. Wie konnte es dazu überhaupt kommen, fragt King irritiert.

Rostows „Modernisierungstheorie“, die er in seinem einflussreichen, 1960 erschienenen Werk „The Stages of Economic Growth“ mit einem programmatischen ebenso wie provokanten Untertitel „A Non-Communist Manifesto“ versehen hat und die mehr als ein halbes Jahrhundert eine tragende Säule der US-Außenpolitik war, verliert heute ihre Wirkungskraft, stellt King fest.

Das zeige sich nicht zuletzt an „der strategischen Enttäuschung und Verblüffung der Amerikaner über den Kurs Russlands seit dem Ende des Kalten Krieges sowie über das Wiederaufleben des Rechtsnationalismus unter den europäischen Verbündeten, über die erneute Anziehungskraft der Blockfreiheit zwischen den Mittelmächten und den ärmeren Ländern.“ (vgl. It is evident in Americans’ sense of strategic disappointment and bafflement—at the direction of Russia since the end of the Cold War, at the resurgence of right-wing nationalism among European allies, at the renewed appeal of nonalignment among middle powers and poorer countries).

Wie erklärt King eine solche – wie er sie nennt – „verblüffende“ Entwicklung? Gar nicht! Er verweist lediglich darauf, dass Rostows „Modernisierungstheorie“ in Washington immer noch sehr dominant sei und einen „genuinen Washingtoner Konsensus“ bildet (Vgl. „More than any other intuition or outlook, modernization theory still has the greatest claim to being a genuine Washington consensus“)

Und fügt gleich hinzu: „Im Zeitalter einer erneuten Rivalität der Supermächte und der globalen Neuausrichtung besteht jedoch die Aufgabe der amerikanischen Denker und Macher darin, neu zu denken“ (Yet in an age of renewed superpower competition and global realignments, the task for American thinkers and doers is to reimagine).

Das Problem der US-Außenpolitik besteht heute in der Tat darin, dass sie nach wie vor in den Kategorien des „Kalten Krieges“ denken und dadurch immer noch Ideologie mit Geopolitik vermengen.

Getreu Rostows „Modernisierungstheorie“, die der Sowjetideologie „ein nichtkommunistisches Manifest“ (a Non-Communist Manifesto) entgegensetzte, positioniert sich die Biden-Administration heute erneut ideologisch mit ihrem ephemeren Gegensatz Demokratie versus Autokratie und erleidet dadurch immer wieder eine geopolitische Bauchlandung, wie man gerade in der Ukraine und im Nahen Osten beobachten kann.

Einst spottete Kissinger über die ideologischen Gefechte der 1960er-Jahre: Sie bewegten sich zwischen einer „totalen Konfrontation (im Sinne der >Theologen<)“ und einer „totalen Versöhnung (wie die >Psychiater< forderten)“2 und sahen vor lauter (ideologischen) Bäumen den (geopolitischen) Wald nicht mehr.

Nichts anders ist es auch heute. Die US-Außenpolitik verfehlt ihre eigenen selbstgestellten Ziele, weil sie immer noch glaubt, ihre geopolitischen Ziele wie zurzeit des „Kalten Krieges“ mit ideologischen Vorgaben zu überfrachten und damit irgendjemand beeindrucken oder gar unter Druck setzen zu können.

Die US-Außenpolitik hat immer noch nicht verstanden, dass mit dem Ende des „Kalten Krieges“ auch die „Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) zu Ende gegangen ist und dass im Zeitalter der Großmächterivalität eher ein geopolitischer Verstand denn ein ideologisches Geplänkel gefragt ist.

    2. Zwischen Gegenwart und Zukunft

    Es sei – beteuert King – „eine eigentümliche Besessenheit der Großmächte, große Theorien darüber aufzustellen, wie und warum der Rest der Welt nicht so ist, wie sie ist“ (It is a particular obsession of great powers to build grand theories about how and why the rest of the world is not like them).

    Heutzutage bleibt freilich einzig und allein der US-Hegemon, der von dieser Obsession ergriffen ist. Im Glauben, er und nur er sei im Besitz der einzig „wahren“ als universell postulierten „Theorie“, schickt er sich an, immer noch die Zukunft der Welt gestalten zu können. Einer der markantesten Repräsentanten dieser US-Obsession war eben Walt W. Rostow (1916-2003).

    Rostows „Modernisierungstheorie“ ist aus heutiger Sicht nichts anderes als ein vergeblicher Versuch, die US-amerikanische Prosperität und Erfolgsstory als Vorbild zu postulieren und daraus die universellen Prinzipien für die globale Entwicklung abzuleiten. Die globalisierte Welt der Gegenwart entzieht sich aber zumindest in ihrem nichtwestlichen Teil derartiger Universalisierbarkeit und will vom US-Vorbildcharakter für die Welt nichts mehr hören und wissen.

    Im vollen Bewusstsein dieser vor wenigen Jahren kaum für möglich gehaltenen Entwicklung setzt sich King eingehend mit Rostows Denken und Wirken auseinander, um zu retten, was zu retten ist. Gegen Ende seiner Studie schreibt er euphemistisch: „Trotz all ihrer Missdeutungen war die Modernisierungstheorie ein Beitrag zum Nachdenken darüber, was in der menschlichen Entwicklung universell ist und wie sich die Außenpolitik auf ein kommendes Zeitalter vorbereiten könnte, in dem die Vorteile der Moderne für alle offen sind“ (For all its … misinterpretations, modernization theory was a contribution to thinking about what is universal in human development and how foreign policy might prepare for a coming age in which the benefits of modernity are more open to all).

    Nun ja, jedes Zeitalter hat seine „Moderne“ und jede (neue) Generation glaubte >die< „Moderne“ zu repräsentieren. Nur weiß keine(r) so genau, was unter dieser Abstraktion zu verstehen ist. Was will der Interpret uns aber mit seiner Beschäftigung mit Rostows Visionen sagen? In seinem 1960 erschienenen Werk „The Stages of Economic Growth: A Non-Communist Manifesto“ entwickelte Rostow eine auf fünf Phasen angelegte ökonomische Modernisierungstheorie, dessen Endziel zu einem „hohen Massenkonsum“, sprich >Wohlstand für alle< führen sollte, nachdem jedes Land sich von einer traditionellen Gesellschaft über die Sturm-und-Drang-Zeit zu einer Wohlstandsgesellschaft entwickelt habe.

    Das Hauptproblem für diese vielversprechende Zukunftsvision bestand freilich in der Sicherung des Friedens, die Rostow laut King als „Diffusion der Macht“ (the diffusion of power) bezeichnete. „Man kann mit ziemlicher Sicherheit voraussagen“ – prophezeite Rostow -, „dass bis zum Jahr 2000 oder 2010 . . . Indien und China . . . in unserem Sinne reife Mächte sein würden.“

    Als der „Kalte Krieg“ zu Ende war und das Sowjetimperium untergegangen ist, schien einzutreten, was Rostow mit seiner „Diffusion of Power“ meinte: „Berater, Banker und Investoren und strömten in die Länder, die damit beschäftigt waren, die Marktwirtschaft aufzubauen und sich für den Außenhandel und die Investitionen zu öffnen. Die Demokratien stellten Mittel und Know-how zur Verfügung. Wahl- und Demokratiebeobachter berichteten von Praktiken, die sie entweder als Fortschritt in Richtung Freiheit oder als einen demokratischen Rückschritt einstuften, als würde jedes Land einer bestimmten Stufe der politischen Entwicklung zugeordnet werden können. Die Erwartungen waren klar. Die Nachfrage nach Wahlmöglichkeiten bei Konsumgütern würde die Nachfrage nach Wahlmöglichkeiten bei gewählten Amtsträgern anheizen.“

    Kurzum: „Die Globalisierung würde die lokalen Identitäten sprengen. Eine Demokratie im Inland würde ein friedliches Verhalten im Ausland fördern“ (Globalization would shift local identities. Democracy at home would buttress peaceful behavior abroad).

    Dieser Traumwelt erwies sich bald als eine Fata Morgana. Es kam alles anderes, als man erhoffte und erwartete. Am Ende einer „Modernisierung“ des postsowjetischen bzw. eurasischen Raumes stand entgegen von Rostows „Modernisierungstheorie“ weder ein globaler Frieden noch Wohlstand noch eine „tausendjährige Glückseligkeit“, sondern „die Diffusion der Macht“ (vgl. … his version of modernization did not end with global peace, prosperity, and millennial happiness. The place he stopped was with the diffusion of power).

    Was dann an der Interpretation dessen, was Rostow unter „diffusion of power“ verstanden wissen will, kommt von seitens King, und zwar etwas, was wenig mit dessen Modernisierungstheorie zu tun hat, wohl aber mit dem gegenwärtigen, hier und heute stattfindenden Erosionsprozess der von den USA angeführten unipolaren Weltordnung, die immer mehr und immer tiefere Risse bekommt.

    Selbst seine engsten Verbündeten hat der US-Hegemon nicht mehr im Griff. Und so stellte der Journalist von The New York Times, David E. Sanger, neuerlich am 6. November 2023 in seinem Artikel „Biden Confronts the Limits of U.S. Leverage in Two Conflicts“ (Biden stößt in zwei Konflikten auf die Grenzen des Einflusses der USA) unumwunden fest: „Nach den vier Wochen Terror und Vergeltung in Israel und Gaza und dem zwanzig Monaten andauernden Ukrainekrieg sieht sich Präsident Biden mit den Grenzen seines Einflusses in den beiden internationalen Konflikten konfrontiert, die seine Präsidentschaft prägen“ (After four weeks of terror and retaliation in Israel and Gaza, and 20 months of war in Ukraine, President Biden is confronting the limits of his leverage in the two international conflicts defining his presidency).

    „Die USA müssten sich (darum) auf eine Zeit einstellen“ – empfiehl King -, in der „die Vorteile der Moderne“, wie Rostow sie sah, „nicht mehr auf das westliche Anhängsel Eurasiens und einige seiner ehemaligen Kolonien beschränkt waren.“ Eine Welt, in der viele Gesellschaften „reif“ seien, sei eine ganz andere, als die, die Rostow 1960 kannte.

    „In diesem Sinne war die Modernisierungstheorie nicht so sehr der Höhepunkt des amerikanischen Exzeptionalismus als vielmehr eine Warnung vor ihm. Bereiten Sie sich auf die Zukunft vor, warnte Rostow, indem Sie sich vorstellen, wie sich die USA mit ihrer Außenpolitik … in einer Welt verhalten würden, in der sie nicht mehr etwas besonders seien.“

    Das ist aber nicht Rostows Modernisierungstheorie, sondern Kings eigene Reflexion der geopolitischen Gegenwart. Er benutzt Rostow lediglich zwecks Legitimierung der eigenen durchaus zutreffenden Reflexion. Und diese geopolitische Gegenwart, die man beim besten Willen ideologisch nicht mehr verklären kann, sieht für die US-Hegemonie düster aus.

    Jetzt dämmert es also auch bei manchen Repräsentanten des US-Establishments – wie King -, dass sich die USA allmählich daran gewöhnen müssen, „nicht mehr etwas besonders zu sein“ und immer mehr vom „amerikanischen Exzeptionalismus“ Abschied zu nehmen. Dieses Erwachen mancher Repräsentanten des US-Establishments ist längst überfällig.

      3. Keine US-Weltdominanz ohne eine neue Zukunftsvision

      Ungeachtet dieses Erwachens beharrt King darauf, dass Rostow mit seinem Versuch, die universalen Prinzipien der menschlichen Entwicklung herauszuarbeiten, „im Großen und Ganzen recht“ hatte. Die Menschheit sei nämlich heute „den menschlichen Universalien (human universals) viel nähergekommen als noch vor einem halben Jahrhundert“.

      „Aber von nun an“ – fügt King warnend hinzu – „ist alles möglich“ (But from this point forward, all bets are off). Eine neue Zeitrechnung beginnt und wir befinden uns heute am Scheideweg. Was ist passiert?

      „Die Vereinigten Staaten werden pragmatisch mit jedem Partner zusammenarbeiten, der bereit ist, sich bei der konstruktiven Problemlösung, der Stärkung und dem Aufbau neuer Beziehungen auf der Grundlage gemeinsamer Interessen uns anzuschließen, zitiert King die Nationale Sicherheitsstrategie der USA 2022, fügt aber gleich hinzu: Vom Pragmatismus spreche man dann, wenn man keine kohärente Theorie habe.

      „Beim fehlenden Verständnis dessen, was den sozialen und politischen Wandel antreibt, werden die USA weiterhin von einer Krise in die nächste taumeln. Als die führende Großmacht sind sie überfordert und unterfordert zugleich, befinden sich zwar im relativen Niedergang. Sie haben aber immer noch eine gewaltige Macht, die globalen Prioritäten zu definieren, Koalitionen zu mobilisieren, und all dem zu dienen, was der Welt am nächsten kommt: als planetarische Stimme für Kooperation, Gerechtigkeit und menschliches Überleben (a planetary voice for cooperation, justice, and human survival).“

      Immer noch im alten imperialen Denken gefangen, versucht King nach wie vor den alle und alles beherrschenden amerikanischen Exzeptionalismus im vollen Bewusstsein der dramatischen weltweiten geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen auf die neue Zeit einzustimmen und kommt nicht umhin, in der ideologischen Zeitschleife gefangen zu bleiben.

      Und so stellt er am Ende seiner Ausführungen ernüchternd fest: Es sei kein akademischer Luxus zu sagen, wie die Welt funktioniere. Es sei nicht nur möglich, die Zukunft vorherzusagen, sondern sich auch gegen sie abzusichern. Glaube man Rostow, so zeigte die Geschichte, dass jede Gesellschaft ein bestimmtes Niveau der menschlichen Entwicklung erreichen könne. Er machte sich freilich keine Illusionen darüber, dass die Entwicklung nicht mit der Erreichung seines Zieles ende. Sobald „die Moderne“ zur selbstverständlichen Art und Weise würde, um den Globus zu organisieren, nachdem Mangel und Knappheit gemildert würden, würden weitere hoffnungsvolle wie katastrophale Entwicklungen vor uns liegen, diagnostiziert King.

      Die Zukunft lässt sich freilich genauso wenig voraussagen, wie die Geschichte vorausbestimmen oder die Zukunft absichern, es sei denn, man versucht der Geschichte einen Sinn anhaften, den sie nicht hat und nicht haben kann. Man kann der Geschichte, die keinen Sinn hat, einen Sinn geben.

      Was King mit seiner Studie unternommen hat, ist der Versuch einer Apologie der US-Außenpolitik mittels von Rostows ökonomischer Modernisierungstheorie, um im gleichen Atemzug die Untauglichkeit dieser Theorie für die Erklärung der – wie er es nannte – stattfindenden „zivilisatorischen Konterrevolution“ zu begründen.

      Indem King aber die geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart als „zivilisatorische Konterrevolution“ verklärt, verbleibt er – ohne dessen bewusst zu sein – im Bann der ökonomischen Modernisierungstheorie, die das US-Establishment bis heute prägt und die er für die Erklärung der Zukunft gerade abgelehnt hat bzw. nicht mehr gelten lässt.

      Und hier schließt sich der Kreis: Die zur Apologie der US-Außenpolitik der vergangenen Jahrzehnte benutzte Modernisierungstheorie ist für die künftigen Entwicklungen nicht zu gebrauchen. Für die Erklärung der Zukunft gibt es aber wiederum außer eines „Pragmatismus“-Appells der Nationalen US-Sicherheitsstrategie 2022 keine neue Zukunftstheorie, mittels derer die USA die als „zivilisatorische Konterrevolution“ verklärten geopolitischen Machtverschiebungen zum eigenen Vorteil nutzen könnte, um an der Spitze der geopolitischen Machtpyramide weiterhin bleiben zu können.

      Und so bleibt alles beim Alten. Statt für eine andere adäquatere US-Außenpolitik im Zeitalter der geopolitischen Verwerfungen und tektonischen Machtverschiebungen zu plädieren, betreibt King eine „Apologie kraft Interpretation“3 – einer Interpretation der für die Erklärung der Zukunft untauglich gewordenen ökonomischen „Modernisierungstheorie“ von Walt Rostow.

      Ohne eine neue zeitgemäße US-Vision gibt es aber auch keine US-Weltdominanz mehr. So bleibt die Zukunft wie eh und je im Dunkeln und ungewisser denn je.

      Anmerkungen

      1. Zitiert nach Heide, D. u. a., Zwischen Stellungskrieg und EU-Perspektive. Handelsblatt 3./5. November 2023,
      8 f.
      2. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 784.
      3. Stolleis, M., Apologie kraft Interpretation. Antwort auf Frank Lucien Lorenz, Carl Schmitt: Juristische Form kraft Repräsentation im Staats- und Strafverfahrensrecht, ZNR 1997, 100-102.

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