Vom Irrweg der Eindämmungsstrategie Russlands
Übersicht
1. Neue Eindämmungsstrategie Russlands?
(a) Kennans „Vision der Eindämmung“ und die Gegenwart
(b) Trozkismus und die US-Außenpolitik
2. „Die Idee der Zurückhaltung“ (the idea of restraint)
3. Die Deeskalationspolitik
Anmerkungen
„Sprecht sanft, tragt immer einen großen Knüppel bei Euch und
ihr werdet es weit bringen.“
(Theodore Roosevelt, 2. April 1903)1
1. Neue Eindämmungsstrategie Russlands?
(a) Kennans „Vision der Eindämmung“ und die Gegenwart
Auf der Suche nach einer „langfristigen Strategie“ (a long-term strategy) im Umgang mit Russland holt das außenpolitische US-Establishment aus der Mottenkiste der Geschichte erneut die Eindämmungsstrategie des „Kalten Krieges“ und glaubt damit in den glorreichen Schlachten der Vergangenheit die Zukunft entdecken zu können, um die USA zur alten Größe zu verhelfen.
Die Vergangenheit lässt sich aber nicht ohne weiteres in die Zukunft projizieren, da die Welt der Gegenwart mit den Zeiten des „Kalten Krieges“ kaum etwas zu tun hat. Dessen ungeachtet empfahlen zuletzt gleich vier Autoren Max Bergmann, Michael Kimmage, Jeffrey Mankoff und Maria Snegovaya in einer gemeinsamen, in Foreign Affairs am 6. März veröffentlichten Studie „America’s New Twilight Struggle With Russia“ (Amerikas neuer Zwielicht-Kampf mit Russland) Washington die Eindämmungsstrategie wiederzubeleben, um sich in den geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen der Gegenwart zu behaupten.
Dieser Rekurs auf die Eindämmungsstrategie des „Kalten Krieges“ zeigt, wie schnell das US-Establishment die Geschichte des „Kalten Krieges“ vergessen hat und wie sehr es verlernt hat, strategisch zu denken, auch wenn die Autoren der Studie betonen, dass „neue Zeiten ein neues Denken erfordern“ (New times call for new thinking). Was für ein neues Denken propagieren sie nun? Was versprechen sie sich von der Reanimierung der Eindämmungspolitik? Und warum soll Russland überhaupt eingedämmt werden?
Die Studie verweist auf den Erfinder der Eindämmungspolitik, George F. Kennan, der diese in seinem berühmten „langen Telegramm“ mit 5500 Worten (Drahtbericht aus Moskau vom 22. Februar 1946) und seinem aufsehenerregenden Aufsatz des Mr. „X“ in Foreign Affairs (Juli 1947) formulierte.
Darin definierte er laut der Studie das Containment als eine Strategie, die durch „geschickte und wachsame Anwendung von Gegengewalt an einer Reihe von sich ständig verändernden geografischen und politischen Punkten“ verstärkt wurde. Das Ziel war, so die Autoren, „einen direkten Konflikt mit der Sowjetunion zu vermeiden und gleichzeitig die Ausbreitung der sowjetischen Macht zu verhindern.“
Dies vorausgeschickt, formulieren sie „eine neue Eindämmungsstrategie“, welche „die Neuartigkeit des gegenwärtigen Augenblicks Rechnung tragen“ müsse (A new containment strategy must account for the novelty of the present moment). Worin diese „Neuartigkeit“ (novelty) besteht, darauf gehen sie freilich nicht ein. Vielmehr fordern sie Washington auf, sich mehr auf die US-Verbündeten zu stützen, als ihre Vorgänger es im 20. Jahrhundert getan haben.
Diese „neue Eindämmungsstrategie“ müsse „auf lange Sicht aufrechterhalten werden – eine Aufgabe, die ohne den parteiübergreifenden Konsens, der den Kampf gegen den Kommunismus im Kalten Krieg kennzeichnete, schwieriger sein wird“. Kennans „Vision der Eindämmung“ (vision of containment) konzentrierte sich in erster Linie auf Europa. Heute werden das postsowjetische Eurasien und der Rest der Welt im Mittelpunkt stehen.
Die Formulierungen der Studie verraten nicht nur die expansionistische Tendenz ihrer Überlegungen, sondern auch die innenpolitische Intention der Autoren. Es geht ihnen nicht so sehr um Kennans „Vision der Eindämmung“ als vielmehr um deren parteipolitische Instrumentalisierung zwecks Durchsetzung der von den US-Republikanern im Kongress blockierten Finanzierung des Ukrainekrieges. Deswegen trommeln sie für einen „parteiübergreifenden Konsens“ zwischen den US-Republikanern und US-Demokraten zur Bewilligung der zusätzlichen Kriegsfinanzierung.
Das hat aber mit der „vision of containment“ nicht im Geringsten etwas zu tun. Der „Kalte Krieg“ und die unipolare Weltordnung der Gegenwart sind zwei unterschiedlichen Epochen der europäischen und Weltgeschichte. Man kann nicht die Strategien aus einer Epoche in eine ganz andere mechanisch übertragen und nahtlos in das eigene Zeitalter integrieren.
Der „Kalte Krieg“ war „die Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) und nicht das Zeitalter der geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen. In der bipolaren Weltordnung standen sich zwei ideologisch feindselig gegeneinanderstehende und bis auf Zähne bewaffneten Militärblöcke gegenüber. Die Machtstrukturen waren nach innen wie nach außen zementiert und festgeschnürt.
Heute leben wir in einer Übergangszeit, in der die etablierten Institutionen und Machtstrukturen erodieren, in Frage gestellt werden und neue Machtzentren und Parallelstrukturen entstehen. Und nun glauben unsere Autoren einer neuen geopolitischen Realität mit einer alten Strategie – der Eindämmungsstrategie – zu begegnen und merken nicht, dass wir uns neben den zahlreichen militärischen, handels- und sanktionspolitischen Spannungen und Konfrontationen schon längst „in einem kalten Technologie-Krieg“ (Moritz Schularick)2 befinden.
Sie verkennen dabei auch Kennans Intentionen der Eindämmungsstrategie. Kennan war ein Ideologe und Idealist, aber kein Geopolitiker und Geostratege. Sein ganzes Leben war er ein von Entsetzen und Abscheu ergriffener Antistalinist, hat er doch selber als Diplomat in Moskau (1933-1937) unmittelbar und hautnah den Stalin-Terror erlebt. Als Ideologe des „Kalten Krieges“, der auf persönliche Veranlassung Stalins zur persona non grata erklärt und des Landes verwiesen wurde, hat er das Sowjetsystem sein Leben lang erbittert bekämpft.
Im Zentrum seines Denkens und Wirkens stand in erster Linie eine ideologische Bekämpfung des Sowjetkommunismus, ohne dass er (und nicht nur er) eine geopolitische Tragweite der Konfrontation zwischen Russland und den USA jemals so richtig verstanden hat. Kennan vertrat immer die Auffassung, dass Russland – sollte das kommunistische Regime verschwinden – zu den Ursprüngen „des russischen Liberalismus“ zurückkehren werde, wofür er lebenslang gekämpft hat. Seine jahrzehntelange schriftstellerische Tätigkeit ist der Beweis dafür.
Als Ideologe hat Kennan freilich die geo- und sicherheitspolitische Neuordnung Europas nach dem Ende des Ost-West-Konflikts verkannt. Es ging in den 1990er-Jahren und danach nicht mehr um einen ideologischen Systemwettbewerb der Supermächte, sondern um den Ausbau und die Festigung der Machtstellung der USA als die gesamteuropäische Ordnungsmacht.
Nach dem Wegfall des ideologischen Systemwettbewerbs der bipolaren Weltordnung stellt sich die Frage: Von welcher Eindämmungsstrategie ist heute dann die Rede? Und vor allem: Warum soll Russland überhaupt eingedämmt werden? Diese Frage stellte sich jedenfalls zu Zeiten des „Kalten Krieges“ nicht.
In Zeiten des ideologischen Systemwettbewerbs ging es um nicht mehr und nicht weniger als um eine ideologische Bedrohung der innerstaatlichen, auf das Privateigentum, individueller Selbstbestimmung und politischer Teilhabe der Bürger beruhenden Lebens- und Verfassungsordnung der sog. „freien Welt“.
Diese Bedrohung der inneren Verfassungsgefüge des Westens besteht nicht mehr. Russland muss darum diesbezüglich weder „eingedämmt“ noch befürchtet werden, weil es nicht vorhat, dem Westen seine nichtvorhandene „russische Ideologie“ zu oktroyieren. Warum soll Russland dann „eingedämmt“ werden? Die Autoren schreiben:
„Die Eindämmung wird nicht mehr genau so aussehen wie im 20. Jahrhundert. Die Geografie markiert den wichtigsten Unterschied (Containment will not look exactly as it did in the twentieth century. Geography marks the most important difference). Während die Bruchlinien des Kalten Krieges in Deutschland verliefen, liegen die Brennpunkte des heutigen Konflikts mit Russland in der Ukraine und anderen postsowjetischen Staaten an der westlichen Peripherie Russlands. Armenien, Aserbaidschan, Georgien, Moldawien und die Ukraine dürften alle unterschiedliche Grade der Integration in westliche Institutionen erreichen …
Ohne die krassen ideologischen Gräben des Kalten Krieges werden Länder in anderen Regionen an der Seitenlinie bleiben. Wichtige Regionalmächte wie Indien und Südafrika haben schlechte Erinnerungen an den westlichen Kolonialismus und betrachten die Beschwörung eines moralischen Kampfes durch den Westen als eigennützig und heuchlerisch“ (Without the stark ideological divides of the Cold War, countries in other regions will remain on the sidelines. Important regional powers such as India and South Africa have bad memories of Western colonialism and see the West’s invocation of a moral struggle as self-serving and hypocritical).
Es geht mit anderen Worten um Geopolitik, nicht um Ideologie. Das ist aber keine „Eindämmung“ im Sinne von Kennans Containment. Geht es hier überhaupt um eine „Eindämmung“ Russlands oder vielmehr um etwas ganz anderes, das weit über den Systemwettbewerb der Supermächte der bipolaren Welt hinaus geht?
(b) Trotzkismus und die US-Außenpolitik
In seinem bereits oben erwähnten „langen Telegramm“ vom 22. Februar 1946 forderte Kennan eine Eindämmungspolitik (policy of containment), um Demokratie und westliche Lebensart gegen den Expansionsdrang der marxistisch-leninistische Ideologie zu schützen.
Die „Grundzüge sowjetischen Verhaltens seit Kriegsende“ seien nach seiner Auffassung von der Vorstellung geprägt, dass die „UdSSR … immer noch inmitten feindseliger >kapitalistischer Einkreisung< (lebt), mit der es auf die Dauer keine friedliche Koexistenz geben kann.“
Zur Untermauerung seiner Behauptung zitiert Kennan Stalin, der 1927 vor einer Delegation amerikanischer Arbeiter erklärt haben soll:
„Im weiteren Verlauf der internationalen Revolution werden zwei Zentren von weltweiter Bedeutung entstehen: ein sozialistisches Zentrum, das die zum Sozialismus neigenden Länder an sich zieht, und ein kapitalistisches Zentrum, das die zum Kapitalismus neigenden an sich zieht. Im Kampf dieser beiden Zentren um die Beherrschung der Weltwirtschaft wird das Schicksal des Kapitalismus und des Kommunismus in der ganzen Welt entschieden.“3
Kennan zitiert im Jahr 1946 erstaunlicherweise Stalin aus dem Jahr 1927, als wäre in der Zwischenzeit nichts passiert. Dazwischen lagen weltpolitische Ereignisse und welthistorische Umwälzungen, die die Staatenwelt nach innen wie nach außen dramatisch verändert haben. Es ist daher völlig ausgeschlossen, dass Kennan all das ignorierte.
Die Vermutung liegt vielmehr nahe, dass er eine gezielte Desinformation der Truman-Administration betrieben hat, um die sowjetische Außenpolitik zu diskreditieren und die US-Sowjetpolitik in eine bestimmte Richtung zu lenken. Später wird man sie eine Eindämmungspolitik nennen.
Die von Kennan Stalin unterstellte weltrevolutionäre Rhetorik widersprach freilich schon im Jahr 1927 Stalins Doktrin vom „Sozialismus in einem Land“. Stalins parteiinterner Rivale Leo Trotzki hat in Anlehnung an Lenin, der den Erfolg des Sozialismus in Russland von der Weltrevolution abhängig machte, diese sozialistische Weltrevolution propagiert.
Stalin vertrat hingegen bereits im Herbst 1924 erstmals die These, dass der „Sozialismus in einem Land“ aufzubauen wäre und nach dem Erscheinen seines Artikels „Über die Fragen des Leninismus“ (К вопросам ленинизма) im Januar 1926 wurde diese Position zur offiziellen Partei-Doktrin.
Trotzki warnte wiederum in seiner Artikelserie „Kapitalismus oder Sozialismus?“, dass bei einem Weiterbestehen des Kapitalismus in der Welt der „Sozialismus in einem rückständigen Land unmittelbar mit den größten Gefahren konfrontiert wäre“.4 Seiner Meinung nach könne der Sozialismus in Russland „aufgebaut“ werden, wenn die Arbeiterklasse in revolutionären Kämpfen in anderen Ländern die Macht eroberte. Seine Rede vor dem 15. Parteikongress am 1. November 1926 stellte einen Generalangriff auf einen von Stalin propagierten „Sozialismus in einem Land“ dar.
Dass Kennan all das nicht wissen konnte, ist so gut wie ausgeschlossen. Seit den 1920er-Jahren verfolgte er aufmerksam die sowjetische Innen- und Außenpolitik. Er war zu seiner Zeit der beste US-amerikanische Kenner des alten imperialen Russlands und des Sowjetsystems. Dass er Stalin Trotzkis weltrevolutionäre Rhetorik in den Mund gelegt hat, war offenbar beabsichtigt, war er doch von seiner antikommunistischen Agenda und seinem persönlichen ideologischen Feldzug gegen den Stalinismus geradezu besessen.
In Washington wurde Kennans Desinformation jedenfalls wohlwollend und mit großer Zustimmung zur Kenntnis genommen. Die Zeit war „reif“ für einen härteren Gang gegen einen ehem. Verbündeten im Zweiten Weltkrieg.5
Kennan goss Öl ins Feuer, als er in seinem „langen Telegramm“ Stalins Außenpolitik als eine auf die Weltrevolution ausgerichtete missdeutete und damit eine sowjetische Expansions- und Weltherrschaftspolitik suggerierte, die er sodann in vier Punkten zusammenfasste:
- Eine Vergrößerung der „relativen Stärke der UdSSR in der internationalen Gesellschaft“ bei einer gleichzeitigen Verringerung bzw. Schwächung des „Einflusses der kapitalistischen Mächte einzeln oder in ihrer Gesamtheit“.
- Ein Schüren von Konflikten innerhalb des kapitalistischen Lagers. Wenn die kapitalistischen Mächte „sich irgendwann zu einem >imperialistischen< Krieg ausweiten, muss dieser Krieg in den verschiedenen kapitalistischen Ländern in revolutionären Erhebungen umgewandelt werden.“
- „>Demokratisch-fortschrittliche Elemente im Ausland sind zu benutzen, um auf kapitalistische Regierungen in Richtung der sowjetischen Interessen Druck auszuüben.“
- „Sozialistische und sozialdemokratische Führer im Ausland müssen rücksichtslos bekämpft werden.“6
Kennans erweist sich hier mit der Stalin unterstellten Expansions- und Welteroberungspolitik nicht nur als ein vehementer Kämpfer gegen den Sowjetkommunismus stalinistischer Prägung, sondern auch als der Spiritus Rectus der US-amerikanischen Eindämmungspolitik. Es dürfte wohl kein Zufall sein, dass der britische Ex-Premier Winston Churchill bereits elf Tage nach dem Empfang von Kennans „Telegramm“ in Washington am 5. März 1946 seine berühmte Rede am Westminister College in Fulton (Missouri) in Anwesenheit von Truman hielt, in der er die westliche Welt vor dem Vorrücken des Kommunismus in den Ländern Mittel- und Osteuropas und der Errichtung eines „Eisernen Vorhangs“ warnte.
Ein Jahr später verkündete Truman am 12. März 1947 vor dem amerikanischen Kongress seine außenpolitische Doktrin, in der der Grundsatz formuliert wurde, dass Griechenland, der Türkei und allen „freien Völkern“, die von Kommunismus bedroht würden, amerikanische Unterstützung zugesichert werde.
„Die freien Völker der Welt“ – behauptete Truman in seiner Rede – „rechnen auf unsere Unterstützung in ihrem Kampf um die Freiheit. Wenn wir in unserer Führungsrolle zaudern, gefährden wir den Frieden der Welt … Ich bin der Ansicht, dass wir den freien Völkern beistehen müssen, ihr eigenes Geschick auf ihre Weise zu bestimmen. Ich glaube, dass unser Beistand in erster Linie in Form von wirtschaftlicher und finanzieller Hilfe gewährt werden sollte, eine Hilfe, die wesentlich ist für die wirtschaftliche Stabilität und ordnungsgemäße politische Entwicklung.“7
Kennan/Trumans Eindämmungspolitik ist eine ideologische Kampfansage an die Stalin unterstellte Expansionspolitik und den Export „seiner“ sozialistischen Weltrevolution im Namen der „freien Völker der Welt“. All das hat aber mit dem Russland der Gegenwart nicht im Geringsten etwas zu tun.
Heute geht es um die Geopolitik und/oder Geoökonomie, nicht um die Ideologie, um die Geografie, nicht um den ideologischen Machtkampf zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Deswegen sprechen unsere Autoren von der „Eindämmung“ im geografischen Kontext: „Die Eindämmung wird nicht mehr genau so aussehen wie im 20. Jahrhundert. Die Geografie markiert den wichtigsten Unterschied (Containment will not look exactly as it did in the twentieth century. Geography marks the most important difference). Während die Bruchlinien des Kalten Krieges in Deutschland verliefen, liegen die Brennpunkte des heutigen Konflikts mit Russland in der Ukraine und anderen postsowjetischen Staaten an der westlichen Peripherie Russlands.“
Das bedeutet aber keine „Eindämmung“ Russlands, sondern eine Expansionspolitik zwecks Beherrschung und Domestizierung Eurasiens. Wer heute ideologisch/axiologisch und geopolitisch expandiert, sind nicht Russland, sondern die USA. Die US-Eliten sind heute die wahren Trotzkisten unserer Zeit, predigen sie doch wie Trotzki eine Weltrevolution im Sinne einer weltweiten Missionierung der Demokratie und Menschenrechte.
Legt man Kennans vier Punkte umgemünzt auf die US-Russlandpolitik der vergangenen dreißig Jahre zugrunde, so entsprechen sie spiegelbildlich genau der stattgefundenen US-Expansionspolitik seit dem Ende des Ost-West-Konflikts. Dem US-Hegemon ging es in seiner Russland- bzw. Eurasien-Politik bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine um dreierlei: (a) eine allmähliche Verdrängung Russlands aus Europa, (b) Russlands Zurückdrängung in die weiten Steppen Eurasiens und (c) Russlands ökonomische und militärische Marginalisierung. Das geopolitische Ziel der USA war und ist weiterhin die Beherrschung oder zumindest Domestizierung Eurasiens.
Sieht man von einer erfolgreichen Verdrängung Russlands aus Europa ab, so ist die US-Russlandpolitik weitgehend gescheitert. Nach dem Kriegsausbruch in der Ukraine gingen die USA zur Isolierungspolitik Russlands über. Auch diese US-Russlandpolitik ist grandios gescheitert. Die Isolation Russlands ist weit und breit nicht zu sehen.
Russland steht nach wie vor der US-Expansionspolitik im Wege. Das Einzige, was den USA noch übrigbleibt, ist nicht eine Eindämmung Russlands, sondern eine Beseitigung Russlands auf dem Wege zur Beherrschung Eurasiens, was aus heutiger Sicht völlig utopisch erscheint. Zu schwach sind die USA heute, zu stark ist Russland geworden und in einer informellen Allianz mit China sogar unschlagbar.
2. „Die Idee der Zurückhaltung“ (the idea of restraint)
Als Gegenentwurf zur Eindämmungsstrategie schlägt die sog. „Bewegung der Zurückhaltung“ (the restraint movement) eine ganz andere Richtung der US-Außenpolitik vor. Mit Verweis auf prominente Vertreter des Klassischen Realismus in der US-Außenpolitik: Hans Morgenthau, George Kennan, Kenneth Waltz und Walter Lippmann und in Anlehnung an Barry Posens Werk „Restraint: A New Foundation for US Grand Strategy“, das als „ein wichtiger Meilenstein“ (an important milestone) gepriesen wird, übt Stephen M. Walt (Prof. f. intern. Beziehungen an der Harvard University) in seinem Artikel „It’s Not Too Late for Restrained U.S. Foreign Policy“ (Es ist noch nicht zu spät für eine zurückhaltende US-Außenpolitik) für Foreign Policy am 14. März 2024 eine heftige Kritik an der US-Außenpolitik der Biden-Administration.
„Die Rufe nach einer erneuerten globalen Führungsrolle der USA werden immer lauter. Sie irren sich wie eh und je“ (The calls for renewed U.S. global leadership are getting louder. They’re as mistaken as they ever were), formuliert Walt seine Kritik bereits im Untertitel seines Artikels.
„Die Idee der Zurückhaltung“ (the idea of restraint) entstand seiner Meinung nach wegen der „Hybris der 1990er-Jahre“ und als Folge der Kriege im Irak und in Afghanistan. Und heute steht „die Rivalität zwischen den Großmächten“ (great-power rivalry) ganz oben auf der Tagesordnung.
Chinas Macht wachse und sein Wunsch, den Status quo in Asien zu ändern, sei ungebrochen. Russland sei in die Ukraine einmarschiert und habe dort die Oberhand. Die Zusammenarbeit zwischen China, Russland, Iran, Nordkorea und den anderen Ländern habe an Intensität zugenommen. Und die Hybris der 1990er-Jahre möge zwar verschwunden sein; ebenso sei aber auch der Glaube verschwunden, dass die Konflikte zwischen den Großmächten undenkbar seien.
Vor dem Hintergrund einer solch besorgniserregenden Entwicklung müsse die US-Außenpolitik auf Realismus und Zurückhaltung setzen, will sie keine „geopolitisch harte Landung“ erleiden, fordert Walt. Es gehe dabei weder um Pazifismus noch um Isolationismus, rechtfertigt er sich, sondern darum, die Diplomatie an die erste und den Einsatz der Gewalt an die letzte Stelle zu setzen.
„Die Zurückhaltungsbewegung“ (the restraint movement) sei sich nämlich den Grenzen der militärischen Macht der USA bewusst und lehne vehement die Versuche ab, „die liberalen Werte durch einen Regimewechsel und militärische Okkupation“ (liberal values through regime change and military occupation) zu verbreiten, weil sie entweder kostspielig seien oder zu „failed states“ führen.
„Die Verteidiger der Zurückhaltung“ (advocates of restraint) warnen schließlich schon seit langem davor, dass „die überzogenen militärischen Verpflichtungen und die >ewigen Kriege<“ (overstretched military commitments and „forever wars“) die USA schwächen würden.
In Anbetracht all dieser Überlegungen glaubt Walt, dass der Ukrainekrieg möglicherweise verhindert werden könnte, hätte die Biden-Administration in den Monaten vor der russischen Invasion tatsächlich mehr Flexibilität gezeigt, die türkischen und israelischen Vermittlungsbemühungen im Frühjahr 2022 stärker unterstützt oder auf einen Waffenstillstand gedrängt, als die Ukraine im Herbst 2022 die Oberhand hatte.
Und so schließt Walt seinen Artikel mit den Worten ab: Es mache überhaupt keinen Sinn, die Maßnahmen zu verschärfen, die uns dorthin gebracht haben, wo wir heute sind (And doubling down on the policies that got us where we are today makes no sense at all).
Als „Realismus“ verklärt, erweist sich diese sog. „Bewegung der Zurückhaltung“ (the restraint movement) freilich als eine „Bewegung“, die jede geopolitische Realität vermissen lässt, auch wenn Walts Diagnose, dass die Schwächung der globalen Führungsrolle der USA infolge der „ewigen Kriege“ („forever wars“) stattgefunden habe, zutreffend ist.
Die USA haben freilich seit dem Ende des Ost-West-Konflikts eine altbewährte außenpolitische Strategie aufgegeben, nämlich ein Kriegsprofiteur zu sein, ohne selbst verlustreiche Kriege führen zu müssen.
Die von der Clinton-Administration nach dem Ende des „Kalten Krieges“ eingeschlagene US-Außenpolitik, in deren Mittelpunkt die Nato-Osterweiterung und die globale US-Führungsrolle (global primacy) steht, ist heute zudem nicht mehr rückgängig zu machen, will man die unipolare Weltordnung unter der US-Führung und deren geoökonomisches Abschöpfungsmodell aufrechterhalten.8
Dieses Abschöpfungsmodell besteht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und erst recht seit dem Ende des „Kalten Krieges“ in der Abschöpfung des globalen Überschusseinkommens der Weltwirtschaft durch den Dollar dank seiner Weltleitwährungsfunktion. Es ermöglicht bis heute den USA, ihren Wohlstand zu perpetuieren und ihre globale Führungsrolle (noch) aufrechtzuerhalten. Heute ist dieses Abschöpfungsmodell akut gefährdet.
Im Zeitalter der ausgebrochenen Großmächterivalität geht es den USA vor allem um die Rettung des eigenen gefährdeten „Geschäftsmodells“. Es bediente sich im Wesentlichen durch zwei Herrschaftsinstrumente: den Dollar als Weltleitwährung und die militärische US-Übermacht. Eine von der „Bewegung der Zurückhaltung“ geforderte neue US-Außenpolitik kann darum die Gefährdung des US-Abschöpfungsmodells ohne die Sanktionen, Restriktionen, Finanzrepressionen usw. nicht beheben.
Das Abschöpfungsmodell stößt zunehmend an seine Grenzen und funktioniert nicht mehr so reibungslos, wie es in den vergangenen dreißig Jahren funktionierte. Und so verwundert es nicht, wenn das US-Establishment versucht, das eingeschlagene „Geschäftsmodell“ zu seinen Gunsten und zu Lasten des Restes der Welt zu „modernisieren“.
Dass diese „Modernisierung“ den USA gelingen kann, ist mehr als zweifelhaft. Zu sehr ist ihr „Geschäftsmodell“ in einer Abwärtsspirale begriffen und zu sehr ist der geschwächte US-Hegemon der Gefangene seiner eigenen, von Walt zu Recht kritisierten Außen- und Geopolitik geworden, woraus er nicht mehr schadlos herauskommen wird.9
3. Die Deeskalationspolitik
Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung nach einer neuen Eindämmungsstrategie des etablierten außenpolitischen Denkens zwar verständlich, aber nicht zielführend. Nun beteuert die Studie von Max Bergmann, Michael Kimmage, Jeffrey Mankoff und Maria Snegovaya, dass
„eine Eindämmungsstrategie es den USA ermöglichen kann, Russland in Europa abzuschrecken und gleichzeitig mehr Ressourcen für die Abschreckung Chinas in Asien bereitzustellen. Eine US-Eindämmungsstrategie gegenüber Russland würde sich in Asien zusätzlich auszahlen. Russlands unprovozierter Krieg ist ein Sumpf. Washingtons fortgesetzte Unterstützung der Ukraine behindert Russlands militärische Ambitionen und verwässert sein Potenzial, die chinesische Aggression in Zukunft zu unterstützen. …
Diese Situation ähnelt derjenigen, mit der die Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg konfrontiert waren, als die Sowjetmacht in Europa auf dem Vormarsch war. Genau wie während des Kalten Krieges können die Vereinigten Staaten weder einen direkten Konflikt mit einem nuklear bewaffneten Kreml riskieren, noch seine Aggression einfach unkontrolliert lassen. Zwischen diesen Extremen bietet die Eindämmung einen Mittelweg.
Eine Eindämmungsstrategie sollte der Verteidigung der bedrohten Nachbarn Russlands Vorrang einräumen, insbesondere derjenigen, die keinen klaren und unmittelbaren Weg zur Nato-Mitgliedschaft haben. Zu den verwundbarsten Nachbarn Russlands gehören neben der Ukraine Armenien, Georgien und Moldawien, die alle außerhalb des Bündnisses bleiben. Die USA sollten diesen Ländern Ausbildung und Waffen anbieten. Es sollte auch die Widerstandsfähigkeit dieser Staaten gegen russische Bedrohungen in der Grauzone stärken, die von Cyberangriffen bis hin zur Einmischung in Wahlen reichen.“
In einer völligen Verkennung der Natur und Intentionen des ideologischen Systemwettbewerbs des „Kalten Krieges“ und infolge der Ignorierung der geoökonomischen Umwälzungen der Gegenwart schlagen die Autoren diese „neue“ Eindämmungsstrategie vor, die keine ist. Zudem stellen sie unsubstantiierte Behauptungen und Spekulationen auf, die einer Realitätsüberprüfung nicht standhalten.
Vor dem Hintergrund der geopolitischen Umwälzungen, einer ideologiefreien globalisierten Weltwirtschaft und einer Schwächung der geoökonomischen, technologischen und militärischen Vormachtstellung der USA kann es keine Eindämmung Russlands oder Chinas geben.
Russland hat weder die „militärischen Ambitionen“ irgendjemanden anzugreifen noch bedroht es die Nachbarn noch will es die Welt ideologisch erobern noch ähnelt die Situation derjenigen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, als die Sowjetmacht angeblich „in Europa auf dem Vormarsch“ war.
Zu Recht stellte Dmitrij Trenin (wiss. Leiter des Institute of World Military Economics and Strategy der Moskauer Higher School of Economics) unlängst in seinem am 27. Februar 2024 erschienenen Artikel „Как Россия может покончить с дефицитом страха в отношениях с Западом“ (Wie kann Russland die Angstlosigkeit in den Beziehungen mit dem Westen beenden) fest:
„Es ist grundsätzlich wichtig zu verstehen, dass die traditionellen geopolitischen und geoökonomischen Faktoren, die die Lage in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisierten, ihre Relevanz verloren haben. Im übertragenen Sinne sind die Sicherungen gegen die großen Konflikte in Europa >durchgebrannt<. Frankreich hat sich endgültig vom Konzept der Alternativlosigkeit zum Dialog mit Moskau verabschiedet, an dem Paris während des gesamten Kalten Krieges festhielt. Und Deutschland war damit einverstanden, die Energieverbindung mit Russland abzubrechen, die ein halbes Jahrhundert lang als eine materielle Stütze der russisch-deutschen Beziehungen und eine der wichtigsten Säulen der Entspannungspolitik diente. Die militärpolitische Lage in Europa ist darum derzeit von einem hohen Maß an Instabilität geprägt.
Wir befinden uns heute nicht im ideologischen Systemwettbewerb, sondern im Zeitalter einer globalen Mittel- und Großmächterivalität. Die Lage sei heute in Europa instabiler denn je. Die Gefahr eines großen europäischen Krieges sei zwar unwahrscheinlich, aber auch nicht ganz ausgeschlossen, solange die Kriegspartei zündele, antirussische Ressentiments schüre und den Standpunk vertrete: Russland müsse eine „strategische Niederlage“ erleiden, dürfe den Krieg nicht gewinnen und die Ukraine dürfe ihn nicht verlieren.
Folgt man Trenins Diagnose, so liege die Gefahr eines europäischen Krieges „in den Provokationen des Westens, die die Reaktion Moskaus mit ihrer ständig neuen Eskalationsrunde testen“ (Опасность таится в провокациях западников, предназначенных для тестирования реакции Москвы перед очередным витком эскалации).
Und er lässt nicht im Unklaren, wer der eigentliche Brandstifter sei: „Die US-Amerikaner nutzen unsere eher zurückhaltende Haltung gegenüber immer dreister werdenden Angriffen auf Russland und russische Bürger aus und drehen weiterhin an der Eskalationsspirale. Man muss wissen, dass für einige einflussreiche Kräfte in den USA ein regionaler Krieg in Europa mit dem Einsatz von Atomwaffen, der sowohl den Gegner (Russland) als auch den Konkurrenten (die EU) schwächt, grundsätzlich akzeptabel ist. Moskaus Warnungen, dass ein solcher Krieg unweigerlich Amerika treffen würde, werden als leere Horrorgeschichten wahrgenommen. Daher kann die übermäßige Zurückhaltung unsererseits den Gegner ermutigen und zu einem katastrophalen Frontalzusammenstoß führen“ (Пользуясь нашим довольно сдержанным отношением ко все более наглым ударам по России и российским гражданам, американцы продолжают раскручивать эскалационную спираль. Надо понимать, что для некоторых влиятельных сил в Соединенных Штатах региональная война в Европе с применением ядерного оружия, ослабляющая одновременно противника (Россию) и конкурента (ЕС), в принципе допустима. Предостережения Москвы, что такая война неизбежно затронет и Америку, воспринимаются как пустые страшилки. Таким образом, излишняя сдержанность с нашей стороны способна поощрить противника и привести к катастрофическому лобовому столкновению).
Trenins Diagnose zeigt, dass es in dem hier und heute tobenden geopolitischen Machtkampf zwischen Russland und den USA auf ukrainischem Boden nicht um eine Eindämmung Russlands, sondern um die Verhinderung eines großen europäischen Krieges gehen sollte, der schnell in einen globalen Konflikt mit einem atomaren Schlagabtausch ausarten könnte, der weder Freund noch Feind verschonen würde.
Diese immer weiterdrehende Eskalationsspirale zu deeskalieren und die Kriegstreiber einzudämmen, die aus lauter Selbstüberschätzung Europa in ein Unheil – das Unheil eines großen europäischen Krieges – treiben, ist das Gebot der Stunde, will Europa von diesem Unheil verschont bleiben.
Denn das Gerede davon, dass Putin vor der Ukraine nicht Halt machen werde, sollte er den Ukrainekrieg gewinnen, bedeutet nur ein Angstschüren der Kriegspartei, die die Völker Europas auf einen Krieg gegen Russland vorbereitet.
Anmerkungen
1. Bruhn, J., Schlachtfeld Europa oder Amerikas letztes Gefecht. Gewalt und Wirtschaftsimperialismus in der
US-Außenpolitik seit 1840. Berlin Bonn 1983, 19.
2. Schularick, M., „Wir befinden uns längst im kalten Technologie-Krieg“. Handelsblatt-Interview, 22.03.24,
S. 50.
3. Kennan, G. F., Memoiren eines Diplomaten. Memoirs 1925-1950. Mit einem Vorwort von Klaus Mehnert.
Stuttgart 1968, 553-570, 553.
4. Zitiert nach Deutscher, I., Stalin. Eine politische Biographie. Berlin 1990, 366–381 (366).
5. Vgl. auch Friedrich, J., Yalu. An den Ufern des dritten Weltkriegs. Berlin 2007, 34 f.
6. Kennan (wie Anm. 3), 555.
7. Zitiert nach Görtemaker, M./Hrdlicka, M. R., Das Ende des Ost-West-Konflikts? Die amerikanisch-
sowjetischen Beziehungen von den Anfängen bis zur Gegenwart. Berlin 1990, 58.
8. Näheres dazu Silnizki, M., „Globale Dominanz als Selbstzweck“? Zur Frage nach den „Pathologies of
Primacy“ in der US-Außenpolitik. 29. März 2023, www.ontopraxiologie.de.
9. Näheres dazu Silnizki, M., Trump und das Dilemma der US-Außenpolitik. Im Lichte der Geoökonomisierung der US-Geopolitik.
21. Januar 2024, www.ontopraxiologie.de.