Verlag OntoPrax Berlin

Europa am Scheideweg

Zwischen Selbstverortung und Amerikas Weltmission

Übersicht

  1. „Geburt Europas aus dem Geiste Amerikas“
  2. Amerikas Weltmission und Europas Zukunft

Anmerkungen

                                                                                                „Wenn ein Clown in einen Palast einzieht, wird er kein König.                               Der Palast wird zum Zirkus.“

  1. „Geburt Europas aus dem Geiste Amerikas“

„Die Lehren aus dem Kosovo“ ziehend, schreibt Ulrich Menzel 2002 ernüchternd: „Es ist deutlich geworden, wie schmal der Grat ist, auf dem man sich bewegt, wenn man sich auf den gerechten Krieg einlässt. Auf der einen Seite des Grates lauert die Gefahr, die jedem idealistischen Missionarismus inharent ist: dass eine an sich gute Absicht zu einem schlechten Ergebnis führen kann … Auf der anderen Seite des Grates lauern die realistischen Sachzwänge, die dazu führen, dass Bündnisverpflichtungen, militärische Erfordernisse, die öffentliche Meinung und innenpolitische Kalküle wichtiger werden als der eigentlich idealistische Anlass.“1 Daran hat sich nichts seit dem Kosovo-Krieg geändert. Der Ukrainekonflikt zeigt uns, dass wir „die Lehren aus dem Kosovo“ weder verstanden noch zur Kenntnis genommen haben. Die Moralisten von gestern bleiben Moraliste

„Die Lehren aus dem Kosovo“ ziehend, schreibt Ulrich Menzel 2002 ernüchternd: „Es ist deutlich geworden, wie schmal der Grat ist, auf dem man sich bewegt, wenn man sich auf den gerechten Krieg einlässt. Auf der einen Seite des Grates lauert die Gefahr, die jedem idealistischen Missionarismus inharent ist: dass eine an sich gute Absicht zu einem schlechten Ergebnis führen kann … Auf der anderen Seite des Grates lauern die realistischen Sachzwänge, die dazu führen, dass Bündnisverpflichtungen, militärische Erfordernisse, die öffentliche Meinung und innenpolitische Kalküle wichtiger werden als der eigentlich idealistische Anlass.“1

Daran hat sich nichts seit dem Kosovo-Krieg geändert. Der Ukrainekonflikt zeigt uns, dass wir „die Lehren aus dem Kosovo“ weder verstanden noch zur Kenntnis genommen haben. Die Moralisten von gestern bleiben Moralisten von heute. Die Bündnisverpflichtungen von gestern sind die Bündnisverpflichtungen von heute. Heute wie gestern schwanken wir zwischen moralischem Rigorismus und realpolitischem Opportunismus.

Schlimmer noch: Vor dem Hintergrund des blutig ausgetragenen Konflikts und der von den Nato-Staaten tatkräftig unterstützten Kriegshandlungen können wir feststellen, dass der Grat, auf dem wir uns bewegen, noch schmaler geworden ist. Im Vergleich zum Kosovo-Krieg haben wir es allerdings nicht mehr mit einem wehrlosen Gegner zu tun, der den Nato-Luftangriffen nichts entgegensetzen konnte und ihnen schutz- und wehrlos ausgeliefert ist. Heute haben wir es mit einem mächtigen geopolitischen Rivalen zu tun, dem man kein Friedensdiktat erzwingen und der den Nato-Staaten auf ukrainischem Boden auch eine Niederlage zufügen kann.

Da kommt man weder mit moralischem Rigorismus noch mit Verunglimpfung noch mit Schimpftiraden noch mit dem Verweis auf Art. 5 des Nato-Vertrags weiter. Hinzu kommt auch die Fragwürdigkeit unserer eigenen moralischen Selbstüberhöhung. In Anbetracht der eigenen Kriegsverbrechen der vergangenen zwei Jahrzehnte haben wir nicht nur jedes Recht auf eine moralische Empörung verwirkt, sondern müssen auch von neuem lernen, unser eigenes Handeln und die Reaktion darauf seitens der Außenwelt adäquat beurteilen zu können.

Stets versuchen wir zudem selbstgerecht die eigene Mitverantwortung für den Kriegsausbruch in der Ukraine von sich zu weisen, Russlands Ukraineinvasion als „unprovoziert“ zu verklären und allein den „ewigen“ geopolitischen Rivalen dafür verantwortlich zu machen, wohl wissend, dass auch wir Mitschuld daran tragen. Das Unvermögen und/oder der Unwille, die eigene Mitverantwortung einzugestehen, hat sich zu einem gravierenden, ja weltfriedensgefährdenden Hindernis entwickelt. Das Ergebnis des von den gegenseitigen Schuldzuweisungen begleitenden Unvermögens ist eine immer schneller und immer weiterdrehende Eskalationsspirale, die keine Chance auf eine Befriedung des Konflikts hat.

In einem ideologischen Korsett steckend, sehen wir gar nicht ein, dass es womöglich einen dritten Weg zwischen Moralismus und Opportunismus – den Weg eines geopolitischen Realismus – gibt. Aber genau dieser Realismus ist uns versperrt. Zu wenig ist Europa ein Subjekt der Geopolitik und zu sehr ist es von der US-Geostrategie abhängig.

Europa befindet sich in einem unauflösbaren Dilemma: Zum einen ist es sicherheitspolitisch nach wie vor von den USA als der dominierenden europäischen Militär- und Ordnungsmacht abhängig und hat geopolitisch nur einen geringen Handlungs- und Entscheidungsspielraum. Diese geo- und sicherheitspolitische Abhängigkeit rächt sich heute im Ukrainekonflikt. Sie zeigt, wie wenig die EU-Europäer ihre eigenen Akzente setzen können und sind in ihren Entscheidungen auf Gedeih und Verderb der US-Geopolitik ausgeliefert.

Zum anderen ist Europa im Gegensatz zu den Zeiten des „Kalten Krieges“ nicht mehr das einzige „>Gravitationszentrum< der Weltpolitik“ (Martin Geiling),2 auch wenn dieses Gravitationszentrum schon damals zum Objekt der Macht- und Interessenpolitik der Supermächte herabsank. Heute hat sich die geopolitische Bedeutung Europas für die USA insofern depraviert, als sich das Gravitationszentrum der Weltpolitik teilweise auch in Richtung des Indopazifiks verschoben hat.

Es ist eine merkwürdige welt- und geopolitische Konstellation zu beobachten, in der zwei Gravitationszentren der Weltpolitik entstanden sind: Europa und die Indopazifik-Region. In dieser Machtkonstellation hat Europa zugleich an Bedeutung gewonnen und verloren. Das liegt in erster Linie am geopolitischen und geoökonomischen Machtschwund des US-Hegemonen, was Europa für die US-Geopolitik zwar noch bedeutsamer macht, woraus es aber bis heute keinen Surplus erzielen konnte.

Denn im innerwestlichen Machtverhältnis bedeutet diese neue Entwicklung noch lange nicht ein EU-Machtzuwachs. Ganz im Gegenteil: Wie der Ukrainekonflikt zeigt, treten die USA sicherheitspolitisch als die alles bestimmende Ordnungsmacht auf, wohingegen die EU-Länder einen bedingungslosen Tribut zollen und sich wie tributpflichtige US-Vasalen verhalten.

Die geopolitische Grundmaxime, dass nämlich eine Außenpolitik, die nicht militärisch abgefedert ist, immer auch die Gefahr des folgenschweren Scheiterns in sich birgt, hat die EU nie zur Maxime ihrer außenpolitischen Eigenständigkeit gemacht, glaubte sie doch stets sich immer auf ihren US-Schutzpatron verlassen zu können. Das hat sie aber im Umkehrschluss von den US-Sicherheits- und Machtinteressen vollkommen abhängig gemacht.

Als Führungsmacht spielt Europa darum längst keine Rolle mehr, will man darunter „eine solche Macht“ verstanden wissen, „deren globale Ordnungsfunktion nur von einer gleichwertigen Gegenmacht prinzipiell beschränkt bzw. kontrolliert werden kann.“3

Der strukturelle Wandel der Weltordnung nach dem Ende des „Kalten Krieges“, die zur Entstehung der Unipolarität an Stelle der Bipolarität geführt hat, hat Europa zwar mehr Wohlstand, aber eben nicht mehr Macht gebracht. Dies zu betonen erscheint deshalb wichtig, weil die EU- und Nato-Osterweiterung den Eindruck eines geopolitischen Machtzuwachs Europas vortäuschte.

Dem ist aber nicht so. Das infolge der Auflösung des Sowjetblocks entstandene europäische Machtvakuum wurde zwar mit einer Expansionspolitik des transatlantischen Machtkartells peu à peu gefüllt. Die Neuordnung Europas hat aber – wie der Ukrainekonflikt überaus deutlich gemacht hat – weder mehr Sicherheit geschaffen noch eine neue Machtbalance etablieren können.

Ganz im Gegenteil: Es entstand eine hegemoniale Dysbalance4, welche einen weiteren Machtzuwachs den USA bescherte, und zwar nicht nur zu Lasten Russlands, sondern auch zu Lasten der EU. Es entstand eine merkwürdige Mächtekonstellation, in deren Zentrum eine außereuropäische Macht die Geschicke Europas bestimmt und so ein jedwedes innereuropäisches Gleichgewichtsstreben – sollte es erstrebenswert sein – per definitionem unmöglich macht.

Denn eine außereuropäische Hegemonialmacht hat naturgemäß auch die einem jeden Gleichgewicht zuwiderlaufenden außereuropäischen Machtinteressen. Diese Machtkonstellation ermöglichte den USA einen geo- und sicherheitspolitischen Machtzuwachs auf Kosten der Machtschwächung sowohl der EU als auch der einzelnen EU-Länder innerhalb Europas. Zwei Faktoren haben diese Entwicklung im Wesentlichen begünstigt: Zum einen fand eine enorme Einflusssteigerung der transatlantischen zu Lasten der nationalstaatlichen Machteliten statt und zum anderen wurde von den USA nach dem Motto: „divide et impera“ einen Keil zwischen dem „alten Europa“ und den osteuropäischen Neuankömmlingen getrieben.

Diese Entwicklung hat sich bereits mit Kriegsausbruch im Irak 2003 abgezeichnet, als der US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld in einer Pressekonferenz am 22. Januar 2003 abfällig vom „alten Europa“ („Old Europe“) sprach. Gemeint waren Frankreich und Deutschland, die im Gegensatz zur sog. „Koalition der Willigen“, zu welcher u. a. auch die ehem. Ostblockstaaten und neuen Nato-Mitglieder gehörten, mit der US-Kriegspolitik gegen den Irak nicht einverstanden waren.

Diese beiden latent schwellenden Konfliktebenen: die innerwestliche (Transatlantiker versus nationalstaatliche Machteliten) und die innereuropäische (das alte versus das neue Europa) stehen im direkten Zusammenhang zueinander, haben die geopolitische Machtstellung Europas konterkariert und machen die EU-Europäer insbesondere in den Augen der geopolitischen Rivalen Russland und China zum Objekt der US-Geopolitik.

Hinzu kommt ein ideologisches Fundament, worauf das gesamte Machtgebäude Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beruht und Andreas Bracher als die „Geburt Europas aus dem Geiste Amerikas“5 charakterisierte. Der Missionar dieses „Geistes Amerikas“ war der Franzose Jean Monnet (1888-1979), von dem Charles de Gaulle einmal sagte: „Jean Monnet ist kein Franzose, der durch irgendetwas an die Amerikaner gebunden ist; er ist ein großer Amerikaner.“6

Und Helmut Schmidt bezeichnete Monnet überschwänglich „als Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen“, der „nie Regierungschef oder auch nur Minister“ war und dessen „einziger Auftraggeber … sein Gewissen, … sein Sinn für das politisch Notwendige und Heilsame, … sein hochentwickeltes … Verantwortungsgefühl als Weltbürger (war). Monnet ist der seltene … Fall eines Politikers, der … ohne Macht auskam.“7

Man muss freilich etwas Wasser in den Wein gießen. Monnet war keineswegs machtlos. Hinter ihm stand in Wirklichkeit eine geballte Macht Amerikas und jene Gruppen, die am Schalthebel der Macht saßen und die US-Außen- bzw. Europapolitik bestimmten. Das Ziel der US-Europapolitik nach dem Zweiten Weltkrieg war die „Schaffung jenes Gebildes …, das man heute als den >Westen< bezeichnet.“8

Als Franzose handelte Monnet im Sinne der „Pax Americana“ und war – so gesehen – „ein ideales Instrument“ der US-amerikanischen Herrschaftsausübung und „umso geeigneter, je mehr er jene Ideen aus sich selbst heraus produzierte, für die man gewissermaßen den Rahmen geschaffen hatte, die zwingen scheinen konnten in einer entsprechend präparierten Situation.“9

Der ideologische Rahmen „aus dem Geiste Amerikas“ gilt heute immer noch uneingeschränkt und in Anbetracht der vermeintlichen „russischen Gefahr“10 umso mehr. Der „Geist Amerikas“ ist allerdings sehr subtil, unsichtbar und bleibt stets im Verborgenen. Er agiert mehr mit Überredungskunst, suggestiv und mit überfallsartigem Stiften von Verwirrung, Intrigen und Bluffs denn mit offenen zu Tage getretenem Druck, auch wenn er wie in der jüngsten Zeit mit einer unverfrorenen Machtdemonstration und/oder einer Erpressung hinter den Machtkulissen zunehmend aktiv wird.

Die Betroffenen einer solchen US-amerikanischen Machtpolitik und Machttaktik „spüren eigentlich nur, dass etwas passiert ist, dass sich die Grundlagen ihrer Existenz verschoben haben, aber sie verstehen nie ganz, wie und warum.“11

So auch im hier und heute tobenden Ukrainekrieg. Die EU-Europäer verstehen ungeachtet des nun schon seit sechzehn Monaten andauernden Ukrainekonflikts offenbar immer noch nicht ganz, dass sie sich von den USA immer tiefer in den Konflikt ziehen lassen und wie sehr dadurch die geo- und sicherheitspolitische Grundlage ihrer Existenz erodiert hat.

Bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine wiegte sich Europa in der trügerischen Sicherheit, dass die USA es nicht nur beschützen, sondern auch eine gesamteuropäische Sicherheit garantieren bzw. gewährleisten können. Heute wissen wir aber, dass die gesamteuropäische Sicherheit von der US-Ordnungsmacht nicht garantiert werden kann.

Ganz im Gegenteil: Der US-Hegemon brachte seit dem Ende des „Kalten Krieges“ nicht mehr Sicherheit, sondern mehr Gefährdung der Sicherheit als Folge seiner Expansionspolitik.12 Hinzu kommen die tektonischen Machtverschiebungen im globalen Raum, in dem sich die US-Machtinteressen nicht allein auf Europa als einem und bei weitem nicht mehr entscheidenden „Gravitationszentrum der Weltpolitik“ beschränken können.

Das bedeutet aber, dass das, was im Interesse der US-Geostrategie liegt, nicht immer mit den EU-Sicherheitsinteressen übereinstimmt. Aber genau diese Binsenwahrheit blenden die EU-Machteliten aus, gehen sie doch irrtümlich immer noch von einer vermeintlich gemeinsamen Weltmission des „Westens“ aus. Zu sehr lassen sie sich immer noch vom Geist des „Kalten Krieges“ leiten.13 Zu sehr glauben sie sicherheitspolitisch immer noch vom US-Nuklearschirm abhängig zu sein und machen sich dadurch mehr vom Freund als vom Feind erpressbar, da sie de facto weder eine eigenständige Chinapolitik noch eine selbständige Russlandpolitik praktizieren können.

Und so lassen sich die EU-Europäer in einen Konflikt ziehen, der am meisten der US-Geostrategie und am wenigsten den EU-Sicherheitsinteressen nützt, ohne das begriffen zu haben.

Aus amerikanischer Sicht war es seit langem ein großer Erfolg der US-Geopolitik, der es gelungen ist, nicht nur einen Keil zwischen Europa und Russland erfolgreich zu treiben, nicht nur eine geopolitische und ideologische Einheitsfront gegen Russland wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ wiederherzustellen und nicht nur einen Energiepreisschock in Europa auszulösen, sondern Russland auch mit den schwersten monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen aller Zeiten zu belegen und dem geopolitischen Rivalen große Schaden zuzufügen.

Dass nicht nur die Russen, sondern auch die EU-Europäer hier von der Biden-Administration vorgeführt wurden, haben die letzteren erst bemerkt, als es zu spät war. Zu tief waren sie bereits in den Morast des Ukrainekonflikts hineingezogen und zu riskant wäre es aus dem Morast ohne Gesichtsverlust auszusteigen. Dieser Konflikt schadet heutzutage geoökonomisch und geostrategisch mehr der EU als Russland.

Wie sich im Verlauf des Konflikts zeigt, haben der westliche Sanktionskrieg gegen Russland und die massive militärische und finanzielle Unterstützung der Ukraine seitens der von den USA gesteuerten Anti-Russland-Allianz die zentrifugalen Kräfte des sog. „Globalen Südens“ und des gesamten Nichtwestens freigesetzt, welche die westlich dominierte Weltordnung unter sich begraben kann. Geostrategisch gesehen, kann sich die westliche Einheitsfront gegen Russland als gigantischer Flop herausstellen. Sicherheitspolitisch befinden sich die EU-Europäer wiederum auf dem Holzweg, wenn sie glauben, die europäische Friedens- und Sicherheitsordnung allein mit den USA und ohne Russland gestalten zu können.

  1. Amerikas Weltmission und Europas Zukunft

Spätestens nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges befanden sich die USA auf ihrer Weltmission, deren Stafette sie vom British Empire übernommen haben. „Die Engländer“ – sinnierte Johan Rudolf Kjellén (der Erfinder des Begriffs Geopolitik) einst – „sind ein Herrenvolk, ausgeprägter als irgendein anderes seit den Tagen der alten Römer, und für ihren Willen zur Macht existieren keine anderen Grenzen als die unseres Planeten.“14

Die markanteste Persönlichkeit dieses „Herrenvolkes“, die das Zeitalter des britischen Kolonialismus und Imperialismus wie kein anderer verkörperte, war Cecil Rhodes (1853-1902). Rhodes, der im südlichen Afrika mit Gold und Diamanten ein riesiges Vermögen erwarb, träumte – inspiriert vom einflussreichsten Sozialreformer des 19. Jahrhunderts, John Ruskin (1819-1900) – über „die Zukunft des britischen Weltreichs und dessen Weltmission.“15

Ruskin hatte das Viktorianische England als „die höchste bis dahin erreichte Zivilisationsstufe der Menschheit verstanden“ und war der Überzeugung, dass entweder die Ausbreitung dieser Zivilisation über die ganze Erde oder deren Niedergang und Überwältigung durch niedrigere Zivilisationsformen stattfindet.

Von Ruskins Ideen und Visionen inspiriert, gründete Rhodes 1891 eine „Geheimgesellschaft, die sich der Ausbreitung des britischen Weltreiches zur Aufgabe setzen sollte.“ Nach seinem Tod 1902 wurde Rhodes´ gewaltiges Vermögen in eine Stiftung (Rhodes Trust) überführt, deren wichtigster Verwalter Lord Alfred Milner (1854-1925) wurde. Die Aufgabe des Trusts bestand in der Finanzierung der Rhodes-Stipendien vor allem aus den englischsprechenden Ländern, die dazu dienen sollte, eine Art Weltelite auszubilden.16

Heute hat sich diese englischsprechende Weltelite im Zeitalter der US-Hegemonie globalisiert und wird vom US-Hegemon domestiziert. Das Elitedenken der englischen Oberschicht wurde „amerikanisiert“ und in den „amerikanischen Exzeptionalismus“ transformiert, der in Verbindung mit gigantischen monetären und militärischen Ressourcen dazu benutzt wurden, die US-Hegemonie zu legitimieren und das US-Sendungsbewusstsein zu rechtfertigen. „Die Sache der ganzen Menschheit“ – verkündete John F. Kennedy 1960 – sei „die Sache Amerikas … Wir sind für die Aufrechterhaltung der Freiheit in der ganzen Welt verantwortlich.“17

Dieser globale, hegemoniale Führungsanspruch Amerikas wird als eine „unwiderlegbare Wahrheit“ in der „National Security Strategy“ 2015 unterstrichen: „Jede erfolgreiche Strategie, die dafür sorgt, die Sicherheit des amerikanischen Volkes und unserer nationalen Sicherheitsinteressen sicherzustellen, muss mit einer unwiderlegbaren Wahrheit beginnen – Amerika muss führen. Eine starke und nachhaltige amerikanische Führung ist unabdingbar für eine regelbasierte Weltordnung, die die globale Sicherheit und den Wohlstand ebenso fördert wie die Menschenwürde und Menschenrechte aller Völker. Die Frage ist niemals, ob Amerika führen sollte, sondern wie wir führen.“

Amerikas Weltmission bedeute die Führung der ganzen Menschheit. Dieser sich selbstlegitimierende Exzeptionalismus hat einen unmittelbaren Einfluss auf die geopolitischen Aktivitäten des US-Hegemonen und verleitet ihn zu Interventionen, die oft sehr viel Unheil anrichten und die Autorität der USA weltweit untergraben.

Auch deswegen verliert die US-Hegemonie immer mehr an Einfluss. Zu oft haben die USA nach dem Ende des „Kalten Krieges“ ihre unangefochtene Machtstellung in der Welt missbraucht und zu sehr haben sie immer wieder versucht, ihren Machtwillen ohne Rücksicht auf die Interessen der anderen Völker und Länder durchzusetzen. Es entstand eine gefährliche Illusion der Allmacht und Straflosigkeit, die zu einer Militarisierung der US-Außenpolitik nach dem Ende des „Kalten Krieges“ führte.

Bereits 1997 wurde u. a. ein „Project for the New American Century“ (PNAC) gegründet, das den Kampf um „Amerikas globale Führerschaft“ postulierte. Am 26. Januar 1998 forderte die Projektgruppe in einem Brief an „Mr. William J. Clinton“ den US-Präsidenten zum Sturz Saddam Husseins und „zu einer radikalen Umkehr im Umgang mit der Uno“ auf.18

Wörtlich ist im Papier zu lesen: „Das bedeutet, in kurzer Frist zur Durchführung einer militärischen Aktion bereit zu sein, da die Diplomatie offenkundig versagt. Langfristig bedeutet es, Saddam Hussein und sein Regime zu entmachten. Wir glauben, dass die Vereinigten Staaten unter den bereits bestehenden Uno-Resolutionen das Recht haben, die nötigen Schritte einschließlich militärischer zu unternehmen, um unsere vitalen Interessen am Golf zu sichern. In keinem Fall darf sich die amerikanische Politik länger durch das fehlgeleitete Beharren des Uno-Sicherheitsrats auf Einstimmigkeit lähmen lassen.“19

Zwar ließ Saddam Husseins Sturz noch gut fünf Jahre auf sich warten. Die radikale Umkehr im Umgang mit der Uno wurde freilich bereits 1999 vollzogen, als die USA einen völkerrechtwidrigen Angriffskrieg gegen die Volksrepublik Jugoslawien unter Ignorierung der Zustimmung des Weltsicherheitsrates vom Zaun gebrochen haben.

Erst als George W. Bush die US-Präsidentschaft übernahm, gelangten die prominentesten PNAC-Mitglieder (William Kristol, Richard Cheney, Donald Rumsfeld, Paul Wolfowitz, Richard Perle) an die Macht und konnten ihren Traum von Saddams Sturz verwirklichen.

Getreu dieser Allmachtallüren verkündete die US-Außenministerin Madeleine Albright (1997-2001) auf der Höhe der US-Hegemonialmacht bereits 1998 in Cleveland: „Wenn wir Gewalt anwenden, dann deswegen, weil wir Amerikaner sind! Wir sind die unverzichtbare Nation. Wir haben Größe, und wir blicken weiter in die Zukunft.“

Die Folge dieses Hochmuts war im darauffolgenden Vierteljahrhundert eine allmähliche Schwächung statt Stärkung der US-Hegemonie. Der Aufstieg des Neocons zu Ideengebern und Entscheidern in der US-Außenpolitik hat diese Entwicklung mit der Irakinvasion im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eher beschleunigt als ausgebremst.

Am 1. Mai 2003 hielt George W. Bush eine Rede auf dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln, indem er feierlich ein Ende aller „großen Militäroperationen im Irak“ verkündete: „In der Schlacht um den Irak haben die Vereinigten Staaten und unsere Alliierten obsiegt.“ Im Hintergrund der im Fernsehen übertragenen Rede war die Kommandobrücke des Flugzeugträgers zu sehen. Dort wehte ein Banner in den Farben der US-Flagge, darauf der Schriftzug: „Mission accomplished“ – Mission vollendet.

Die Kampfhandlungen im Irak sollten allerdings auch nach Bushs Rede weitergehen und der weitaus größte Teil der Todesopfer entfiel auf die Zeit nach dem 1. Mai 2003. Ausgerechnet diese „Mission accomplished“ leitete aber vom Zeitgeist noch unbemerkt den Anfang vom Ende der Weltmission Amerikas ein.20

Heute stehen wir vor dem Scheitern dessen, was nach dem Ende des „Kalten Krieges“ und dem Untergang der bipolaren Weltordnung so hoffnungsvoll und vielversprechend angefangen hat. Und dafür trägt nicht zuletzt die US-Außenpolitik der vergangenen dreißig Jahre mit ihren zahlreichen Interventionen und Invasionen, welche nicht nur viel Elend und Zerstörung in den angegriffenen Ländern verursacht, sondern auch gut acht Billionen Dollar verbrannt hat, die Hautverantwortung. Allmählich gestehen selbst manche einflussreichen Repräsentanten des außenpolitischen US- Establishments ein, dass die USA eine große Gefahr für die ganze Welt darstellen.

Neulich hat der scheidende langjährige Präsident des Council on Foreign Relations und Vordenker der US-Außenpolitik Richard N. Haass (geb. 1951) der Zeitung „The New York Times“ ein am 1. Juli 2023 stattgefundenes Interview unter der bezeichnenden Überschrift „To Foreign Policy Veteran, the Real Danger Is at Home“ gegeben.

In diesem Interview gab er unumwunden zu, dass „die derzeit größte Gefahr für die Sicherheit der Welt“ und „die Bedrohung, die ihn den Schlaf kostet,“ die USA selbst seien (vgl. „The most serious danger to the security of the world right now? The threat that costs him sleep? The United States itself“).

Zwar bezog Haass seine Äußerung auf die US-Innenpolitik. Die US-Außenpolitik hat freilich in den USA immer auch einen innenpolitischen Hintergrund. „Unsere innenpolitische Situation ist nicht nur eine, die andere nicht nachahmen wollen“, sagte Haass.  „Aber ich denke auch, dass es zu einem Grad an Unvorhersehbarkeit und einem Mangel an Zuverlässigkeit geführt hat, der wirklich giftig ist. Für die Fähigkeit Amerikas, in der Welt erfolgreich zu agieren, meine ich, ist es für unsere Freunde sehr schwierig, sich auf uns zu verlassen.“

Und so fragt er am Ende des Interviews verunsichert: „Ist die Biden-Regierung eine Rückkehr zu dem Amerika, das ich für selbstverständlich gehalten habe, und wird Trump ein historischer Ausrutscher sein? Oder ist Biden die Ausnahme und sind Trump und der Trumpismus das neue Amerika?“ (Is the Biden administration a return to the America I took for granted and Trump will be a historical blip? Or is Biden the exception and Trump and Trumpism are the new America?).

Diese Frage, wo die USA heute stehen, richtet sich zugleich auch an uns Europäer. Denn auch wir müssen uns die Frage gefallen lassen: Wo steht Europa in der veränderten Welt, in der Amerikas Weltmission: „die Führerin der ganzen Menschheit“ zu sein, nicht länger aufrechtzuerhalten sei? Mit der Beantwortung dieser Frage steht und fällt die Zukunft Europas!

Anmerkungen
1. Menzel, U., Die Lehren aus dem Kosovo (2002), in: ders., Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays. Suhrkamp 2004, 264-267 (264).
2. Geiling, M., Außenpolitik und Nuklearstrategie. Eine Analyse des konzeptionellen Wandels der amerikanischen Sicherheitspolitik gegenüber der Sowjetunion (1945-1963). Köln Wien 1975, 6.
3. Geiling (wie Anm. 2), 6 FN 21.
4. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Bracher, A., Europa im amerikanischen Weltsystem. Bruchstücke zu einer ungeschriebenen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Basel 2001, 85.
6. Zitiert nach Bracher (wie Anm. 5), 88.
7. Schmidt, H., Vorwort, in: Jean Monnet, Erinnerungen eines Europäers. München 1978, 7-15 (7).
8. Bracher (wie Anm. 5), 90.
9. Bracher (wie Anm. 5), 89.
10. Silnizki, M., Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
11. Bracher (wie Anm. 5), 90.
12. Näheres dazu Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de; ders., Zwischen Dilettantismus und Hegemonismus. Außenpolitische Fehlkalkulationen: gestern und heute. 3. Juli 2023, www.ontopraxiologie.de.
13. Vgl. Silnizki, M., Gefangen im Gehäuse des „Kalten Krieges“. Russland und die europäische Sicherheitsordnung. 23. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
14. Kjellén, R., Die Großmächte der Gegenwart. 5. Aufl. Leipzig u. Berlin 1915, 96.
15. Bracher (wie Anm. 5), 23.
16. Vgl. Bracher (wie Anm. 5), 24.
17. Zitiert nach Horowitz, D., Kalter Krieg. Berlin 1976, 11.
18. Vgl. Bölsche, J., Die Macht der Märchen, in: Der Spiegel, 8.12.2003.
19. Zitiert nach Bölsche (wie Anm. 18).
20. Näheres dazu Silnizki, M., Die Bekenntnisse eines Neocons. Von der „dangerous naiveté“ in der US-Außenpolitik. 21. März 2023, www.ontopraxiologie.de.

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