Verlag OntoPrax Berlin

Die Strategie der Selbstrettung

Die US-Hegemonie im „Zeitalter der Amoralität“

Übersicht

1. Machtausbalancierung statt Machtbalance
2. In einer rhetorischen Zwangsjacke gefangen
3. Die US-Hegemonie und die Logik der Amoralität

Anmerkungen

„Спасение утопающих – дело рук самих утопающих“
(Die Rettung der Ertrinkenden ist die Sache der Ertrinkenden selbst)
(Ostap Bender)1

1. Machtausbalancierung statt Machtausbalance

„Strategy, for a liberal superpower, is the art of balancing power without subverting democratic purpose“ (Für eine liberale Supermacht ist Strategie die Kunst, die Macht auszubalancieren, ohne die demokratischen Ziele zu untergraben).

Diese kühne These legt Hal Brands seiner neuen Veröffentlichung unter dem marktschreierischen Titel „The Age of Amorality“ (Das Zeitalter der Amoralität) in Foreign Affairs am 20. Februar 2024 zugrunde. Gleich im Untertitel der Veröffentlichung „Can America Save the Liberal Order Through Illiberal Means?“ (Kann Amerika die liberale Ordnung mit illiberalen Mitteln retten?) wird deutlich, was Brands unter der „Amoralität“ versteht, welche Ordnung er für „liberal“ hält und welche Ziele diese als „liberal“ verklärte Ordnung verfolgt.

In seinen Überschriften nimmt er bereits die Ergebnisse seiner Studie vorweg, indem er dreierlei postuliert: „Amoralität“ sei ihrer Natur nach „illiberal“; zur Rettung der „liberalen Ordnung“ bedarf es (notfalls) illiberalen, sprich: „amoralischen“ Mitteln zwecks einer „Demokratisierung“ der Welt so, wie es sich die „liberale Supermacht“ vorstellt.

Was die USA aber unter „Demokratie“ verstehen, versuchte bereits Stalin uns mit seiner ihm zugeschriebenen Äußerung klarzumachen: Demokratie sei „nicht etwa die Herrschaft des Volkes, sondern die Herrschaft des amerikanischen Volkes“.

Diese so verstandene „Demokratie“ ist dasjenige, was wir heute „die unipolare Weltordnung“ nennen, die mittlerweile in schweres Fahrwasser und in unsicheres Gewässer geraten ist. Und Brands These spiegelt eben diese Verunsicherung der US-Eliten wider, die mit ihrem Selbstverständnis einer „unverzichtbaren Nation“ plötzlich feststellen müssen, dass die sich im dramatischen Umbruch befindende Welt auf sie verzichten will und kann.

Der amerikanische Exzeptionalismus mit seinem weltmissionarischen Anspruch: „Die Sache der ganzen Menschheit ist die Sache Amerikas“ (John F. Kennedy, 1960) ist darum aus heutiger Sicht nichts weiter als ein Abklatsch der glorreichen, aber längst vergangenen Epoche. Um heute aber auf der Höhe der Zeit zu sein, müssen die USA – folgt man Brands These eine neue Strategie – die Strategie als „Kunst der Machtausbalancierung“ (the art of balancing power) – entwickeln.

Fordert Brands mit seiner Strategie vom US-Hegemon etwa mehr Bescheidenheit? Mitnichten! Der schwächelnde Hegemon will keineswegs auf seine Weltführungsrolle verzichten. Vielmehr ist er auf der Suche nach neuen Strategien zwecks Aufrechterhaltung seiner als „liberal“ verklärten „unipolaren Weltordnung“.

Es ist freilich ein lang gepflegtes Missverständnis, Hegemonie mit Liberalität gleichsetzen bzw. als „liberal“ verklären zu wollen. Hegemonie verträgt sich nicht mit Liberalität und die bestehende „unipolare Weltordnung“ unter Führung des US-Hegemonen ist nicht „liberal“, sondern hegemonial.

Hegemonie strebt eine Beherrschung, Dominanz und Unterwerfung an. Sie oktroyiert, befreit nicht, bevormundet, macht nicht frei. In ihrer Machtentfaltung wirkt sie entgrenzend und freiheitshemmend, nicht befreiend, solange man ihr keine Grenzen setzt.

Hegemonie legitimiert sich durch sich selbst, sie usurpiert selbstermächtigend die Deutungshoheit in Fragen von Liberalität, Demokratie und dergleichen und programmiert so sich selbst, ohne Rücksicht auf irgendeine Gegenmacht nehmen zu müssen.

Brands These von der US-Strategie als einer „Kunst der Machtausbalancierung“ hält darum einer Realitätsüberprüfung nicht stand. In den vergangenen dreißig Jahren seit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems hat die zum Hegemonen aufgestiegene US-Supermacht jede „Kunst der Machtausbalancierung“ vermissen lassen. Ganz im Gegenteil: Die USA haben nach dem Ende des Ost-West-Konflikts die Chance bekommen, ihre eigenmächtige Weltordnungspolitik zu betreiben. Statt einer „Kunst der Machtausbalancierung“ haben sie mit ihrer hegemonial ausgerichteten Weltpolitik eine Macht-Dysbalance in Europa geschaffen und weltweit die „Kunst des Machtungleichgewichts praktiziert, welche zahlreche Kriege erzeugte, die Wiedererstarkung der geopolitischen Rivalen mit sich brachte und die Spannungen zwischen den Großmächten bis auf Äußerte bewirkte.

Die auf Hegemonie ausgerichtete US-Geostrategie der vergangenen dreißig Jahre besteht eben nicht in der Errichtung einer Machtbalance, nämlich eines Systems von Macht und Gegenmacht, wodurch die Großmächte sich wechselseitig beschränken, um die Welthegemonie oder gar die Weltherrschaft einer Großmacht zu verhindern.2

Was Brands unter einer „Kunst der Machausbalancierung“ versteht, sind weder die europäischen Vorstellungen vom Machtgleichgewicht noch die Erfahrungen mit dem sog. „Gleichgewicht des Schreckens“ während der Systemkonfrontation des „Kalten Krieges“, sondern ist ein Versuch, dem Erosionsprozess der US-Hegemonie mit einer neuen Strategie entgegenzuwirken, um einen anhaltenden Abwärtstrend zu stoppen.

Nicht Austarieren von Macht und Gegenmacht zwecks Unterbindung der Hegemonialstellung einer Großmacht steht im Vordergrund dieser US-Strategie als einer „Kunst der Machtausbalancierung“, sondern eine machiavellistische Kunst der Verschlagenheit und Gerissenheit, die im Lavieren zwischen den zwei Extremen der Liberalität und Illiberalität das bestmögliche Ergebnis zwecks Aufrechterhaltung der US-Hegemonie vor dem Hintergrund des schwächelnden und alternden US-Hegemonen zu erzielen trachtet.

Die „neue“ US-Strategie will als eine „Kunst der Machtausbalancierung“ nicht ein System von Macht und Gegenmacht errichten, sondern verfolgt weiterhin das anachronistische Ziel einer auf Dauer angelegten und von keinem in Frage gestellten US-Welthegemonie. „Imperiale Geostrategie“ nannte Brzezinski einst dieses US-Streben in den 1990er-Jahren.3

2. In einer rhetorischen Zwangsjacke gefangen

Entwickelt vor dem Hintergrund des untergegangenen Systemrivalen, ist Brzezinskis Geostrategie heute nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Sie ist überholt, weil die US-Über- und Allmacht der 1990er-Jahre nicht mehr existiert und die von den USA angeführte „unipolare Weltordnung“ einen dramatischen Erosionsprozess erleidet.

Die ganze Dramatik dieses Erosionsprozesses zeigt sich gerade im Roten Meer, wo sich die USA mit ihren Verbündeten vergeblich abmühen, mit den Huthi-Milizen militärisch fertig zu werden. Schlimmer noch: Wie Ahmad al Asady in seinem am 3. März 2024 für The Hill verfassten Bericht „BRICS countries are benefiting from the Red Sea shipping disruptions“ (Die BRICS-Länder profitieren von den Störungen der Schifffahrt im Roten Meer) schreibt:

„Die Seeangriffe der Huthi-Rebellen im Roten Meer, mit denen Israel unter Druck gesetzt werden sollte, seinen Krieg in Gaza zu beenden, haben unbeabsichtigt die Voraussetzungen für die umfassenderen geopolitischen Veränderungen geschaffen … Da diese Angriffe große Reedereien dazu veranlassen, ihre Routen umzuleiten, befinden sich die USA und ihre Verbündeten an einem entscheidenden Wendepunkt. Sie sind an die  Grenzen ihrer militärischen Interventionen  bei der Gewährleistung der Sicherheit und Effizienz des lebenswichtigen Seehandels gestoßen.

Die unmittelbaren Auswirkungen gehen weit über die verlängerten Transitzeiten und den Anstieg der Betriebskosten hinaus, wie der starke Anstieg des  World Container Index von Drewry zeigt . Diese strategische Neuausrichtung stärkt paradoxerweise die wirtschaftliche und strategische Haltung des BRICS-Blocks, schwächt die US-Verbündeten und stellt die traditionelle Dynamik der Weltwirtschaft in Frage.“

Wir beobachten, anders formuliert, nicht nur einen Erosionsprozess der US-Hegemonie und einen zunehmenden geoökonomischen Machtverlust der westlichen Hemisphäre, sondern auch einen Angstverlust vor den militärischen Drohgebärden und Aktionen der USA.

Vor diesem Hintergrund ist es allzu verständlich, wenn Brands eine neue Strategie zur Aufrechterhaltung der US-Hegemonie empfiehlt. Unverständlich ist allerdings, dass er dabei bei der Rhetorik des „Kalten Krieges“ verbleibt. Als würden wir uns immer noch inmitten des Systemwettbewerbs der bipolaren Weltordnung befinden, spricht Brands von der „Wiederbelebung der Gemeinschaft der freien Welt“ (the free-world community).

Dieses Vokabular ist ein Relikt des „Kalten Krieges“ und hat mit der geopolitischen Gegenwart nichts zu tun. Der Ausdruck „freie Welt“ wurde als Gegensatz zum Weltkommunismus konzipiert, der längst das Zeitliche gesegnet hat. Es ist darum gar nicht klar, von welcher „Freiheit“ hier die Rede ist.

Und so bemüht sich Brands – dem westlichen, immer noch im Denken des „Kalten Krieges“ gefangenen Mainstream folgend – „eine bedrohte Ordnung“ (a threatened order) der westlichen Demokratien zu konstruieren, um sie gegen die sog. „Autokratien“ zu verteidigen.

Besorgt schreibt er: „Wenn es darum geht, China und Russland entgegenzutreten, reichen die demokratischen Allianzen nur bis zu einem gewissen Grad aus. … Die USA treten üblicherweise in den Wettbewerb der Großmächte (great-power competition) (desswegen) ein, weil sie befürchten, dass die mächtigen Autokratien die Welt sonst für die Demokratie unsicher machen (make the world unsafe for democracy).

Dabei greift er weit in die Geschichte zurück und konstruiert ein neues Geschichtsbild des 20. Jahrhunderts, indem er – der Tagespolitik geschuldet – Kommunismus kurzerhand mit Autokratie gleichsetzt. Es ist zwar legitim, wenn die neue Generation auf die Geschichte vom Standpunkt ihrer eigenen erlebten Gegenwart blickt und neu umschreibt.

Eine neue Geschichtsdeutung darf aber nicht jenseits jedes faktenbasierten Wissens stattfinden. Brands geht es freilich nicht um ein neues Geschichtsverständnis, sondern um eine Neolegitimierung des US-Hegemonialanspruchs unter den neuentstandenen geopolitischen Machtkonstellationen mittels einer Instrumentalisierung der Geschichte.

Alle Machtmittel seien dabei erlaubt. Wir befänden uns schließlich im „Zeitalter der Amoralität“ (the Age of Amorality). Denn der einzige Weg, eine Welt zu schützen, die für die Freiheit geeignet sei, bestehe darin, die „unreinen Partner“ (impure partners) zu hoffieren und sich an „unreinen Handlungen“ (impure acts) zu beteiligen.

Diese „Reinheitslehre“ erinnert freilich an die längst vergessen geglaubten Epoche allermöglichen Rassentheorien und Rassenwahnvorstellungen. Was nicht vergehen will, kann auch nicht vergehen.

Die neu entstandene geopolitische Mächtekonstellation verleitet manche Zeitgenossen offenbar, sich auf die überholten und nicht mehr zeitgemäßen Ideologien zu besinnen. Die sich zu Lasten der US-Hegemonie verändernde Welt lässt sich aber nicht ohne weiteres mit einer überkommenen und stets reproduzierten ideologischen Rhetorik des „Kalten Krieges“ oder gar mit „Reinheitslehren“ aller Art denunzieren, stigmatisieren und verunglimpfen.

Es besteht dann die Gefahr des Rückfalls in die Schützengräben des „Kalten Krieges“ oder die Groß- und Rassenwahnvorstellungen der vergangenen Zeiten. Die USA sind nicht mehr so stark, wie sie vorgeben, und nicht mehr so mächtig, wie sie sich wünschen. Je schneller die US-Eliten das begreifen, umso besser wird es für sie und die ganze Welt. Der US-Hegemon schwächelt, ist in die Jahre gekommen und versucht seinen Zustand mit alten Parolen zu übertünchen und mit neuen Etiketten zu überkleben.

Nach wie vor in den Denkmustern des „Kalten Krieges“ verbleibend, glaubt Brands, diesen US-Schwächezustand, den er offenbar als vorübergehend ansieht, dadurch überwinden zu können, dass er – falls es nichts anders geht – empfiehlt, die Kompromisse selbst mit dem Teufel einzugehen, um die alte Stärke zurückgewinnen zu wollen.

Indem er den vom Theologen Reinhold Niebuhr stammenden Spruch: „How much evil we must do in order to do good“ (Wie viel Böses müssen wir tun, um Gutes zu tun) zu eigen macht, versucht er die Strategie der Taktik unterzuordnen und kommt nicht umhin, das „Böse“ im Namen des „Guten“ zu „entkriminalisieren“ und Liberalität mittels Illiberalität durchzusetzen.

3. Die US-Hegemonie und die Logik der Amoralität

Von diesem Standpunkt aus entwirft Brands ein neues Geschichtsbild vom 20. Jahrhundert als einem Jahrhundert des ununterbrochenen Kampfes zwischen „Autokratie und Demokratie“, das er kurzerhand zum „Zeitalter der Amoralität“ erklärt. Warum? Weil die USA, um „das Überleben und die Ausbreitung des Liberalismus“ (the survival and expansion of liberalism) zu ermöglichen, „amoralisch“ werden und „ein schmutziges Spiel“ (a dirty game) spielen müssen.

In diesem Sinne sei die gegenwärtige US-Konfrontation mit China und Russland nur die letzte Runde in einem nie enden wollenden Kampf darum, „ob die Welt von liberalen Demokratien oder ihren autokratischen Feinden geprägt wird“ (whether the world will be shaped by liberal democracies or their autocratic enemies), schreibt Brandt und fährt fort:

Im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie im Kalten Krieg strebten die Autokratien in Eurasien nach einer globalen Vorherrschaft (global primacy), indem sie innerhalb dieser zentralen Landmasse die Vorherrschaft erlangten. Dreimal griffen die USA nicht nur ein, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, sondern auch, um ein Gleichgewicht der Kräfte (a balance of power) zu wahren, das das Überleben und die Ausbreitung des Liberalismus ermöglichte, um „die Welt sicher für die Demokratie zu machen“, wie es Woodrow Wilson ausdrückte.

Der Versuch, das 20. Jahrhundert aus der Perspektive der geopolitischen Realität des 21. Jahrhunderts zu betrachten und mit den Schlagworten „Autokratien versus Demokratien“ umzuschreiben, ist derart ahistorisch, dass man sich wundert, wie man darauf überhaupt kommen kann.

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges war eine direkte Folge der Machtkämpfe der europäischen Großmächte um die Teilung der Welt im Zeitalter des europäischen Imperialismus, wohingegen der Zweite Weltkrieg in der „Zeit der Ideologien“ (Karl Dietrich Bracher) stattgefunden hat.

Und was den „Kalten Krieg“ der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angeht, so war er primär ein ideologischer Systemwettbewerb zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Das waren drei zwar aufeinander bezogene, nicht desto weniger aber völlig unterschiedliche Epochen der europäischen und Weltgeschichte, die man nicht einfach auf einen Nenner „Autokratie versus Demokratie“ reduzieren kann.

Gerade der Sowjetkommunismus entstand auf den Ruinen der russischen Autokratie. Und den Rassenstaat des Nationalsozialismus mit „Autokratie“ gleichzusetzen, bedeutet die Natur und das Wesen des Nazismus zu verharmlosen.

Erst vor diesem Hintergrund wird es verständlich, warum Brands die „Machtbalance“ (balance of power) mit einer „Ausbalancieren der Macht“ (balancing power) vermengt. Um „das Überleben und die Ausbreitung des Liberalismus“ zu ermöglichen und „die Welt für die Demokratie sicher zu machen“, bedarf es laut Brands manchmal einer „Ausbalancierung der Macht“ (balancing power), die er als „ein schmutziges Spiel“ (bzw. „a dirty game“) bezeichnet.

Denn „die westlichen Demokratien konnten sich im Zweiten Weltkrieg nur durchsetzen, indem sie einem schrecklichen Tyrannen, Josef Stalin, halfen, einen noch schrecklicheren Feind, Adolf Hitler, zu vernichten“ (Western democracies prevailed in World War II only by helping an awful tyrant, Joseph Stalin, crush an even more awful foe, Adolf Hitler), argumentiert Brands.

Dieses „schmutzige Spiel“ musste der Westen mitspielen, um ein noch schlimmeres Übel zu verhindern. Auch während des „Kalten Krieges“ mussten die USA ein „schmutziges Spiel“ „mit einem anderen mörderischen Kommunisten, dem chinesischen Führer Mao Zedong“ mitspielen, um die Sowjetunion zu bekämpfen, entrüstet sich Brands.

Dieses „Zeitalter der Amoralität“ setze sich seiner Meinung nach bis heute fort und wir müssen weiterhin „viel Böses tun, um Gutes zu tun“. Nun ja, wenn man die eigenen Schand- und Gräueltaten im Korea- und Vietnam-Krieg, die Millionen Menschenleben kosteten, ausblendet, dann kann man „natürlich“ über „Demokratie“ als Leuchtturm der Freiheit und Gerechtigkeit in ihrem immerwährenden Kampf gegen die sog. „Autokratien“ fabulieren.

Diese Logik der Amoralität: „viel Böses tun, um Gutes zu tun,“ hat der Soziologe Karl Otto Hondrich bereits 2003 propagiert, als er den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA gegen den Irak mit Nachdrück gutgeheißen hat.

Indem Hondrich den Krieg als die „Hoch-Zeit der Moral“ glorifizierte und damit Moral als eine modale Form der Gewalt – sozusagen als Gewaltmoral – apostrophierte, lehnte er gleichzeitig eine andere, „gesteigerte Moral“ als Ausfluss des „Gebots der Gewaltlosigkeit“ ab, weil diese nur im Zustand einer der „höheren Kultur“ zugeordneten „gewaltfreien Gesellschaft“ existieren kann.

Damit unterscheidet Hondrich zwei völlig unterschiedliche Arten von Moral: Die eine beruht auf einem illusionären, weil weltfremdem „Gebot der Gewaltlosigkeit“ und die andere, realitätsnahe und unbedingt zu bejahende Moral ist ein untrennbarer Bestandteil unserer „Weltgewaltordnung“.

Denn „je höher und schneller sich die Gesellschaft entwickelt und je weiter sie sich als Weltgesellschaft ausdehnt, desto verletzlicher werden die Menschen und ihre Kulturen, desto durchsetzungseifriger, desto konfliktreicher, kurz: desto gewaltträchtiger.“4

Folgt man dieser Gewaltmoral, so kann man gleich auch die Logik der Amoralität als „moralisch“ geboten ansehen. Was Brands allerdings unter „Amoralität“ versteht, ist nicht einfach eine Glorifizierung der Gewaltmoral, sondern eine Aufforderung der selbsternannten „Liberalen“ zu einer opportunistischen Koalitionsbildung mit den illiberalen „Autokratien“ und Potentaten zwecks Verteidigung des „Liberalismus“, genauer: der US-Hegemonialstellung in der Welt.

Eine solche Koalition mit den illiberalen „Autokratien“ war in der Vergangenheit nicht ohne Erfolg. Und nur dieser Erfolg zählt für die USA in seinem Machtkampf um die Welthegemonie und er war immer schon das Kriterium dessen, was außenpolitisch im „Zeitalter der Amoralität“ geboten ist.

Zwar hatten die USA in den 1960er- und 1970er-Jahren „eine Lawine der Amoralität“ (an avalanche of amorality) ausgelöst, indem sie „einen blutigen und missglückten Krieg in Vietnam“ geführt, „eine Clique böser Diktatoren“ unterstützt und zahlreiche „CIA-Mordpläne“ durchgeführt haben.

Sie wurden aber letztendlich mit dem Sieg im „Kalten Krieg“ (the U.S. victory in the Cold War) belohnt und es entstand „eine Welt, die sicherer vor den autokratischen Raubzügen und sicherer für die menschliche Freiheit war als je zuvor (a world safer from autocratic predation, and safer for human freedom, than ever before), rechtfertigt Brands diese Logik der Amoralität.

Jetzt sei die Welt erneut bedroht, warnt Brands. Jetzt müssen die USA neue Prioritäten setzen, um erneut einen Sieg im Machtkampf gegen die wiedererstarken „Autokratien“ davon zu tragen.

„Die Welt habe einen >Wendepunkt< (inflection point) erreicht“, zitiert Brands Biden, der im März 2021 davon sprach, dass die künftigen Historiker „die Frage untersuchen würden, wer erfolgreich war: Autokratie oder Demokratie“ (the issue of who succeeded: autocracy or democracy).

Und wenn China zur „Weltführungsmacht“ (the world’s preeminent power) werde, werde die Autokratie in den befreundeten Ländern stärker, wohingegen „die demokratischen Regierungen“ unter Druck geraten würden. Man sehe doch, wie Peking wirtschaftlichen Hebel einsetze, um die Kritik an seiner Politik durch die demokratischen Gesellschaften von Australien bis Norwegen zu bestrafen. Indem sich ein dominantes China „das System der Illiberalität“ sichere (system safe for illiberalism), würde es das System des Liberalismus automatisch schwächen. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine reihe sich in diese illiberale Entwicklung.

Bei dieser ganzen Beschreibung der geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart vermisst man freilich vor allem eine selbstkritische Analyse der US-Außenpolitik der vergangenen drei Jahrzehnte. Man wundert sich zudem über die völlige Ausblendung der geostrategischen Fehleinschätzungen beinahe aller US-Administrationen, die zum Aufstieg Chinas und Wiederstarken Russlands geführt haben.

Was schlägt Brands nun vor? Das Grundproblem der USA sei „ein loses Bündnis der revisionistischen Mächte“ (a loose alliance of revisionist powers) aus dem Herzland Eurasiens heraus zu drängen. Biden habe zwar „eine kohärente globale Koalition von Demokratien“ (a cohering global coalition of democracies), die von den Rändern her zurückschlägt, gebildet.

In den drei Schlüsselregionen Eurasiens stellt sich aber erneut Niebuhrs Frage: „Wie viel Böses müssen wir tun, um Gutes zu tun?“ Denn „die demokratische Solidarität“ sei zwar „großartig, die Geographie aber unerbittlich“ (Democratic solidarity is great, but geography is stubborn).

Washington benötige darum in Eurasien illiberale Freunde, um seine illiberalen Feinde in Schach zu halten (Across Eurasia, Washington needs illiberal friends to confine its illiberal foes).

Mit anderen Worten: Um mit den eurasischen Großmächten China und Russland fertig zu werden, reicht eine „globale Koalition von Demokratien“ nicht mehr aus und die USA benötigen darum die illiberalen Kräfte, um ein noch größeres Übel, nämlich den Verlust der eigenen globalen Vormachtstellung (global primacy), abwenden zu können.

Dieses Opportunitätsprinzip nennt Brands zwar amoralisch, aber geopolitisch geboten. Vor diesem Hintergrund ist es völlig unglaubwürdig, wenn er im gleichen Atemzug beteuert, dass der Zweck nicht alle Mittel heile: „Es wäre gefährlich, eine reine der-Zweck-heiligt-die-Mittel-Mentalität zu verinnerlichen“ (It would be dangerous to adopt a pure end-justifies-the-means mentality).

Brands Opportunitätsprinzip liegt freilich keine ideologisch fundierte Legitimation zugrunde. Denn wie will Brands eine Koalition von liberalen und illiberalen Kräften ideologisch begründen? Mit Verweis auf einen ideologischen Kampf gegen einen vermeintlich noch „illiberaleren“, „autokratisch“ stigmatisierten eurasischen Rivalen kommt man da nicht weiter.

Es geht auch nicht um eine ideologische, sondern eine geopolitische Konfrontation, in deren Mittelpunkt die Infragestellung der globalen Führungsrolle der USA steht. Genau das ignoriert Brands aber, indem er behauptet: „Das ideologische Schlachtfeld“ (the ideological battlefield) habe sich zu Ungunsten der USA verschoben.

Diente der Antikommunismus im „Kalten Krieg“ „als ideologischer Klebstoff zwischen der demokratischen Supermacht und ihren autokratischen Verbündeten“ (between a democratic superpower and its autocratic allies), weil die letzteren wüssten, dass sie im Falle eines sowjetischen Triumpfs in ihrer Existenz bedroht wären, so verfügen die US-Feinde heute über „eine Form der Autokratie“ (a form of autocracy), die für die anderen „Nicht-Demokratien“ (nondemocracies) weniger existenziell bedrohlich sei.

Indem Brands zwanghaft versucht, die geopolitische Rivalität ideologisch zu begründen, verstrickt er sich immer tiefer in Widersprüche. Die Machthaber am Persischen Golf, in Ungarn oder der Türkei haben mehr mit Xi und Putin gemein als mit Biden, entrüstet er sich. Die Kluft zwischen einer „guten“ und einer „schlechten“ Autokratie sei geringer als früher, was die USA dazu zwinge, härter zu arbeiten, um die „illiberalen Partner“ (illiberal partners) auf ihrer Seite zu halten.

Da eine mit dem „Kalten Krieg“ vergleichbare ideologische Systemkonfrontation fehle und die geopolitische US-Vormachtstellung erodiere, stehen die USA vor ernsthaften strategischen Herausforderungen und seien gezwungen, „Kompromisse zwischen Macht und Prinzip“ (the tradeoffs between power and principle) einzugehen.

Wir befinden uns, anders formuliert, in einem ideologiefreien geopolitischen und geoökonomischen „Wettbewerb“ der Großmächte. Darum ist das Gerede von einem Überlebenskampf zwischen Autokratien und Demokratien nichts weiter als ein Placebo, das die ideologische Systemkonfrontation der bipolaren Weltordnung nicht ersetzen kann.

Und so sucht Brands diesen fehlenden Ideologieersatz moralisch zu übertünchen und kommt nicht umhin festzustellen, dass selbst der sog. „Globale Süden“ nicht mehr mitzieht, weil er die US-Geopolitik als doppelzüngig betrachtet und ihr eine Doppelmoral vorwirft.

Vor dem Hintergrund eines ideologischen, moralischen und geopolitischen Fiaskos der US-Außenpolitik bleibt Brands am Schluss nichts anderes übrig, als bescheiden festzustellen: „Moral ist ein Kompass, keine Zwangsjacke“ (morality is a compass, not a straitjacket).

So sieht es also die neue Strategie des US-Hegemonen im „Zeitalter der Amoralität“ aus! Rette sich, wer kann! Und wer sich selbst retten kann, der kommt in diesem „schmutzigen Spiel“ am weitesten voran.

„Manche werden dies als der Gipfel der Heuchelei ansehen“, rechtfertigt sich Brands am Schluss seiner Veröffentlichung. „In Wirklichkeit ist es aber der beste Weg, um das Gleichgewicht – politisch, moralisch und strategisch – zu wahren, das eine demokratische Supermacht benötigt“ (In reality, it is the best way to preserve the balance—political, moral, and strategic—that a democratic superpower requires). Nichts Neues im Reich der unbegrenzten Möglichkeiten.

Anmerkungen

1. Ostap Bender ist der Antiheld des russischen Romans „Двенадцать стульев“ (Die zwölf Stühle) von Il´ja
Il´f und Evgenij Petrov aus dem Jahr 1928.
2. Vgl. Link, W., Die europäische Neuordnung und das Machtgleichgewicht, in: Thomas Jäger/Melanie
Piepenschneider (Hrsg.), Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklungen. Opladen 1997, 9-31 (11).
3. Vgl. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-
amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Zitiert nach Silnizki, M., Im Würgegriff der Gewalt. Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“. 30. März
2022, www.ontopraxiologie.de.

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