Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters?
Übersicht
1. Der Mehr-Ebenen-Krieg
(a) Im Morast von Zwischenstaaten-, Bürgerkrieg und geopolitischem Zusammenprall
(b) Der Kampf um die gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung
2. Das kommende nachhegemoniale Zeitalter?
Anmerkungen
„Es ist leicht, die Probleme zu definieren, aber es ist
unmöglich, über die Antworten sicher zu sein.“
(Ein englischer Parlamentarier)1
1. Der Mehr-Ebenen-Krieg
(a) Im Morast von Zwischenstaaten-, Bürgerkrieg und geopolitischem Zusammenprall
Wer heute im Kriegsjahr 2022 allein auf Abschreckung, finanzielle Repressionen, handelspolitische Sanktionen, moralische Dämonisierung, Diffamierung und Delegitimierung des geopolitischen Rivalen bei gleichzeitiger Ausklammerung der Diplomatie setzt, ohne dabei ihn mit einer wirksamen militärischen Vergeltung zu drohen, macht sich unglaubwürdig und erreicht weder die Beendigung des Krieges noch eine Sicherheitskonstellation, die zur Befriedung Europas führt.
Er verletzt aber gleichzeitig die grundlegenden Prinzipien der Großmächterivalität im nuklearen Zeitalter: „Treibe nie einen Gegner in die Ecke, sondern hilf ihm stets, das Gesicht zu wahren. Versetze dich in seine Lage und betrachte die Dinge durch seine Brille … Bewahre dich vor zwei gleicherweise tödlichen Wahnvorstellungen: der Idee des Sieges und der Idee, ein Krieg könne nicht begrenzt werden.“2
Diese von dem britischen Militärstrategen Liddell Hart (1895-1970) formulierten Grundprinzipien der geopolitischen Konfrontation werden heute im Falle Russland auf verantwortungslose Weise mit Füßen getreten. Kann der Westen sich diesen unerschwinglichen Luxus leisten? Sind der US-Hegemon und seine NATO-Verbündeten derart von den „tödlichen Wahnvorstellungen“ ergriffen, dass sie tatsächlich davon ausgehen, dass sie einen Sieg gegen Russland auf ukrainischem Boden erringen können?
Da möchte man ihnen erneut mit Liddell Hart zurufen: „Die Führung der grand strategy obliegt den Staatsmännern … sie verlangt von den politischen Führern das Begreifen des Krieges, besonders das Begreifen der Entstehung von Kriegen.“3 Dieses „Begreifen des Krieges“ lässt in den westlichen Korridoren der Macht zu wünschen übrig.
Der seit gut zwei Monate tobende Krieg in der Ukraine war vor dem Hintergrund der fehlenden gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur4, der seit gut acht Jahren schwellenden Ukrainekrise und der von der russischen Führung am 15. Dezember 2021 gestellten und vom Westen abgelehnten sicherheitspolitischen Forderungen vorprogrammiert und unabwendbar. Die Biden-Administration wusste das nicht nur ganz genau, sondern nahm das auch billigend in Kauf.5
Der Krieg in der Ukraine ist in seiner Komplexität ein Mehr-Ebenen-Krieg: ein zwischenstaatlicher Krieg, ein innerslawischer Bürgerkrieg und ein geopolitischer Kampf zwischen Russland und den NATO-Staaten um die Sicherheits- und Friedensordnung in Europa, dem der Geo-Bellizismus6 und der „militante Humanismus“ (Noam Chomsky)7 des Westens zugrunde liegt.
Zum einen findet eine direkte militärische Konfrontation zwischen zwei völkerrechtlich anerkannten souveränen Staaten statt und – so gesehen – ist dieser Krieg zweifelsohne ein Zwischenstaatenkrieg, ein Krieg zwischen zwei unterschiedlich starken Gegnern – der nuklearen Großmacht Russland und der in den vergangenen acht Jahren seit dem Ausbruch der Ukrainekrise (2014) von der NATO militärisch ausgebildeten und mit Waffen massiv aufgerüsteten Ukraine.
Der Ukrainekrieg ist zum zweiten ein Bürgerkrieg zwischen den zwei ostslawischen Brüdervölkern. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Und selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein Brüdermord aus ideologischen und geopolitischen Gründen statt. Russland führt einen erbitterten ideologischen Krieg gegen den ukrainischen Ethnonationalismus, wohingegen die seit 2014 in der Ukraine an die Macht gekommene, angeblich „westlich“ orientierte, aber ethnonationalistisch geprägte Machtelite Front gegen alles Russische bzw. Russländische macht und einen Kulturkampf führt, der mittlerweile in einen regelrechten Glaubenskrieg ausartet8. Hier prallen das übernationale Prinzip der russischen Staatlichkeit und der ukrainische Ethnonationalismus als ideologisches Fundament der neuen Ukraine nach 2014 unversöhnlich und knallhart aufeinander. Jedwede Versöhnung ist von vornherein ausgeschlossen.
Wie die Weißgardisten von den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges im russischen Bürgerkrieg gegen die Rotarmisten unterstützt wurden, so unterstützt der Westen heute in diesem innerslawischen Kultur- und Glaubenskrieg nicht etwa die „westlichen Werte“, wie er naiverweise glaubt, sondern einen brachialen Ethnonationalismus ukrainischer Herkunft, den das Europa der Nachkriegszeit längst zu überwinden glaubte. Und dieser Kultur- und Glaubenskrieg wird „bis zum letzten Ukrainer“ geführt, wie manche Zyniker diesseits und jenseits der geopolitischen Barrikade behaupten.
Wo der Westen hinkommt, bringt er gewöhnlich sein eigenes Wertesystem mit; dieses löste aber im Falle der Ukraine in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten nicht etwa einen axiologischen Transformationsprozess, sondern einen ideologischen Kulturkampf innerhalb der Ukraine aus und verschärfte dadurch erst recht neben einer geo- und sicherheitspolitischen auch noch eine kulturelle und religiöse Konfrontation innerhalb des ostslawischen Vielvölkerstaates.9 Was dann seit 2014 passierte, war eine innerslawische bzw. russisch-ukrainische Tragödie: Die Ukraine befand sich unterschwellig stets in einer politischen, sozialen und ideologischen Krise und geriet dadurch immer mehr in eine kultur-, verfassungs- und geopolitische Sackgasse, von den dauerhaften Kriegshandlungen im Donbass und Lugansk ganz zu schweigen. Bereits in meinem Aufsatz „Kampf um die Ukraine“ vom 18. Oktober 2021 stellte ich ernüchternd fest: „Es ist keine Lösung in Sicht, es sei denn, es kommt entweder zum Krieg oder zur Auflösung der Ukraine, oder zu beidem.“10
Auf ukrainischem Boden wird zum dritten eine geopolitische und axiologische Rivalität zwischen Russland und dem Westen ausgetragen, in welcher Geo- und Sicherheitspolitik mit dem innerslawischen Kulturkampf vermengt wird. Diese Konfrontation ist umso erbarmungsloser, je mehr sie in einen säkularisierten Glaubenskrieg ausartet. Nicht von ungefähr ist das Kriegsziel der russischen Führung nach ihren eigenen Beteuerungen neben der „Entmilitarisierung“ eine sog. „Entnazifizierung“ der Ukraine, wobei sich der Ausdruck „Entnazifizierung“ hier nicht auf das ukrainische Volk, sondern auf die in der Ukraine herrschende Machtelite bezieht, die nach russischer Lesart die Ukraine „verraten“ und „verkauft“ hat. Nur in diesem Kontext können wir diesen für uns ziemlich irritierenden Sprachgebrauch verstehen, weil hier der ukrainische Ethnonationalismus auf eine irreführende Weise mit dem deutschen Nazismus gleichgesetzt wird.
Dieser Mehr-Ebenen-Krieg, der ein zwischenstaatlicher Krieg, ein innerslawischer Bürgerkrieg und ein geopolitischer Zusammenprall von zwei feindselig gegenüberstehenden Rivalen Russland und dem Westen in sich vereinigt, ist umso dramatischer, tragischer und ja gefährlicher, je mehr er Geopolitik mit Geomoral und Sicherheitspolitik mit Kulturkampf und Glaubenskrieg verschränkt und je weniger man im Westen die ganze Komplexität dieses Konflikts begreift bzw. begreifen will. Erschwerend kommt der Umstand hinzu, dass die geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen im nuklearen Zeitalter stattfindet, was die Lösung des Konflikts verkompliziert.
Die beiden geopolitischen Kontrahenten beanspruchten nämlich wie selbstverständlich Recht und Gerechtigkeit für sich allein: Die westliche Seite rechtfertigt ihre NATO-Expansionspolitik völkerrechtlich mit der Wahlfreiheit und dem Recht auf Selbstbestimmung der Völker. Die russische Seite beruft sich ihrerseits auf die Jahrhunderte alte kulturelle Tradition und lehnen darüber hinaus sicherheitspolitisch jede Einmischung der raumfremden Mächte in die eigenen traditionell dominierten bzw. domestizierten Machträume kategorisch ab.
Dieser sicherheits- und machtpolitisch motivierte, ideologisch und axiologisch unterfütterte Zusammenprall musste früher oder später implodieren, sodass der Konflikt zwischen Russland einerseits und der Ukraine und dem Westen andererseits vorprogrammiert war. Dass er letztendlich auch in einen Waffengang münden sollte, davon musste man nicht unbedingt ausgehen. Der Konflikt hätte auch friedlich gelöst werden können. Offenbar war es nicht im geostrategischen Interesse der USA einen sicherheitspolitischen Modus Vivendi zwischen Russland und den NATO-Staaten in Europa auf zu erzielen.11
Russland zerstört momentan gewaltsam und systematisch das geopolitische „Spielzeug“ des Westens unter Führung der Angelsachsen, das aus russischer Sicht die Sicherheit, kulturelle Identität und axiologische Souveränität der sog. „russischen Welt“ (русский мир) bedroht hat. Mag sein, dass Russland eine „Entmilitarisierung“ der Ukraine gelingen könnte. Ob auch die sog. „Entnazifizierung“ – richtiger wäre es zu sagen: eine kulturelle bzw. ideologische Rückabwicklung der Ukraine durch Russland – gelingen kann, ist mehr als zweifelhaft.
- (b) Der Kampf um die gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung
Unter dem Vorwand, die Ukraine gegen die russische Aggression zu verteidigen und den gerechten Krieg des ukrainischen Volkes zu unterstützen, sind die NATO-Staaten als „Nichtkriegspartei“ längst in diesem Krieg auf ukrainischem Boden involviert, versorgen die ukrainischen Truppen massiv mit Waffen, bilden das ukrainische Militär aus, schicken tausende Söldner, führen einen geoökonomischen, geopolitischen und Informationskrieg gegen Russland und versuchen den Krieg in die Länge zu ziehen, im irrigen Glauben, Russland dadurch schwächen zu können. Dass die Ukraine dabei am schlimmsten in Mitleidenschaft gezogen wird, spielt offenbar für die US- und NATO-Geostrategen gar keine Rolle.
Der Westen wurde damit schon längst zur Kriegspartei – wenn nicht im völkerrechtlichen, so doch im geo-, militärpolitischen und geoökonomischen Sinne. Die Folgen dieser westlichen Parteinahme sind vor allem für die Ukraine selbst dramatisch: (a) Sie vergrößert die Feindschaft zwischen zwei ostslawischen Brüdervölkern, (b) ruiniert die Ukraine ökonomisch mit Hilfe des russischen Bombardements und der westlichen Waffenlieferungen, (c) mobilisiert zwar geomoralisch und medial die Weltöffentlichkeit und führt den totalen Wirtschaftskrieg bzw. den Geo-Bellizismus gegen Russland. Dabei wird aber gleichzeitig die staatliche Souveränität der Ukraine gefährdet. Und bei alledem denkt keine(r) von den selbsternannten Freunden der Ukraine an die geschundenen und leidgeprüften Völker der Ukraine.
Die zum Krieg in der Ukraine geführte Entwicklung hatte einen langen Vorlauf. Die spannungsgeladene Beziehung zwischen Russland und der Ukraine begann im Grunde gleich nach dem Zerfall des Sowjetimperiums und spitzte sich mit dem Ausbruch der sog. Ukrainekrise 2014 dramatisch zu. Die dadurch feindselig gewordenen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine erzeugten nicht nur die russisch-ukrainischen Missverständnisse, sondern verstellten zugleich auch den Blick auf eine komplexe und komplizierte Dreierbeziehung zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen.12
Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine steht der Westen heute vor dem Scherbenhaufen sowohl seiner Ukraine- als auch seiner Russlandpolitik. Die geopolitisch motivierte und seitens des Westens bewusst ignorierte ukrainische Missachtung aller Minsker Vereinbarungen und gleichzeitig eine harsche oberlehrerhafte westliche Kritik an die Adresse Russlands führten nicht nur zur Zerrüttung der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen, sondern hatten auch das russische Fass geo- und sicherheitspolitisch zum Überlaufen gebracht.
Indem der Westen den Ukrainekrieg allein und ausschließlich aus durchsichtigen geopolitischen Gründen als Zwischenstaatenkrieg definiert und dadurch die beiden anderen Kriegsebenen außer Acht lässt, missbraucht er einerseits ganz bewusst das Völkerrecht als geopolitische Keule gegen Russland und geopolitisiert andererseits unbewusst den innerslawischen Bürgerkrieg mit dem Ziel, dem geopolitischen Rivalen Schaden zuzufügen. Diese westliche Vorgehensweise benutzt missbräuchlich das Völkerrecht. Denn das moderne Völkerrecht ist bereits in seinen Denkvoraussetzungen dysfunktional angelegt. Die Folge ist eine Geopolitisierung des völkerrechtlichen Denkens und seine Instrumentalisierung in der Außenpolitik. Da spielt „ein leerer Normativismus“ (Carl Schmitt) der UN-Charta wahrlich gar keine Rolle, es sei denn zur Legitimierung der eigenen Geopolitik.13
Zugleich gerät der Westen mit seiner Geopolitisierung des innerslawischen Bürgerkriegs in ein geoökonomisches und sicherheitspolitisches Dilemma: (a) Je mehr und rabiater der Krieg geführt wird, umso mehr schadet er der europäischen Wirtschaft und gefährdet gleichzeitig die Sicherheit ganz Europas mit unkalkulierbaren Folgen; (b) Unterlässt die NATO aber die militärischen Hilfeleistungen an die Ukraine, gefährdet sie einen ohnehin aussichtslosen Kampf der Ukraine gegen die russische Invasion, stellt die eigene Glaubwürdigkeit in Frage und unterminiert dadurch sicherheitspolitisch ihre bisherige Rolle als europäische Ordnungsmacht.
Gerät der Krieg in der Ukraine außer Kontrolle und wird er allerseits mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geführt, dann besteht zu alledem die akute Gefahr, dass die Ukraine als Staat von der Oberfläche verschwindet und die geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen noch schärfer ausgetragen wird mit unabsehbaren Folgen für die gesamteuropäische Sicherheits- und Friedensordnung. Mit anderen Worten: Die Geopolitisierung des innerslawischen Bürgerkrieges auf ukrainischem Boden durch den Westen führt zur Gefährdung der Sicherheit in Europa und damit eng verbunden zur Weltfriedensgefährdung.
Geht man vom westlichen Standpunkt aus, wie er vom Bundeskanzler Scholz formuliert wurde, dass nämlich Russland den Krieg nicht gewinnen dürfe, so besteht bei einer solchen Zielsetzung die Gefahr einer unkontrollierten Eskalation, die im schlimmsten Fall in einem nuklearen Schlagabtausch enden könnte. Der Westen ist nicht in der Position, das Kriegsgeschehen in der Ukraine zu kontrollieren und dessen weiteren Verlauf zu diktieren, wohl aber in der Lage, den Krieg mit Waffenlieferungen zu verlängern. Je länger der Krieg dauert, umso mehr besteht die Gefahr, dass er über die Grenzen der Ukraine hinaus überschwappt bzw. von den an der Fortsetzung des Krieges interessierten westlichen Geostrategen angefeuert wird.
Bereits heute beobachten wir eine Tendenz zur Eskalation des Konflikts, die außer Kontrolle geraten kann. Es ist darum eine mögliche Ausweitung des Ukrainekrieges etwa auf Transnistrien nicht auszuschließen, indem selbst das NATO-Land Rumänien involviert werden könnte. Die geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen könnte über das ukrainische Territorium hinaus entgrenzt werden und sich auf andere Teile Kontinentaleuropas überschwappen. Das ist wahrlich eine beängstigte Perspektive. Denn dann stellt sich sehr schnell nicht nur die Frage nach einer direkten Konfrontation zwischen Russland und der NATO, sondern auch und insbesondere eine nukleare Frage, da Russland im konventionellen Bereich dem Westen quantitativ und qualitativ unterlegen ist.
2. Das kommende nachhegemoniale Zeitalter?
Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine fordert Russland die NATO-Allianz unter Führung der USA als europäische Ordnungsmacht heraus. Mit dem Dayton-Abkommen (1995) wurde das Fundament für die NATO-Osterweiterung gelegt und die USA stiegen zur Ordnungsmacht in Europa nach dem Ende des „Kalten Krieges“ auf.14 Das Dayton-Abkommen war im Eigeninteresse der US-amerikanischen Sicherheits- und Geostrategie, das zum Ziel „die Osterweiterung des nordatlantischen Bündnisses bis an die Grenzen Russlands“15 hatte.
Das Russland der 1990er-Jahre war viel zu schwach, orientierungslos, politisch und ökonomisch desorganisiert, um der geo- und sicherheitspolitischen Weichenstellung der US-amerikanischen Ordnungsmacht irgendetwas entgegensetzen zu können. Russland wurde geopolitisch in den 1990er- Jahren neutralisiert und sicherheitspolitisch bis zum 15. Dezember 2021 – als die russische Führung ihre Sicherheitsforderungen an den Westen gestellt hat – wie ein defekter Eisenbahnwaggon auf ein geopolitisches Abstellgleis abgestellt.
Auf Russlands Forderungen reagierten die USA und die NATO erwartungsgemäß deswegen so gereizt und ablehnend, weil sie nicht ohne Recht eine Revision der nach dem Dayton-Abkommen entstandenen Sicherheitsarchitektur in Europa witterten. Der Kriegsausbruch in der Ukraine am 24. Februar 2022 hat nicht nur die nach Dayton entstandene NATO-Expansionspolitik abrupt gestoppt, sondern auch die USA als Ordnungsmacht in Europa herausgefordert, in Frage gestellt und womöglich das nachhegemoniale Zeitalter eingeläutet.
Die auf zwei Säulen beruhende Sicherheitsordnung in Europa seit dem Ende des Ost-West-Konflikts: die „Demokratisierung“ ganz Europas nach westlichem Muster und die NATO-Abschreckungsstrategie, ist endgültig gescheitert und gehört unwiderruflich der Vergangenheit an. Russlands Demokratisierung nach westlichem Vorbild hat sich längst als realitätsfremd erwiesen und die seit eh und je praktizierte Abschreckungsstrategie hatte auch nie so richtig funktioniert und wurde schon zu Zeiten des „Kalten Krieges“ immer wieder einer scharfen Kritik unterzogen.
„Ich habe leider noch immer den Eindruck“ – schrieb Helmut Schmidt 1965 in der Einleitung zu Herman Kahns „Eskalation“16 -, „dass in weiten Kreisen führender Politiker und Militärs der Bundesrepublik die recht primitive Auffassung vertreten wird, die Abschreckung müsse unter allen Umständen funktionieren, und daher sei eine Abschreckungskonzeption ausreichend, die auf einem frühzeitigen Einsatz nuklearer Waffen beruht. Ich habe schon seit langem darauf hingewiesen, dass diese Auffassung irrig ist.“17
Ins gleiche Horn blies auch der Franzose Raymond Aron 1962, als er die Abschreckungsstrategie allein schon deswegen für „irrig“ gehalten, weil die „Gegenseitigkeit der Abschreckung zur Neutralisierung einer Strategie (neigt), die einseitig sein muss, wenn sie vollkommen überzeugend sein will. Je unmenschlicher die Drohung ist, desto seltener sind die Umstände, in denen sie ernst genommen wird. Wenn die Abschreckungsstrategie einseitig ist, verhängt sie über den anderen eine Todesgefahr. Ist sie gegenseitig, verhängt sie über alle Beteiligten eine fast gleiche Gefahr. Die Gegenseitigkeit vermindert die Häufigkeit des Gebrauchs, sie steigert die Unwahrscheinlichkeit der Anwendung der thermonuklearen Drohung.“18
Seit diesen Äußerungen von Helmut Schmidt und Raymond Aron bereits aus der ersten Hälfte der 1960er-Jahre hat sich die NATO-Sicherheitsstrategie im Wesentlichen trotz der Beendigung des „Kalten Krieges“ und vor dem Hintergrund der geopolitischen Umwälzungen der vergangenen dreißig Jahre nicht geändert. Abschreckung, Eskalation, Vergeltung sind auch heute noch der Aktionsradius, innerhalb dessen die USA mit ihrem NATO-Bündnis ihre geostrategischen Ziele im anbrechenden nachhegemonialen Zeitalter zu erreichen trachten.
Die geopolitische Rivalität der nuklearen Groß- und Supermächte steuert auf eine Konfrontation, die sich stets entlang der Grenze zwischen Krieg und Frieden bewegt und mit Abschreckung, Eskalation und Drohgebärden wie mit einem Spielzeug herumjongliert. „Der Krieg ist ein Spiel“, glaubte Raymond Aron mit Berufung auf Carl v. Clausewitz, der „den Krieg“ mit „dem Kartenspiel“ verglich, zu wissen. Und er fügte sodann hinzu: „Die kriegerische Aktion selbst … lässt ein Spiel der Wahrscheinlichkeiten und des Zufalls zu, die aus ihm eine >freie Betätigung der Seele< machen.“19
Diese romantische Vorstellung vom Krieg als einer „freien Betätigung der Seele“ ist im nuklearen Zeitalter ein verhängnisvoller und gefährlicher Irrtum, der mit Millionen von Menschenleben spielt. Dem möchte man am liebsten mit Goethe entgegensetzen: „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht, wer sich nicht selbst befiehlt, bleibt immer Knecht.“
Und so bleiben wir „Knechte“ unserer eigenen Abschreckungsstrategie im naiven Glauben, den Krieg dadurch verhindern zu können. Der Krieg ist aber unausrottbar; er war nie aus der Welt und bleibt immer da als Plage der Menschheit und als „ihr blutiges Ritual“ (Rita Bischof).20 Und dieses „Ritual“ werden wir nie los, solange die Menschheit existiert. Es gelingt uns heutzutage immer weniger den Krieg einzuhegen, erst recht wenn ein geopolitischer Rivale (wie Russland) sich weder finanziell noch ökonomisch einschüchtern lässt und ein anderer geopolitischer Rivale (wie die USA) vor lauter Kraft kaum gehen kann.
„Die paradoxe Stärke des Rubels“ betitelte das Handelsblatt neuerlich seinen Artikel vom 27. April 2022, indem es trotz den harten Wirtschaftssanktionen und finanziellen Repressionen verwundert feststellte: „Unter dem Strich also erzielt Russland offenbar weiter vergleichsweise hohe Exporterlöse. Ihnen stehen geringe Importe gegenüber. Das spricht für einen steigenden Leistungsbilanzüberschuss, also einen noch positiveren Saldo im Handel von Waren und Dienstleistungen mit dem Ausland“ (S. 30 f.). Das bedeutet aber, dass die geballte geoökonomische und monetäre Vormachtstellung des kollektiven Westens allmählich erodiert, weil sie nicht mehr in der Lage ist, selbst die ökonomisch und technologisch weit unterlegene Volkswirtschaft wie die russische in die Knie zu zwingen.
Lässt Russland sich aber nicht einschüchtern und geht es selbst zu Gegensanktionen oder gar zu militärischen Aktionen wie im Falle des Krieges in der Ukraine über, wirkt der Westen militärisch auf einmal wie gelähmt, ohne dass er gegen die eigene Selbstlähmung irgendetwas ausrichten kann. Denn die Abschreckungsstrategie versagt in dem Augenblick, in dem eine direkte militärische Konfrontation gegen die nukleare Supermacht von vornherein – und zwar zu Recht! – ausgeschlossen wird. Sie ist in unserem konkreten Falle – wie man sieht – grandios gescheitert.
Viel wichtiger ist allerdings eine ganz andere Frage: Kommt es zu einer militärischen oder gar nuklearen Konfrontation der Atommächte, falls sich die USA als die Ordnungsmacht bzw. Macht des Status quo und die Revisionsmacht Russland sicherheitspolitisch nicht einigen wollen oder können?
Das atomare Zeitalter hat unser Bewusstsein dafür geschärft, dass Clausewitz` Theorie vom Krieg als „einer bloßen Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ zumindest für die Atommächte unbrauchbar geworden ist, da der Krieg einer Atommacht gegen eine andere mit hoher Wahrscheinlichkeit den eigenen Untergang miteinschließt. Bedeutet diese Feststellung, dass der Krieg der Nuklearmächte gegeneinander unwahrscheinlich oder gar unmöglich geworden und dass die gegenseitige Eindämmungs- und Abschreckungsstrategie nichts anderes als Bluff ist?
Zweierlei war zurzeit des „Kalten Krieges“ denkbar: „1. Der nukleare Krieg findet nicht statt; aber er bleibt eine reale Drohung. 2. Der nukleare Krieg wird eben wegen seiner Unvorstellbarkeit nicht mehr als Drohung empfunden und dadurch das Tor zum konventionellen und daraus resultierend einem atomaren Krieg wieder weit geöffnet.“21 Dieses Dilemma hat sich mit dem Ende des Kalten Krieges insofern erledigt, als wir heute vor einem ganz anderen Dilemma stehen: Die atomare Bedrohung der Menschheit wird entweder von anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungen (wie die sog. „Klima-Katastrophe“) verdrängt oder ganz ignoriert bzw. nicht ernstgenommen. Die Ignoranz der atomaren Bedrohung geht dabei nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den westlichen Machteliten und sogar von ihren außenpolitischen Entscheidungsträgern aus. Offenbar immer noch vom vermeintlichen „Sieg“ im „Kalten Krieg“ euphorisiert, glauben sie, dass der nukleare Krieg womöglich in Anbetracht der konventionellen militärischen Übermacht des Westens und der geoökonomischen Machtdominanz (zumindest gegenüber Russland) unmöglich oder wenigstens unwahrscheinlich ist.
Sich in Sicherheit wiegen, dass keine mittelbare oder unmittelbare Gefahr droht, kann aber insofern gefährlich werden, als die Menschheit bei einer solchen die atomare Bedrohung nicht ernstgenommenen Gefahr ungewollt in eine Katastrophe hineinschlittern könnte. Beachtet man dabei das zweite von Theodor Schieder ausgesprochene Dilemma, dass nämlich die Unvorstellbarkeit des nuklearen Krieges vorausgesetzt wird, wodurch „das Tor zum konventionellen … weit geöffnet wird“, so kann aus einem denkbaren konventionellen Krieg vor dem Hintergrund der modernen Militärtechnologie (wie etwa die neuen Hyperschallwaffen), die mit konventionellem wie atomarem Sprengstoff ausgerüstet werden können, sehr schnell ein atomarer Schlagabtausch werden. Sollten sich die Großmächte auf einen sicherheitspolitischen Modus Vivendi auf dem europäischen Kontinent nicht einigen können oder wollen, dann müssen wir auf alles gefasst sein.
Momentan herrscht allerdings im Europa des Kriegsjahres 2022 ein sicherheitspolitisches Patt und es bewahrheitet sich die noch vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine gemachte Äußerung von Dmitrij Trenin, dass nämlich „der Westen zu keinem Kompromiss, Russland (aber) zu keiner Kapitulation bereit ist (Запад не пойдет на компромисс, Россия – на капитуляцию).“22
Wir stecken also momentan in einer geo- und sicherheitspolitischen Sackgasse. Ob diese Gemengelage der Beginn eines posthegemonialen Zeitalters bedeutet, bleibt abzuwarten.
Anmerkungen
1. Zitiert nach Schmidt, H., Verteidigung oder Vergeltung. Ein deutscher Beitrag zum strategischen Problem der NATO. 4. Aufl. Tübingen 1965, 239.
2. Zitiert nach Schmidt (wie Anm. 1), 239.
3. Zitiert nach Schmidt (wie Anm. 1), 240.
4. Silnizki, M., Europäische Sicherheitsarchitektur ohne Russland? Zum Problem der westlichen Sicherheitsstrategie. 17. Januar 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Dazu Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung. 16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
6. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
7. Noam Chomsky, The New Military Humanism. Lessons from Kosovo. London 1999.
8. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Im Strudel von Kulturkampf und Glaubenskrieg. Zur Verschränkung von Geopolitik und Geomoral. 21. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
10. Näheres dazu Silnizki, M., Kampf um die Ukraine (wie Anm. 8).
11. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 5).
12. Vgl. Silnizki (wie Anm. 8).
13. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland. Im Strudel von Geopolitik und Identitätsdiskurs. Berlin 2018, 102 ff.
14. Näheres dazu Silnizki, M., Fluch oder Segen? Zur Diskussion über die NATO-Osterweiterung. 26. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
15. Becker, J./Beham, M., Operation Balkan: Werbung für Krieg und Tod. Baden-Baden 2006, 37.
16. Kahn, H., Eskalation. Die Politik mit der Vernichtungsspirale. Einleitung von Helmut Schmidt. Berlin 1965.
17. Schmidt (wie Anm. 16), 24.
18. Aron, R., Frieden und Krieg. Eine Theorie der Staatenwelt. Frankfurt 1962, 202.
19. Aron (wie Anm. 18), 35.
20. Bischof, R., Entzauberte Geschichte (Nachwort), in: Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1983, 265-291 (265).
21. Schieder, Th., Friedenssicherung und Staatenpluralismus, in: ders., Einsichten in die Geschichte. Essays. Frankfurt 1980, 156-174 (170).
22. Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021, 9; näheres dazu Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7. September 2021, www.ontopraxiologie.de.