Verlag OntoPrax Berlin

Gegenwart im Spiegel der Vergangenheit

Ist Russland „militärisch unbesiegbar“?

Übersicht

1. Replik auf Toqajews Äußerung
2. Putins Münchener Rede und die Folgen
3. Der Bürgerkrieg: gestern und heute
4. Die Konferenz von Genua und der Ukrainekonflikt

Anmerkungen

„Russland ist kein besiegter Feind, es ist ein gefallener Freund.“
(Francesco Nitti, 1922)1

1. Replik auf Toqajews Äußerung

Anfang Dezember 2024 fand ein Telefongespräch zwischen Donald Trump und dem kasachischen Präsidenten Amtierend Qassym-Schomart Toqajew statt. Nach dem Gespräch wurde Toqajew in den Medien mit der Äußerung zitiert: „Russland ist militärisch unbesiegbar.“

Diese Äußerung wiederholte er in einem am 3. Januar 2025 der kasachischen Tageszeitung „Egemen Qazaqstan“ gegebenen Neujahrsinterview. Wörtlich sagte Toqajew in Beantwortung der Frage nach den kasachisch-amerikanischen Beziehungen u. a.:

„In einem Telefongespräch fragte Donald Trump nach unserer Meinung zur Aussetzung des Militäreinsatzes in der Ukraine. Das ist für mich kein neues Thema. Denn im Jahr 2024 haben viele Staatsoberhäupter und internationale Organisationen mich danach gefragt. Es zeichnet sich eine besondere Situation ab: Russland ist militärisch unbesiegbar und die Ukraine hofft, mit Hilfe ihrer Verbündeten im Westen den Krieg nicht zu beenden oder zumindest nicht zu verlieren. Deshalb habe ich gesagt, dass dieses Problem besonders kompliziert und seine Lösung vom Willen der Führer der beiden Konfliktparteien und von Trump selbst als Weltmachtführer abhängig ist. Ich habe darauf hingewiesen, dass Kasachstan sich seit Beginn des Militäreinsatzes in der Ukraine für die Notwendigkeit von Verhandlungen zur Herstellung des Friedens einsetzt.“

Die Frage, ob Russland „militärisch unbesiegbar“ ist, ist untrennbar mit einer ganz anderen Frage verbunden: Warum unternahmen die europäischen Großmächte spätestens seit dem Großen Nordischen Krieg (1700-1721) in den vergangenen dreihundert Jahren immer wieder den vergeblichen Versuch Russland zu besiegen?

Am Ende dieser Feldzüge gegen Russland ist es immer stärker und mächtiger geworden. Aus der Geschichte haben die Europäer bzw. die Transatlantiker bis heute keine Lehren gezogen. Bis heute glauben sie Russland militärisch bezwingen zu können.

Als Karl XII. sich ab 1708 anschickte, Russland in einem letzten Feldzug zu besiegen, erlitten die Schweden in der Schlacht bei Poltawa im Juli 1709 eine verheerende Niederlage, welche die Kriegswende bedeutete.

Die Bedingungen der Friedensverträge von StockholmFrederiksborg und Nystad bedeuteten das Ende Schwedens als europäische Großmacht und den gleichzeitigen Aufstieg des 1721 von Peter I. gegründeten Russischen Kaiserreiches. Diese dreihundert Jahre zurückliegende Geschichte einer vernichtenden Kriegsniederlage der damaligen europäischen Großmacht sollte den transatlantischen Machteliten, die sich anschickten, Russland im Ukrainekonflikt eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, eine Warnung sein.

Es wäre freilich zu viel des Guten von Joe Biden, Antony Blinken, Olaf Scholz, Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner (und wie sie alle auch immer heißen mögen) solche tiefgehenden historischen Kenntnisse zu erwarten, wenn sie selbst die verheerenden Folgen des Ersten Weltkrieges des 20. Jahrhunderts längst vergessen haben.

Die Folgewirkungen des Ersten Weltkrieges vor Augen schreibt der große Liberale Italiens, Francesko S. Nitti (1868-1953), 1925: „Wenn der Bolschewismus, der eine falsche, gefährliche Wirtschaftslehre darstellt, noch jetzt seine Anziehungskraft auf die Volksmassen ausübt, so geschieht dies aus instinktiver Reaktion gegen die rücksichtslose Politik, die fast alle europäischen Regierungen gegen Russland machten. Es ist dies eine der beschämenden Seiten der modernen Geschichte.“2

Und in seinem 1926 erschienenen Werk „Bolschewismus, Faschismus und Demokratie“ schreibt Nitti: „Ein grundlegender Irrtum hat das ganze europäische Leben beeinflusst: die Stellung gegen Russland. Die siegreichen Mächte … sträubten sich nicht nur lange Zeit, die Regierung von Moskau anzuerkennen, sondern suchten sie mit allen militärischen und wirtschaftlichen Mitteln zu bekämpfen … Später versuchten sie die wirtschaftliche Isolierung Russlands.“3

Seitdem haben die europäischen bzw. transatlantischen Machteliten kaum etwas dazu gelernt. Wie vor hundert Jahren versuchen sie Russland „mit allen militärischen und wirtschaftlichen Mitteln zu bekämpfen“ und wirtschaftlich zu isolieren. Dieser Irrweg führt nunmehr zu einer erneuten Niederlage der Europäer im unerklärten Krieg gegen Russland auf ukrainischem Boden.

Nie gab es in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine solch ungebildete und inkompetente politische Elite wie heute und nie hatten die sog. „Russlandexperten“ so wenig Kenntnisse von Russland und dessen Geo- und Sicherheitspolitik wie heute. Sie lassen sich mehr von Wunschdenken und weniger von nüchterner Analyse leiten.

Der Frieden ist aber nicht möglich, solange nicht die Überzeugung in das Bewusstsein der politischen Entscheidungsträger eindringt, dass Russland weder militärisch besiegt noch „Putins Russland“ von innen zum Sturz gebracht werden kann. Wie eh und je haben die europäischen bzw. transatlantischen Machteliten Russland erneut unterschätzt und das eigene militärische und ökonomische Potential maßlos überschätzt.

Nach dem Ende des „Kalten Krieges“ glaubten sie, dass Russland wegen der anhaltenden inneren Unordnung und Schwäche in den 1990er-Jahren dauerhaft geschwächt und entmachtet ist. Russland habe sich auf der weltpolitischen Bühne überflüssig gemacht und spiele geopolitisch keine Rolle mehr, glaubten sie.

Wie sehr man sich verschätzen kann, zeigen die Entwicklungen seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine. Die nach dem Nato-Dezemberbeschluss 1994 in Gang gesetzte Vergrößerung des „atlantischen Westeuropas“ bis an die frühere Grenze der UdSSR und darüber hinaus bis an die neue russische Westgrenze sowie die Grenzen von Belarus, der Ukraine und Moldawien wurde eine – wie Lothar Rühl es im Jahr 2000 zutreffend formulierte – „negative strategische Raumeinheit außerhalb der westlichen Allianz“ geschaffen, „die später von russischer Macht gefüllt werden könnte.“4

Die sicherheitspolitische Gefahr, die mit dieser „negativen strategischen Raumeinheit“ verbunden war, hat Rühl zwar klar und deutlich gesehen, wies er selbst doch darauf hin, dass dadurch „statt kollektiver Sicherheit eine dynamische Konkurrenz in dem nicht zugeteilten Raum um Interessensphären zwischen integrativen Expansionstendenzen EU/Nato versus Russische Föderation/GUS zustande kommen (könnte).“5

Immer noch in der Blocklogik des „Kalten Krieges“ verbleibend, hat er aber die absehbaren künftigen Spannungen zwischen Russland und der Nato-Allianz, die er euphemistisch als „eine dynamische Konkurrenz“ verharmloste, billigend in Kauf genommen.

Diese als „integrative Expansionstendenzen EU/Nato“ bezeichnete Nato-Osterweiterungspolitik erwies sich ein Vierteljahrhundert später als destruktiv und zerstörerisch. Statt „kollektiver Sicherheit“ erleben wir heute erneut Krieg, Tod und Hass. Und diese Entwicklung war spätestens mit Putins Münchener Rede 2007 vorgezeichnet und absehbar.

2. Putins Münchener Rede und die Folgen

Als Reaktion auf Putins Münchener Rede fand laut dem NZZ-Bericht vom 19. Juni 2007 „ein Expertengespräch der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stiftung in Wildbad Kreuth“ statt, das dem „gegenwärtigen und künftigen Weg Russlands und seiner Haltung gegenüber dem Westen gewidmet (war).“

An dem Treffen nahm u. a. auch Lothar Rühl teil. In seiner Wortmeldung stellte er zwar fest, dass sich die geopolitische Lage Russlands seit dem Zerfall der Sowjetunion verschlechterte, warf aber offenbar in Anspielung auf die Münchener Rede „vielen in Russland“ vor, „in Großmachtkategorien“ ebenso, wie an Revanche und ein „Roll-back“ des Westens zu denken.

Rühl meinte, berichtete die NZZ weiter, dass es sich „wahrscheinlich um eine langfristige Strategie der Russen (handle), die sich durch die fortlaufende Erweiterung der Nato herausgefordert sähen. Als Folge davon habe Russland zurzeit keine Interessensphäre in Europa mehr und keine westliche Anerkennung einer solchen in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten. Außerdem verfüge Moskau im Nato-Russland-Rat wohl über Mitsprache, habe aber nicht ein Mitentscheidungsrecht. Auch die sich abzeichnende Unabhängigkeit Kosovos werde als historische Niederlage betrachtet. Die Reibungsflächen mit Russland nehmen auch deshalb zu, weil dieser Prozess der westlichen Expansion nach Osten ein Selbstläufer geworden sei und das Ziel, das Ende, nicht absehbar sei.“

Der NZZ-Bericht zeigt, wie wenig selbst ein solch ausgewiesener Geopolitiker und ausgezeichneter Russlandkenner wie Lothar Rühl für Moskaus sicherheitspolitische Sorgen Verständnis hatte und wie sehr er sechzehn Jahre nach dem Untergang des Sowjetreiches immer noch in den Kategorien des „Kalten Krieges“ dachte.

Dass Putin in seiner Münchener Rede „in Großmachtkategorien“ gedacht haben soll, das kann man ihm wirklich nicht vorhalten. Vielmehr hat er nicht ohne Recht darauf hingewiesen, dass „wir heute … eine fast unbegrenzte, hypertrophierte Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen (beobachten)“, womit er – was allen Anwesenden klar war – die Nato-Allianz meinte.

Auch Putins Empörung über die Nato-Osterweiterung, die „ihre Stoßkräfte immer dichter an unsere Staatsgrenzen heranbringt“ und sich für ihn als einen „provozierenden Faktor“ darstellt, war nicht zu überhören. Seine Forderung: Man dürfe „die UNO nicht durch die NATO oder die EU ersetzen“ ist allein in diesem Kontext zu verstehen.

„Ich bin überzeugt,“ fügte er gleich hinzu, „dass wir heute an einem Grenzpunkt angelangt sind, an dem wir ernsthaft über die gesamte Architektur der globalen Sicherheit nachdenken sollten.“

Dass Putins Rede belächelt und mit Schulterzucken ignoriert und nicht ernstgenommen wurde, dafür zahlen wir heute einen hohen Preis. Und es bewahrheitet sich immer wieder die Erkenntnis: Wer die Geschichte nicht kennt, ist verdammt sie zu wiederholen.

3. Der Bürgerkrieg: gestern und heute

Was wir heute mit dem größten und blutigsten Krieg in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, in dem beinahe alle europäischen Länder involviert sind, erleben, ist vergleichbar mit der Folgewirkung des Ersten Weltkrieges, nach dem das auseinandergebrochene Zarenreich in einen blutigen Bürgerkrieg stürzte und eine Bürgerkriegspartei der Weißgardisten massiv von den westlichen Siegermächten des Ersten Weltkrieges unterstützt wurde.

Wie damals tobt auch heute nach dem Untergang des Sowjetreiches mit einer dreißigjährigen Verzögerung ein Bürgerkrieg auf ukrainischem Boden, auch wenn die westlichen Massenmedien uns aus durchsichtigen propagandistischen Motiven etwas ganz anderes weismachen möchten.

Der bereits seit beinahe drei Jahren tobende Krieg in der Ukraine war vor dem Hintergrund der fehlenden gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur, der seit gut acht Jahren schwellenden Ukrainekrise und der von der russischen Führung im Dezember 2021 gestellten und von der Nato-Allianz abgelehnten sicherheitspolitischen Forderungen vorprogrammiert und unabwendbar.

Dieser Krieg ist nicht nur ein zwischenstaatlicher Konflikt, sondern auch ein Bürgerkrieg zwischen den zwei ostslawischen Brüdervölkern. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Und selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein Brüdermord aus unterschiedlichen Gründen statt.6

Wie die Weißgardisten nach der Machtergreifung der Bolschewiki von den westlichen Alliierten im russischen Bürgerkrieg gegen die Rotarmisten militärisch unterstützt wurden, so unterstützen die Nato-Staaten heute in diesem ukrainisch-russischen Kultur- und Glaubenskrieg die Kiewer Zentralregierung in ihrem aussichtslosen Kampf gegen die russische Übermacht.

Die westliche Beteiligung am russischen Bürgerkrieg wurde freilich nicht von allen Europäern bedingungslos unterstützt. Ganz im Gegenteil: Aufs Schärfste verurteilte Francesko S. Nitti „alle militärischen Expeditionen gegen die Moskauer Regierung von der Entente, namentlich von Frankreich organisiert, bezahlt und unterstützt worden. Die Armeen von Koltschak, von Judenitsch, Denikin und Wrangel waren der Entente willkommen und wurden von ihr unterhalten.“7

Als Liberaler war Nitti dabei alles andere als Freund des „bolschewistischen Russlands“. „Kein ernsthaft denkender Mensch kann das gewalttätige System der Sowjetregierung verteidigen,“ schrieb er 1922. „Unmöglich ist es das Übel nicht anzuerkennen, dass die bolschewistische Regierung der russischen Revolution zugefügt hat … Das äußerste Elend, in das Russland versunken ist, die Hungersnot und Teuerung … haben auch den Verblendeten bewiesen, welch große Gefahr das kommunistische Programm und der Wahnsinn der proletarischen Diktatur für die Menschheit bedeuten.“8

Dessen ungeachtet lehnte Nitti die europäischen Interventionen im russischen Bürgerkrieg kategorisch ab. Seine Ablehnung begründete er damit, dass „militärische Unternehmungen in das Innere Russlands zu unterstützen oder zu bewaffnen, … ein doppelter Fehler (war): denn einerseits erweckte man dadurch das Misstrauen des russischen Volkes und gab andererseits dem bolschewistischen Widerstand die Weihe einer nationalen Bewegung.“9

Mit andren Worten: Je mehr die Entente einen militärischen Druck auf die Sowjetregierung ausübte, umso mehr scharte sich das Volk um das bolschewistische Regime. Schlimmer noch: Die Entente habe Rumänien und Polen genauso, wie heute die Ukraine, „gegen Russland aufgehetzt und dieses dadurch in schwere Gefahren gebracht; aber sie hat außerdem, und was viel schlimmer ist, auf alle Art und Weise den Bürgerkrieg zu entzünden und die antibolschewistischen Armeen zu bewaffnen versucht“, schrieb Nitti entrüstet und fuhr fort: Den Entente-Staaten ging es allein darum, „die Bezahlung der russischen Schulden zu sichern“ und nicht darum, „dem russischen und allen anderen in Russland lebenden Völkern das Recht der Selbstregierung zu erkennen“ und „Russland die Freiheit (zu) lassen, seinen Staat nach eigenem Gutdünken … auszubauen.“10

Dieser längst vergessene europäische Intervention im russischen Bürgerkrieg wiederholt sich heute 100 Jahre später im Ukrainekrieg mit dem gleichen verheerenden Ergebnis diesmal für die Nato-Allianz, die sich der Ukraine in ihrem Proxykrieg gegen Russland bedient.

Und es sieht so aus, als würden die Nato-Staaten, ohne sich dessen bewusst zu sein, in die Fußstapfen der Entente treten und die gleiche dreistufige Kriegserfahrung gegen Russland durchleben: von Sanktionskrieg über die militärische Konfrontation bis hin zu den Friedensverhandlungen.

„Im ersten Zeitraum, und bis zum Zusammenbruch des Wrangelschen Heeres im November 1920,“ isolierte die Entente „Russland durch einen Stacheldrahtverhau wie im Kriege, le fil barbelé, wie Clemenceau sich ausdrückte, und bot große Truppenmengen auf. In der zweiten Periode hat man die wirtschaftliche Sperre, die Blockade, angewandt. In der dritten endlich, als man sich mit den tatsächlichen Zuständen in Russland abgefunden hatte, ist die Sowjetregierung zur Konferenz von Genua zugelassen worden, um nicht nur über ihre Anerkennung, sondern auch über ihre Beziehungen zu den anderen Staaten zu diskutieren.“11

Hätten die transatlantischen Politamateure die Geschichte des Entente-Interventionismus in Russland gekannt, hätten sie womöglich zweimal überlegt, ob sie sich in den russisch-ukrainischen Bürgerkrieg einmischen. Wer aber die Geschichte nicht kennt, den bestraft das Leben.

4. Die Konferenz von Genua und der Ukrainekonflikt

Sanktionen – Krieg – Diplomatie: Diese dreistufige Konfrontation durchleben wir auch im seit drei Jahren andauernden Krieg zwischen Russland und der Ukraine unter massiver Involvierung der Nato-Staaten. Die tausendfachen Sanktionen gegen Russland sind bis dato so gut wie wirkungslos geblieben, der Proxy-Krieg ist so gut wie verloren und nun versucht die Nato-Allianz ihr Glück, seitdem Donald Trump erneut zum US-Präsidenten gewählt wurde, mit Diplomatie statt mit Krieg ihre geopolitischen Ziele zu durchzusetzen, um zu retten, was (noch) zu retten ist.

Die von Trump geforderte diplomatische Konfliktregelung wird genau das sein, was die gescheiterte Konferenz von Genua 1922, bei der das Sowjetrussland „zum ersten Mal vertreten war und mit allen anderen Ländern in friedliche Berührung kam,“ geworden ist: die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln.

Die Teilnahme der Bolschewiki an der Konferenz löste bei der russischen Emigration Empörung aus, die die Legitimität der Sowjetregierung, das russische Volk zu vertreten, bestritten hat.

Die sowjetische Delegation wurde vom Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten der RSFSR und der UdSSR, Georgij Čičerin (1918-1930), angeführt.

Die USA, die sich weigerten, an der Konferenz teilzunehmen, wurden durch den US-Botschafter in Italien, Richard Child, vertreten. Die Delegierten aus den europäischen Staaten wurden von David Lloyd George und George Curzon (Großbritannien), Joseph Wirth und Walter Rathenau (Deutschland) sowie Luigi Facta (Italien), Louis Barthou und Camille Barrère (Frankreich) angeführt.

Der offizielle Zweck der Konferenz bestand darin, Maßnahmen „zur wirtschaftlichen Erholung Mittel- und Osteuropas“ zu vereinbaren. Das Hauptanliegen der Konferenz war aber in Wahrheit die Frage der Beziehungen zwischen dem jungen Sowjetstaat und den westlichen Siegermächten nach dem gescheiterten Versuch, die Sowjetmacht durch die militärische Intervention der Entente zu stürzen.

Ein spezielles Expertenkomitee, das vom 20. bis 28. März 1922 in London tagte, bereitete einen Resolutionsentwurf vor, in dem Sowjetrussland u. a. verpflichtet werden sollte, alle Vorkriegs- und Kriegsschulden sowie finanziellen Verpflichtungen des untergegangenen Zarenreiches in Höhe von 18,5 Milliarden Goldrubel anzuerkennen.

Und der vorgelegte Entwurf hatte es in sich. Er forderte von der Sowjetregierung, „sich aller umstürzlerischen Propaganda gegen die innere Ordnung und die Verfassungen der übrigen Länder“ zu enthalten. Sie dürfe sich „in keiner Weise in innere Angelegenheiten eimischen und jede Handlung unterlassen, die den Status quo in den anderen Staaten bedrohen könnte“ (Art. 1).

Das war allerdings nur die eine – politische – Seite des Entwurfs. Viel schlimmer war die andere Seite mit ihren ökonomisch-finanziellen Forderungen, die den Sowjetstaat zur einer Schuldenkolonie des Westens gemacht hätte. Die Sowjetregierung sollte verpflichtet werden, „sämtliche von ihr oder ihren Vertretern bei fremden Untertanen gemachten Schulden“ (Art. 3) anzuerkennen und „regelmäßige Zahlungen der russischen Staatstitel zu leisten“ (Art. 5).

Für mögliche Rechtsstreitigkeiten sollte ein aus drei Mitgliedern bestehendes „gemischtes Schiedsgericht“ eingerichtet werden, von denen „das eine die Regierung der Sowjets, das andere die Regierung des beteiligten Staates, das dritte als Vorsitzenden der Präsident des obersten Gerichtshofes der Vereinigten Staaten oder der Präsident des ständigen Schiedsgerichtes im Haag oder der Völkerbund ernennt“ (Art. 8).12

„Es handelt sich hier“ – kommentiert Nitti den Resolutionsentwurf – „um ein fast willkürliches System, wie man es etwa im Orient zur Anwendung bringen könnte. … All dies würde in Wirklichkeit bedeuten, dass Russland gegenüber nicht die Grundsätze internationaler Lebensgemeinschaft, wie sie unter freien Völkern üblich sind, zur Anwendung kämen, sondern eine indirekte Kontrolle ausgeübt würde, deren Folgen … unberechenbar wären … Auf diese Weise bleibt also Russland außerhalb der europäischen Gemeinschaft stehen, indem es … in die Sklaverei des westlichen Kapitalismus in seinen gierigsten Erscheinungsformen zu ziehen, irgendwie anerkennt.“13

Die sowjetische Delegation lehnte diese Forderungen erwartungsgemäß ab und erhob ihrerseits Gegenforderungen auf Entschädigung für die durch die ausländische Intervention und Blockade verursachten Verluste in Höhe von 39 Milliarden Goldrubel.

Heute deutet alles darauf hin, dass Trumps Amerika im Geiste eines solchen auf der Konferenz von Genua vorgelegten Vertragsentwurfs mit „Putins Russland“ verhandeln will, wenn man zahlreiche Äußerungen, Vorschläge und Forderungen seitens der Trump-Mannschaft und anderen Repräsentanten der transatlantischen Machteliten hört.

Sie verfahren offenbar nach dem Motto: Wenn wir schon mit unserem Wirtschafts- und Sanktionskrieg nicht weitergekommen sind und auf dem ukrainischen Schlachtfeld eine Niederlage nach der anderen erleiden, dann sollten wir wenigsten versuchen, auf dem diplomatischen Parkett Friedensbedingungen zu diktieren.

Dass Russland, das sich auf dem ukrainischen Schlachtfeld auf dem Siegeszug befindet, sich nichts diktieren lässt, hat zuletzt der ehem. Chef des Inlandsgeheimdienstes (FSB) und Sekretär des Sicherheitsrates der Russischen Föderation, Nikolai Patruschew (2008-2024), deutlich zum Ausdruck gebracht.

In seinem der Zeitung Komsomolskaja Prawda am 14. Januar 2025 gegebenen Interview hat Patruschew nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine in diesem Jahr einfach aufhört zu existieren, wenn der Krieg fortgesetzt wird (не исключено, что в наступившем году Украина прекратит существование), und man sich nicht unter Druck setzen lässt.

Die Trump-Administration und die Nato-Allianz stehen heute vor einem Dilemma: entweder den Krieg weiterhin zu unterstützen und/oder massiv auszuweiten, bis die Ukraine aufhört zu existieren, oder die ukrainische Kriegsniederlage zu akzeptieren und einen sicherheitspolitischen Modus Vivendi zu russischen Bedingungen auszuhandeln.

Wären die transatlantischen Machteliten nicht so geschichtsvergessen, wie sie es sind, so hätten sie sich das Scheitern der Entente vor Augen halten müssen und auf dieses Dilemma nicht ankommen lassen sowie mit der russischen Führung bereits vor dem Kriegsausbruch geeinigt. Wer aber aus Übermut und Selbstüberschätzung hoch pokert, muss bereit sein, auch eine Kriegsniederlage einstecken zu können.

Anmerkungen

1. Nitti, F., Der Niedergang Europas. Die Wege zum Wiederaufbau. Frankfurt 1922, 174.
2. Nitti, F., Der Friede. Frankfurt 1925, 5.
3. Nitti, F., Bolschewismus, Faschismus und Demokratie. München 1926, 22 f.
4. Rühl, L., Kollektive Sicherheit und Allianzen, in: Kaiser, K./Schwarz, H.-P. (Hrsg.), Weltpolitik im neuen
Jahrhundert. Baden-Baden 2000, 519-539 (525, 528).
5. Rühl (wie Anm. 4), 525.
6. Näheres dazu Silnizki, M., Im Kriegsjahr 2022. Entstehungsjahr eines nachhegemonialen Zeitalters? 3. Mai<> 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Nitti, Der Niedergang Europas (wie Anm. 1), 176.
8. Nitti (wie Anm. 1), 175 ff.
9. Nitti (wie Anm. 1), 177 f.
10. Nitti (wie Anm. 1), 178.
11. Nitti (wie Anm. 1), 176.
12. Zitiert nach Nitti (wie Anm. 1), 180 f.
13. Nitti (wie Anm. 1), 181 ff.

Nach oben scrollen