Verlag OntoPrax Berlin

„Im Westen nichts Neues“

Russische Westler und der westliche Informationskrieg

Übersicht

1. Hundert Jahre der russisch-amerikanischen Beziehungen
2. Russische Westler und die Anti-Russlandpolitik
3. Kolesnikovs erneutes Pamphlet

Anmerkungen

„Наш русский либерал прежде всего лакей и только и смотрит,
как бы кому-нибудь сапоги вычистить.“
(Unser russischer Liberaler ist vor allem ein Lakai und immer und
nur darauf hinaus, irgendjemandem die Stiefel zu putzen.)
(Dostojewski)

1. Hundert Jahre der russisch-amerikanischen Beziehungen

Am 20. Januar 2025 hat Richard Fontaine in seinem am Tag der Trump-Inauguration veröffentlichten Beitrag „The Trump-Biden-Trump Foreign Policy“ für Foreign Affairs die These aufgestellt, dass Trump trotz seines Polterns gegen die Außenpolitik der Biden-Administration und der US-Demokraten letztendlich der Kontinuität der US-Außenpolitik verpflichtet sein wird. Getreu dieser These spricht er bereits im Untertitel seines Beitrages von einer „seltsamen Kontinuität der amerikanischen Strategie“ (American Strategy’s Strange Continuity).

So „seltsam“, wie Fontaine es verwundert konstatiert, ist die Kontinuität der US-Außenpolitik ganz und gar nicht. Insbesondere was die US-amerikanische Russlandpolitik betrifft, bleibt sie seit gut hundert Jahren durchwegs konstant, sieht man von der „unheiligen Allianz“1 zwischen der Sowjetunion und den USA während des Zweiten Weltkrieges ab.

Es wird, so gesehen, auch zurzeit von Trumps Regentschaft im Wesentlichen alles beim Altem bleiben. „Im Westen nichts Neues“, wie der weltberühmte Titel des 1928 veröffentlichten und 1930 in Hollywood verfilmten Antikriegsromans von  Erich Maria Remarque besagt, wird das Motto der russisch-amerikanischen Beziehungen auch in den kommenden vier Jahren bleiben.

Spätestens seit der Gründung des Sowjetstaates befinden sich die Beziehungen zwischen den beiden Antagonisten Russland und den USA tendenziell stets auf Kollisionskurs und auch Trump wird an dieser hundert Jahre andauernden Rivalität nichts ändern können. Zu tief sitzen die Vorurteile, Ressentiments und Unkenntnisse der russischen Geschichte und Gegenwart seitens des US-Establishments. Das hat eine lange Tradition.

Lässt man zahleireiche Äußerungen der US-Republikaner und US-Demokraten gleichermaßen Revue passieren, so hat man den Eindruck, als würde Russland immer noch die Sowjetunion sein und als würden wir zu Zeiten der Machtergreifung durch die Bolschewiki leben.

Damals wie heute versteht man die Russen politisch, sozial und kulturell nicht. Die US-Amerikaner betrachteten Russland zur Entstehungszeit des Sowjetstaates „als eine Ausgeburt der Hölle, die von politischen Gangstern beherrscht wird, und (man) sprach von einer De-Zivilisation. Würde man 1917, zur Zeit der Oktober-Revolution, gleichzeitig die Nachricht erhalten haben, dass die Irren in sämtlichen lateinamerikanischen Ländern ihre Wärter überwältigt und sich überall der Regierung bemächtigt haben, das Entsetzen hätte kaum größer sein können.“2

Die Nachwehen dieses Entsetzens und Unverständnisses über die Ereignisse um den „Roten Oktober“ 1917 wirkten noch weit in die 1920er-Jahre hinein und darüber hinaus. „Die Hysterie ebbte“ nach Matthias Angaben „nicht ab. Sie wurde, ganz im Gegenteil, durch Schreckensnachrichten immer wieder von neuem belebt. Selbst die New York Herald Tribune, die den gleichen Ruf wie die New York Times genießt, beteiligte sich an diesem Spiel. Noch 1925, 1926 und 1927 schlug man immer wieder in die gleiche Kerbe. >In Russland ist man frei zu stehlen, zu hungern, zu morden und zu sterben< (15. November 1925), >Sibirien versucht, das Joch Moskaus abzuschütteln< (26. November 1925), >Russland verkauft Juwelen, um das Sowjet-Regime zu retten< (10. Februar 1926), >Geheimbericht weist nach, dass Russland kurz vor dem Zusammenbruch steht< (20. März 1926), >Aufdeckung eines geheimen Terroristenkomplotts zur Machtergreifung in Russland< (30. Juli 1926), >Kommunisten im Chaos< (4. August 1926), >Truppen in Odessa meutern gegen das Moskau-Regime< (9. August 1926), >Die Roten verstärken die Kremlmauern, da die Meuterei wächst< (13. August 1926), >Bericht, dass eine Revolte gegen Sowjetmacht begonnen hat< (9. April 1927), … >Industrie in Russland steht vor schnellem Zusammenbruch< (23. Oktober 1927), >Rumänen erfahren, dass viele Hunderte bei Unruhen in der Ukraine umgekommen sind< (26. November 1927)“3 usw. usf.

Heute ist man „vornehmer“ geworden. Man spricht nicht mehr von Russland als „einer Ausgeburt der Hölle“ und „De-Zivilisation“. Man nennt „Putins Russland“ heute „liebevoll“ einfach ein „faschistoides Regime“ und setzt Putin „ganz nett“ mit „Hitler“ gleich, womit man en passant „Adolf Nazi“ (wie Helmut Schmidt den „Führer“ des „tausendjährigen Reiches“ zu nennen pflege) und die Nazibarbarei gleichermaßen verharmlost.

Überblickt man die hundertjährige Geschichte der russisch-amerikanischen Beziehungen, so wundert man sich bis heute darüber, dass es nicht zu einer direkten militärischen Konfrontation gekommen ist. Dem Atomzeitalter und dem im Falle des Atomkrieges prognostizierten sog. „nuklearen Winter“ sei Dank!

Gleichviel, ob man das Ziel verfolgte, Russland „von der Landkarte zu wischen“ oder in Einzelteile zu zerstückeln, das Ergebnis ist bis zum heutigen Tage gleich Null gewesen. Schlimmer noch: Die bis zum heutigen Tage fortgesetzte konfrontative US-Russlandpolitik, die auch im Ukrainekonflikt zum Vorschein kam, hat Russland nicht geschwächt, sondern ganz im Gegenteil gestärkt.

Die US-Amerikaner und ihre europäischen Satelliten haben aus der Geschichte nichts gelernt und wiederholen stets die gleichen Fehler. Obgleich die Sanktions-, Wirtschafts- und Handelskriege gestern wie heute keinen Erfolg hatten, versucht der Westen es immer und immer wieder mit den alten Mitteln von neuem. Da möchte man diesen unbelehrbaren Betonköpfen nur zurufen: „Weiter so!“

2. Russische Westler und die Anti-Russlandpolitik

Trotz vieler im Westen existierender sog. „Denkfabriken“ und „Russlandexperten“ und ungeachtet zahlreicher, nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine in den Westen geflüchteter russischer, prowestlich orientierter Emigranten, die ihre neue „Heimat“ in den Hauptstädten Europas und der USA (nicht zuletzt auch in Berlin) gefunden haben und mittlerweile nichts lieber tun, als ihre frühere Heimat für einen Apfel und ein Ei zu verkaufen – nach dem Motto: „Wes Brot ich ess, des Lied ich sing,“ sind die Kenntnisse der russischen Geo- und Sicherheitspolitik entweder mit der Lupe zu suchen oder die russischen Sicherheitsbelange werden mit einer geradezu unverfrorenen Machtarroganz und versteinerten Borniertheit konsequent ignoriert.

Selbst das wäre halb so schlimm, wären sich die eingereisten, prowestlich orientierten russischen Putin-Gegner – die sog. „Westler“ -, die sich, wie selbstverständlich, als „Liberale“ begreifen, wenigstens sich darüber im Klaren, wie sehr sie von den westlichen Massenmedien zwecks der antirussischen Kriegspropaganda wie zu Sowjetzeiten ausgenutzt und vereinnahmt werden.

Statt Aufklärung verstärken sie meistens die antirussischen Ressentiments und fördern unreflektiert jene Vorurteile und Klischees, die in den westlichen Gesellschaften seit Jahrhunderten tief verwurzelt sind. Sie erweisen dem eigenen Land einen Bärendienst im Glauben einen Beitrag dazu zu leisten, Russland zu „zivilisieren“ und zu „liberalisieren“.

Diese russischen Westler, die sich als „Liberale“ ausgeben, kennen offenbar nicht die jahrhundertealte Einstellung der Europäer zu Russen, worauf schon Dostojewskis aufmerksam machte und mit Empörung reagierte: „In Europa sind wir bloß Landstreiche.“4

„Der russische Liberale“ – entrüstet sich Dostojewski – „ist so weit gegangen, dass er selbst Russland leugnet; d. h. er hasst und schlägt die eigene Mutter. Jedes glücklose und missglückte Ereignis in Russland erregt bei ihm Gelächter und löst geradezu Begeisterung aus. Er hasst die Sitten des (eigenen) Volkes, die russische Geschichte, kurzum: alles. Wenn es für ihn eine Rechtfertigung gibt, dann besteht sie nur darin, dass er nicht versteht, was er tut, und hält seinen Hass auf Russland für echten Liberalismus.“5

Die russischen Westler, die sich für „Liberale“ halten und in ihrer überwältigenden Mehrheit Putins innenpolitische Gegner sind, übernehmen willfährig und kritiklos die westliche Einstellung zu allen möglichen Karikaturen von Russland, die seit gut hundert Jahren im Westen im Umlauf sind, und bestätigen mit ihrer antirussischen Rhetorik dazu noch die westliche Kriegspropaganda.

Und die Beispiele dafür sind wie Sand im Meer. Unlängst hat eine Putin-Gegnerin, Alexandra Prokopenko, die als ihren Fluchtort die deutsche Hauptstadt Berlin gewählt hat und inzwischen in diversen „Denkfabriken“ ihren Unterhalt verdient, mit ihrem am 21. Januar 2025 in Foreign Affairs veröffentlichten Artikel „Putin Is Not Yet Desperate“ (Putin ist noch nicht verzweifelt) den Eindruck erweckt, als würde Russlands Wirtschaft – wenn nicht sofort, so doch bald – kollabieren und reiht sich damit in die Riege jener westlichen „Propheten“ ein, die schon immer „wussten“, dass man Russland mit Wirtschaftssanktionen früher oder später in die Knie zwingen kann und es den Krieg ökonomisch nicht überleben wird.

Prokopenkos Beitrag hat offenkundig zum Ziel, dem Westen Hoffnungen zu machen, dass der Ukrainekrieg noch nicht ganz verloren wurde und man mit weiteren, noch schärferen Sanktionen einen ökonomischen Druck ausüben muss, um Russland zu Zugeständnissen zu zwingen, als hätte der seit drei Jahren andauernde Sanktionskrieg gegen Russland dessen Sinnlosigkeit nicht schon zu Genüge unter Beweis gestellt und eher Europa als Russland geschadet.

Alles sei nur eine Frage des Timings, beteuert Prokopenko in ihren Ausführungen immer wieder. Die russische Westlerin reiht sich, wie gesagt, in die Riege jener ein, die der transatlantischen Öffentlichkeit weismachen wollen, dass Russlands Ökonomie wie in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre dem Untergang geweiht sei und man – wie es in einem russischen Kriegslied heißt, „nur noch ganz ein bisschen“ (eщё немного, ещё чуть-чуть …) – warten sollte, bis sich das leidige Problem von selbst erledigt hat.

„Russland“ sei schließlich – wie eine Handelsblatt-Schlagzeile vorgaukelt – „eine chinesische Kolonie geworden“ und ohne China ökonomisch nicht überlebensfähig. Wie der 81-jährige „Vordenker aus Frankreich“, Jacques Attali, in seinem Handelsblatt-Interview uns glauben machen will, ist China „dem großen Nachbarland wirtschaftlich und militärisch hoch überlegen und lässt es Moskau auch spüren. … Ein interessanter Romanbeginn wäre doch, wenn eines Morgens plötzlich die chinesische Armee Wladiwostok einnimmt und dann Sibirien erobert.“6

Und derartige „Russlandkenner“ werden uns von den Massenmedien beinahe jeden Tag aufgetischt. Solche deplatzierten Äußerungen mancher „Vordenker“ sind Stimmungsmache und zeigen nur, wie wenig Ahnung sie von Russland und/oder den russisch-chinesischen Beziehungen haben.

Wie auch immer, unsere russische Putin-Gegnerin ist zwar keine Vordenkerin; sie ist sich aber dessen ganz gewiss, dass „die russische Wirtschaft gegen die Wand zu fahren beginnt“ (The Russian economy … is starting to hit a wall) und dass „Putins derzeitige Strategie nicht nachhaltig ist“ (Putin’s current strategy is unsustainable).

Am Schluss ihrer Ausführungen fällt ihr schließlich nichts Besseres ein, als die übliche westliche Kriegspropaganda nachzuplappern: „Putins ultimatives Ziel bleibe unverändert: Er will Kiew die Fähigkeit nehmen, eine unabhängige Außenpolitik zu betreiben … und der Ukraine die Souveränität zu nehmen,“ als hätte die Ukraine ihre Souveränität nicht schon längst verloren und an den Westen abgegeben.

„Für Putin“ sei ihrer Meinung nach „die Ukraine nicht nur ein geopolitischer Krisenherd, sondern eine Besessenheit, die seine langfristige Strategie diktiert. Sollte er einer Einstellung der Feindseligkeiten in naher Zukunft zustimmen, wäre dies wahrscheinlich Teil eines Plans zur Neugruppierung, Aufstockung der Lagerbestände und zur Vorbereitung einer erneuten Aggression. In Putins aktuellem Kalkül stellt das Gespenst einer souveränen, eigenständigen Ukraine eine weitaus größere Bedrohung für Russland dar, als die weiter entfernte Aussicht auf einen wirtschaftlichen Niedergang.“

Die Russen und Russinnen, die nach Westen ausgewandert sind und hier als „Russlandexperten“ gelten, sind als Putin-Gegner in den europäischen Hauptstädten sehr willkommen, unterstützen sie doch mit ihren „kompetenten“ Urteilen bedenken- und kritiklos wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ einen nicht enden wollenden Informationskrieg. Mit solchen Urteilen wird freilich die westliche Russlandpolitik fehlgeleitet mit verheerenden Folgen für die gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitsordnung.

3. Kolesnikovs erneutes Pamphlet

In den Chor der russischen Putin-Gegner, die Russland seit dem Kriegsausbruch fluchtartig verlassen haben, stimmt auch Andrej Kolesnikov mit ein, der im Westen gegen „Putins System“ poltert. Als langjähriger Mitarbeiter des Carnegie Moscow Center, das nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine von der russischen Regierung am 24. Februar 2022 geschlossen wurde, war Kolesnikov (geb. 1966) zuständig für die russische Innenpolitik.

In seinem bereits vor zwei Jahren, am 1. Februar 2023, für Foreign Affairs verfassten Artikel „How Russians Learned to Stop Worrying and Love the War“ äußert er seine ganze Empörung, sein Entsetzen und seine Fassungslosigkeit über das, was im Jahr 2022 geschehen ist. Wüst beschimpft er Putin als einen, der „stalinistische Methoden“ anwendet. Hier schreibt ein Empörter und kein Urteilender, ein Moralist und kein Analytiker, ein innenpolitischer Gegner und kein außenpolitisch denkender Beobachter.7

Und nun veröffentlicht er in diesen Tagen, am 23. Januar 2025, einen neuen Artikel in Foreign Affairs unter dem marktschreierischen Titel „The Cold War Putin Wants“ (Der Kalte Krieg, den Putin will), in dem er, wie vor zwei Jahren, scharfe Attacken gegen Putin und „seinen Krieg“ reitet.

Als ein überzeugter russischer Westler kann er sich Russland „ohne den Westen“ gar nicht vorstellen. Mit den BRICS-Staaten wolle Putin „eine alternative Weltordnung aufbauen,“ schreibt Kolesnikov fassungslos und entsetzt. Denn diese „Alternative“ sei schlicht und einfach „ohne den Westen unmöglich“ (vgl.: The problem is that Putin claims to be building an alternative world order, but the world order either exists or does not exist. It cannot be alternative, and it is impossible without the West).

Deswegen prophezeit Kolesnikov Russlands baldigen Niedergang, weil „in den vergangenen drei Jahren … den letzten Akt des Zusammenbruchs des Imperiums eingeleitet“ wurde (Over the past three years, Russia has embarked on the final act of the collapse of an empire) und sieht für „Putins Russland“ keine Zukunft mehr.

Mit seiner abenteuerlichen These: „Putin braucht einen permanenten Krieg“ (Putin needs a permanent war) spielt er all jenen westlichen Kriegspropagandisten in die Hände, die schon immer behaupteten, dass Russland nach der Eroberung der Ukraine die Nato-Staaten angreifen würde. Seine abstruse These begründet Kolesnikov mit „Russlands messianischem Expansionismus“ (Russia’s messianic expansionism) von „Putins Regime“ und mit einer flapsigen Bemerkung: „Den Krieg zu beenden, wäre genauso gefährlich wie ihn zu führen“ (ending the war would be just as dangerous as waging it).

Zugrunde gelegt wird dabei die aus der Mottenkiste der Geschichte ausgegrabene und angeblich von Putin und seinen Anhängern noch vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine propagierte Idee vom „Dritten Rom“, die den Expansionsdrang der russischen Führung belegen sollte.

Kolesnikov ist sich offenbar nicht zu schade, eine solch gezielte Desinformation in der westlichen Öffentlichkeit zu verbreiten, die mit den Zielen und Interessen der russischen Außen- und Sicherheitspolitik nicht im Geringsten etwas zu tun hat, wohl aber mit seinem persönlichen Rachefeldzug gegen Putin.

In seinem vor zwei Jahren verfassten und oben erwähnten Artikel nennt Kolesnikov selber die Gründe für diesen Rachefeldzug. So berichtet er betroffen über seinen Großvater, der „1938 – im Jahr des Great Terror – aus politischen Gründen verhaftet wurde. Das bedeutete, dass meine Mutter im Alter von neun Jahren die Tochter eines >Volksfeindes< (>enemy of the people<) wurde. … Sie erlebte nicht mehr, dass ihr Sohn ein >ausländischer Agent< (>foreign agent<) wurde … Innerhalb von (nur) drei Generationen fanden sich also zwei Feinde der autokratischen Regime: der Großvater als >Volksfeind< und sein Enkel als >ausländischer Agent<“, entrüstet sich Kolesnikov.8

Seine Entrüstung macht betroffen. Auch die Verbitterung darüber, was ihm persönlich widerfahren ist, ist verständlich. Wer freilich einer nüchternen Analyse gerecht werden will, darf sich nicht allein von Emotionen leiten lassen. Genau diese emotionale Entrüstung wiederholt er in seinem Januarartikel 2025 und schlägt blind um sich, ohne dass er bereit wäre, die geo- und sicherheitspolitischen Entwicklungen der vergangenen dreißig Jahre nur zur Kenntnis zu nehmen.

Das interessiert ihn auch nicht. Schließlich begreift er sich als ein Experte für die russische Innen- und nicht Außen- und Sicherheitspolitik.

„Nach einem Vierteljahrhundert an der Macht scheint Putin zunehmend den Bezug zur Realität zu verlieren,“ glaubt Kolesnikov zu wissen und spricht von der Rückkehr des „Kalten Krieges“. Dass der „Kalte Krieg“ nie zu Ende war, diese Erkenntnis ist ihm offenbar entgangen. Erst mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 ging der sog. „Kalte Krieg“ in einen „heißen Krieg“ über, den man fälschlicherweise als „hybriden Krieg“ missversteht.

In Verkennung dieser geo- und sicherheitspolitischen Metamorphose phantasiert er von Putins „permanenten Krieg gegen den Westen“ und meint anschließend, dass ein „endloser Krieg“ nicht zu gewinnen sei und dass Putin 2025 vor einer Weggabelung stehe: Er möge zwar in der Lage sein, den Krieg eine Weile zu führen. Viel Zeit dafür habe er aber nicht, beteuert Kolesnikov.

Von der Ukraine ist in seiner ganzen Analyse gar keine Rede. Kann die Ukraine ihrerseits diesen endlosen Zermürbungskrieg überleben? Das interessiert ihn genauso wenig, wie die westliche Kriegspropaganda. Die leidgeprüfte Ukraine wird lediglich im nicht enden wollenden westlichen Kampf gegen Russland als Instrument benutzt und missbraucht.

Ob Kolesnikov als gläubiger russischer Westler überhaupt versteht, dass er in dieser westlichen Propagandaschlacht auch benutzt bzw. missbraucht wird? Wohl kaum! Er merkt gar nicht, dass er in der „besten“ Tradition des russischen „Liberalismus“ steht, von dem Dostojewski einst sagte: „Es kann nirgendwo einen solchen Liberalen geben, der sein eigenes Vaterland hassen würde. Wie können wir das alles erklären? Aus dem gleichen Grund, wie zuvor, können wir es tun. Denn ein russischer Liberaler ist (in Wahrheit) noch kein russischer Liberaler; er ist meiner Meinung nach gar kein Liberaler“ (Такого не может быть либерала нигде, который бы самое отечество свое ненавидел. Чем же это всё объяснить у нас? Тем самым, что и прежде, — тем, что русский либерал есть покамест ещё не русский либерал; больше ничем, по-моему).

Anmerkungen

1. Görtemaker, M., Die unheilige Allianz. Die Geschichte der Entspannungspolitik 1943 – 1979. Verlag C. H.
Beck. 1979.
2. Matthias, L. L., Die Kehrseite der USA. Rowohlt 1964, 83.
3. Matthias (wie Anm. 2), 90.
4. Dostojewski, F. M., Politische Schriften. München 1923, 201 f.
5. „Русский либерал дошёл до того, что  отрицает самую Россию, то есть ненавидит и бьёт свою мать. Каждый  несчастный и неудачный русский факт возбуждает в нём смех и чуть не  восторг. Он ненавидит народные обычаи, русскую историю, всё. Если есть  для него оправдание, так разве в том, что он не понимает, что делает, и  свою ненависть к России принимает за самый плодотворный либерализм.“
6. Attali, J., „Russland ist eine chinesische Kolonie geworden“. Handelsblatt, 9. Januar 2025, 12.
7. Näheres dazu Silnizki, M., Andrei Kolesnikov: Entrüstung statt Analyse, in: des., Irrungen und Wirrungen in
Zeiten des Krieges. Im Lichte von Urteilen, Vorurteilen und Kriegspropaganda. 15. Februar 2023,
www.ontopraxiologie.de.
8. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 7).

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