Verlag OntoPrax Berlin

Im Machtschatten der US-Hegemonie

Lippmanns Kritik der US-Außenpolitik und die Gegenwart

Übersicht

1. Kritik am globalen Führungsanspruch der USA
2. Die Entgrenzung der Macht und das Gefühl der Allmacht
3. Die verzichtbare Nation

Anmerkungen

Keine Hegemonie bleibt auf Dauer und keine Nation ist unverzichtbar.

1. Kritik am globalen Führungsanspruch der USA

Der US-amerikanische Historiker Arthur Schlesinger (1917-2007) veröffentlichte in Foreign Affairs im Oktober 1967 einen Artikel unter dem Titel „Origins of the Cold War“, in dem er gegen die Revisionisten wetterte. Dabei vertrat er die These, dass allein die stalinistische Propaganda das sowjetische Misstrauen gegenüber der US-Nachkriegspolitik erkläre, das letztlich zum „Kalten Krieg“ geführt habe.

Die These zog eine heftige Reaktion vom einflussreichsten US-Kolumnisten aller Zeiten, Walter Lippmann (1889-1974), nach sich. In seinem Schreiben vom 25. September 1967 an Schlesinger warf er ihm vor, die sowjetische Propaganda überzubewerten und das entstandene machtpolitische Vakuum im Nachkriegseuropa, das nicht nur Moskau, sondern auch Washington zu füllen trachtete, außer Acht zu lassen.

In Anbetracht der Erfahrungen mit dem Vietnamkrieg, der seine Sichtweise auf die US-Außenpolitik von Grund aus dermaßen veränderte, dass er vor Amerikas „globalem Überengagement“ warnte, formulierte Lippmann seine eigene These: „Das Streben nach Sicherheit und der Aufbau eines Weltreichs sind häufig zwei Seiten ein und derselben Medaille.“1

Hinter dem „Streben nach Sicherheit“ verbirgt sich seiner Meinung nach in Wahrheit eine imperiale Außenpolitik der Nachkriegszeit, die mit dem Vietnamkrieg ihren Höhepunkt erreichte. Lippmanns These ist eine unverhohlene Kritik am globalen Führungsanspruch der USA, dessen klassische Formulierung von John F. Kennedy 1960 stammte: „Die Sache der ganzen Menschheit ist die Sache Amerikas … Wir sind für die Aufrechterhaltung der Freiheit in der ganzen Welt verantwortlich.“2

Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges begleitete Lippmann die US-Außenpolitik mit Unverständnis und einer zunehmenden, immer schärfer werdenden Kritik.

So kritisiert er bereits in den 1950er-Jahren den US-Außenminister John Foster Dulles (1953-1959) für seine „messianische Rhetorik“ und die sog. „Politik der Befreiung“, die nichts anderes als eine Fortsetzung der Containment-Politik seines Amtsvorgängers Dean Acheson (1949-1953) war. Mit seiner „Messianismus“-Kritik der US-Außenpolitik steht Lippmann freilich nicht ganz allein da.

Bereits der 32. Präsident der Vereinigten Staaten, der US-Demokrat Franklin D. Roosevelt, war dem Vorwurf eines „Messias-Komplexes“3 ausgesetzt und erntete von der konservativen Seite des US-amerikanischen Establishments nur Hohn und Spott.

Dieses „kindische Sendungsbewusstsein“ – spottete der Historiker Charles A. Beard (1874-1948) – sei „nur dem der Bolschewisten gleichzusetzen, die ebenfalls das Evangelium des einen Modells für die ganze Welt verkündeten.“4 Die Kritik der US-Außenpolitik der Roosevelt-Administration verrät ungewollt einen Verwandtschaftscharakter einer jeden ideologisch geleiteten und imperial bzw. hegemonial ausgerichteten Außenpolitik, die immer darauf hinaus ist, die eigene Rechts- und Verfassungskultur der ganzen Welt oktroyieren zu wollen.

Charles Beard hat nur vergessen, neben den „Bolschewisten“ die messianische Tradition der Briten zu erwähnen. Der US-amerikanische Exzeptionalismus ist eigentlich angelsächsischen Ursprungs und kann darum keine amerikanische Urheberschaft beanspruchen. Das angelsächsische Bewusstsein der eigenen Auserwähltheit ging Hand in Hand mit dem Aufstieg des British Empire zur Weltmacht einher und erlebte seine Blüte zur Zeit des europäischen Imperialismus.5

Mit dem Vietnamkrieg verschärfte Lippmann seine Kritik der US-Außenpolitik. Diese sollte seiner Auffassung nach weder moralisch noch ideologisch, sondern allein geopolitisch fundiert sein. Sein Haupteinwand war die Gefahr eines globalen Überengagements Amerikas.

In der Tradition von Alfred Mahan und George Mackinder stehend, deren Konzept einer Politik der Stärke auf der „two-ocean navy“ beruhte,6 plädierte Lippmann für eine Selbsteinschränkung der US-Außenpolitik mit Schwerpunkt Westeuropa und Südamerika und lehnte folgerichtig entschieden einen Landkrieg in Südostasien ab.

Hart ins Gericht ging er dabei mit der US-Außenpolitik der Johnson-Administration. Johnsons Außenpolitik sei „willkürlich“ und „rechthaberisch“, klagte er im Frühjahr 1966 und schrieb aus heutiger Sicht geradezu prophetisch: „Es gibt Kriege, die verhindert werden müssen, weil sie ruinös sind.“

Der Präsident sei von einer „messianischen Megalomania“ besessen, empörte sich Lippmann und beklagte: „Der Glaube verbreite sich, dass Johnsons Amerika nicht länger das historische Amerika ist, dass es ein Bastard-Weltreich ist, das nur auf der Überlegenheit seiner militärischen Macht beruht … und nicht mehr länger das Modell der Weisheit und Menschlichkeit der freiheitlichen Gesellschaft ist … Man hat das Gefühl, dass die amerikanische Idee verraten und aufgegeben worden ist.“7

Wie aktuell klingen doch Lippmanns Worte aus den 1960er-Jahren.

2. Die Entgrenzung der Macht und das Gefühl der Allmacht

Dass es zu Zeiten des Ost-West-Konflikts trotz der Befürchtung Lippmanns nicht zum „Bastard-Weltreich“ gekommen ist, lag einzig und allein an der Bipolarität der Weltordnung nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die ein gewisses Machtgleichgewicht – das sog. „Gleichgewicht des Schreckens“ – ermöglichte. Das änderte sich drastisch mit dem Untergang des Sowjetreiches, als an Stelle der bipolaren Weltordnung eine neue, von der einzig verbliebenen US-Supermacht geführte unipolare Weltordnung trat.

Aus der Supermacht wurde die „Weltmacht ohne Gegner“ (Peter Rudolf /Jürgen Wilzewski), was zur Entgrenzung der US-Hegemonialmacht infolge des Verschwindens des Machtgleichgewichts in Europa, Eurasien und in der ganzen Welt geführt hat. Das hatte wiederum zufolge, dass sich die vom US-Verteidigungsminister Robert McNamara (1961-1968) postulierte „Symmetrie der existentiellen Interessen“ der beiden miteinander rivalisierenden Supermächte, die das gemeinsame „Überlebensinteresse“ im nuklearen Zeitalter bestimmte, in Luft aufgelöst hat.

„Die Symmetrie dieser gleichartigen vitalen Interessen begründete ein politisch-strategische >Überlebensgemeinschaft<.“8 Mit dem Untergang der Sowjetunion ging auch die „politisch-strategische >Überlebensgemeinschaft<“ unter, woran kein Bedarf mehr bestand, weil keine (akute) nukleare Bedrohung seitens des ideologischen und geopolitischen Rivalen vorhanden war. Die zum globalen Hegemonen aufgestiegene US-Supermacht konnte dadurch die durch die Entgrenzung der Macht verursachten Machtexzesse voll und ganz ausleben.

Das Gefühl der Allmacht bedeutete gleichzeitig die Ignorierung und Missachtung des vitalen russischen Sicherheitsinteresses und infolgedessen die von der Clinton-Administration getroffene Entscheidung für die Nato-Osterweiterungspolitik.9

Haben die Systemrivalen des „Kalten Krieges“ zwischen ihren existentiellen Überlebensinteressen und expansiven Machtinteressen unterschieden, so hat der US-Hegemon nach dem Ende des Ost-West-Konflikts diese Unterscheidung fallen gelassen und ist mit der Nato-Osterweiterung zur Expansionspolitik übergegangen, ohne Rücksicht auf den am Boden liegenden Rivalen nehmen zu müssen. Eine neue unipolare Weltordnung hat das möglich gemacht. Aus heutiger Sicht erweist sich diese Expansionspolitik geostrategisch als kurzsichtig und kontraproduktiv.

Die Nato-Osterweiterung wurde zur Funktion der globalen US-Weltmachtstrategie, die seit dem Ende der 1990er-Jahre um zahlreiche US-Interventionen und Invasionen erweitert wurde und so (womöglich unbeabsichtigt?) zum Überengagement und Überschätzung des eigenen ökonomischen und militärischen Machtpotentials geführt hat, wovor Lippmann bereits in den 1960er-Jahren eindringlich gewarnt hat.

Und ausgerechnet zu der Zeit, in der die sog. „Revisionsmächte“ ökonomisch und militärisch auf Vormarsch sind und immer stärker werden, rächt sich heute jene kurzsichtige, allein auf Expansion in Europa und Eurasien angelegte US-Geopolitik, die die vitalen russischen Sicherheitsinteressen dreißig Jahre lang ebenso, wie Chinas Annährung an Russland, konsequent ignorierte.

Jetzt stellt sich heraus, dass die USA sich mit ihrem globalen Überengagement derart verausgabten, dass sie gar nicht (mehr) in der Lage sind, gleichzeitig an zwei oder mehreren Fronten zu kämpfen. Der US-Hegemon ist in die Jahre gekommen und kann es offenbar nicht mehr ohne weiteres mit seinen geopolitischen Rivalen gleichzeitig aufnehmen.

3. Die verzichtbare Nation

Das von Paul D. Wolfowitz kurz nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1992 formulierte geostrategische Ziel der US-Außenpolitik, „den Aufstieg neuer Rivalen überall zu verhindern – also das Emporkommen der Staaten, die Washington feindlich gesinnt seien,“10 ist spätestens mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine gescheitert.

Aus der „Weltmacht ohne Gegner“ ist selbstverschuldet eine Weltmacht geworden, die nunmehr zahlreiche Gegner hat. Und die Gründe dafür sind die verfehlte US-Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre sowie eine aggressive Handelspolitik gegen China seit der Trump-Administration (2016-2020). All das fällt nun den US-Geostrategen auf die Füße.

Mit einem militärisch wiedererstarkten Russland und einem fulminanten Aufstieg Chinas zu einer ökonomischen Supermacht sind zwei mächtige geopolitische Rivalen herangewachsen, die dem US-Hegemon nicht nur seine Weltmachtstellung streitig machen, sondern auch alle Chancen haben, ihn ökonomisch, technologisch, monetär und nicht zuletzt militärisch vom hegemonialen Thron zu stürzen.

Schlimmer noch: Die beiden geopolitischen Rivalen wurden von den USA auf unterschiedlicher Art und Weise verprellt, dergestalt, dass die beiden Kontrahenten de facto eine monetäre, handelspolitische und militärische Abwehrkoalition gegen die vermeintliche oder tatsächliche US-Übermacht gebildet haben. Zu Zeiten des „Kalten Krieges“ wäre eine solche De facto-Koalition einfach unvorstellbar.

Hinzu kommt die Emanzipation des sog. „Globalen Südens“, die mit dem BRICS-Gipfel in Kasan eine neue geopolitische und geoökonomische Stufe erklommen hat und nicht mehr gewillt ist, einem ökonomischen, politischen und nicht zuletzt axiologischen Diktat des Westens Folge zu leisten.

Vor dem Hintergrund eines gescheiterten US-Engagements im Ukrainekonflikt und einer aus Sicht des „Globalen Südens“ moralisch zweifelhaften einseitigen und bedingungslosen Unterstützung Israels im Gaza-Krieg fand ein dramatischer Autoritätsverlust der USA im „Globalen Süden“ statt. Die Folge ist ein vor unseren Augen stattfindender Zerfallsprozess der von den USA errichteten unipolaren Weltordnung.

Die Zeiten sind vorbei, in denen die USA jederzeit und an jedem Ort seinen Machtwillen aufzwingen konnten und selbst eine übermilitarisierte US-Außenpolitik hilft da nicht mehr weiter. Ganz im Gegenteil: Die US-Kanonenbootpolitik der vergangenen Jahrzehnte ist kontraproduktiv geworden, dergestalt, dass sie die US-Hegemonie nicht mehr stärkt, sondern ihr im Zweifel schadet.

Nur die EU-Europäer bleiben dem US-Hegemonen treu verbunden – im trügerischen Glauben von ihm gegen eine vermeintliche russische Bedrohung beschützt zu werden. Sie glauben offenbar immer noch an die Propaganda des „Kalten Krieges“, die mit dem Schlagwort: „Die Russen kommen“ (The Russians Are Coming) eine Hysterie und Angst vor der russischen Gefahr geschürt hat.

Gefangen in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ merken die EU-Europäer nur nicht, dass sie in Wahrheit im Machtschatten des US-Hegemonen liegen, der sich in seinem hegemonialen Übereifer und seinen Allmachtphantasien nichts anderes im Sinne hat, als mittels der militärischen Gewalt seine unipolare Weltordnung um jeden Preis und ohne Rücksicht auf Verluste am Leben erhalten zu können.

„Militärmacht“ – schrieb Lothar Ruehl 1981 inmitten des „Kalten Krieges“ – sei „nicht ein Attribut der imperialen Größe, sondern ihre Natur.“11 Die USA können heute – wie die Sowjetunion damals – auf die Militärmacht zur Aufrechterhaltung ihrer Weltmachtstellung nicht mehr verzichten. Die Militärmacht ist freilich nicht geeignet, allen geopolitischen und geoökonomischen Herausforderungen der Zeit Herr zu werden.

Als die Sowjetunion unter Gorbatschow diese Binsenwahrheit verstanden hat, war zu spät. Sie ging unter. Wird den USA das gleiche Schicksal widerfahren? Zwar verbreiten sie nach wie vor mit ihrer Kanonenbootpolitik Angst und Schrecken. Immer weniger Länder und Staaten lassen sich aber davon beeindrucken oder gar einschüchtern.

In einem Mehrfrontenkampf gegen China, Russland und die anderen Krisenherde dieser Welt wird die US-Hegemonie auf Dauer militärisch und ökonomisch zerrieben und nicht überleben. Je schneller die US-Machteliten, die immer noch unter maßloser Selbstüberschätzung leiden, das verstehen, umso mehr besteht die Chance, dass ihr Schicksal nicht dem der sowjetischen Machtelite ähneln wird.

Darauf sollte man aber lieber nicht wetten. Ein Rückzug der USA auf sich selber wie zu Zeiten des US-Isolationismus und eine Selbsteinschließung in der Festung Amerikas ist heute nicht mehr möglich. Zu sehr hängen der Wohlstand und die Prosperität der „unverzichtbaren Nation“ vom Rest der Welt ab. „Die unverzichtbare Nation“ ist mittlerweile verzichtbar geworden und der BRICS-Gipfel in Kasan deutet darauf hin. Nur die transatlantischen Machteliten wollen oder können das nicht wahrhaben.

Sie können immer noch nicht begreifen, dass im Aufstieg der USA zur weltweiten Hegemonialmacht nach dem Ende des Ost-West-Konflikts infolge der Entgrenzung der Macht der Niedergang schon beschlossen war, auch wenn die Kräfte drei Jahrzehnte lang ausreichten, um den Machtkoloss am Leben zu erhalten.

Doch die Silhouetten der Zukunft zeichnen sich bereits am Horizont ab und nehmen allmählich Konturen einer anderen, neuen Weltordnung an, falls der angeschlagene Hegemon aus Angst vor dem (hegemonialen) Tod keinen (bellizistischen) Selbstmord begeht und die ganze Welt mit in den Abgrund reißt.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Messemer, A., Walter Lippmann und die Mächte. Eine ideengeschichtliche Studie zu Entwicklung,
Positionen und Konzepten eines amerikanischen Denkers der internationalen Beziehungen. Diss. Bonn 1995,
175.
2. Zitiert nach Horowitz, D., Kalter Krieg. Berlin 1976, 11.
3. Zitiert nach Detlef Junker, Nationalstaat und Weltmacht, in: Weltpolitik II. 1939-1945. 14 Vorträge. Hrsg. v.
Oswald Hanser. Göttingen 1975, 17-36 (33 f.).
4. Zitiert nach Junker (wie Anm. 3), 34.
5. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 37 f.
6. Vgl. James Holmes, The End of America´s Two-Ocean-Navy? December 21, 2011; Messemer (wie Anm. 1),
172.
7. Zitiert nach Messemer (wie Anm. 1), 173 f.
8. Ruehl, L, Machtpolitik und Friedensstrategie. Hamburg 1974, 255.
9. Vgl. Silnizki, M., George F. Kennan und die US-Russlandpolitik der 1990er-Jahre. Stellungnahme zu
Costigliolas „Kennan’s Warning on Ukraine“. 7. Februar 2023, www.ontopraxiologie.de.
10. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 21 f.
11. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf Wien 1981, 459.

Nach oben scrollen