Verlag OntoPrax Berlin

Die gescheiterte Kriegspolitik

Zwischen Desinformation, Panikmache und Kriegsniederlage

Übersicht

1. Panikmache statt nüchterner Analyse
2. In einer Sackgasse
3. Was tun?

Anmerkungen

„Die Vereinigten Staaten traten … nicht in den Krieg ein für die Sicherheit
aller Demokratien“, sondern „für die Sicherheit Amerikas.“
(Walter Lippmann, 1944)1

1. Panikmache statt nüchterner Analyse

Angst geht um in Europa – die Angst vor der russischen Bedrohung für Deutschland und die Europäische Union. Und diese Angst wird gezielt geschürt und erneut Stimmung gegen Russland gemacht. An der Spitze der Bewegung stehen die Geheimdienste, die hinter jedem Kieselstein die russische Gefahr zu entdecken glauben. So warnte der Präsident des deutschen Auslandgeheimdienstes BND, Bruno Kahl, neuerlich, am 14. Oktober 2024, bei einer öffentlichen Anhörung im parlamentarischen Kontrollgremium im Bundestag: „Mit dem umfassenden Einsatz hybrider Methoden und Mittel durch Russland steigt auch das Risiko, dass sich irgendwann die Frage eines Nato-Bündnisfalls stellen könnte.“

Der Nato-Bündnisfall?! Mit der Warnung ist laut Kommentar einer Tageszeitung „der Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gemeint. Sollte Russland einen Nato-Mitgliedstaat angreifen, müssten demnach die Vertragsstaaten dort gegebenenfalls auch militärische Hilfe leisten.“2

Es wird sofort Artikel 5 des Nordatlantikvertrags bemüht. Ist das nicht des Guten zu viel? Besteht denn wirklich eine russische Bedrohung? Zweifel sind angebracht. Vielmehr sieht es nach Panikmache und Desinformation aus. Denn die Frage, warum Russland einen Nato-Mitgliedstaat überhaupt angreifen sollte, wird nicht gestellt, geschweige beantwortet.

Warum sollte man unbequeme Fragen stellen? Es geht doch viel einfacher: Man warnt besorgt mit ernster Miene, heizt die Stimmung auf und schürt Panik, um die deutsche Bevölkerung gegen den „ewigen Feind“ Russland zu mobilisieren.

Es kommt aber noch besser: Die Bereitschaft Moskaus zu weiteren Aktivitäten im Feld der hybriden und verdeckten Maßnahmen habe ein „bisher ungekanntes Niveau erreicht“, sagte Kahl. „Putin wird rote Linien des Westens austesten.“ „Der BND-Chef sieht auch eine direkte militärische Konfrontation mit der Nato als eine >Handlungsoption für Moskau<“, berichtet die eben erwähnte Tageszeitung.

Der Vorwurf des deutschen Geheimdienstchefs ist derart abstrus, dass unsereiner sich die Augen reibt und fragt, was sich hinter dieser Anschuldigung tatsächlich verbirgt. Wie kommt der BND-Chef auf die Behauptung, dass „Putin … rote Linien des Westens austesten wird“? Ist es nicht vielmehr umgekehrt, dass es der Westen ist, der die von ihm selbst gemalten, aber von Moskaus nie definierten „roten Linien“ stets austestet, um zu wissen, wie weit er bei der militärischen Unterstützung der Ukraine gehen kann?

Und wo sind die Belege dafür, dass eine direkte militärische Konfrontation mit der Nato eine „Handlungsoption für Moskau“ ist? Nichts spricht dafür? Ganz im Gegenteil: Die Eskalationsdominanz hat der Westen bzw. der US-Hegemon, wohingegen Russland seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine eine defensive Strategie gegenüber der Nato-Allianz eingenommen hat.3

Nein, hinter all den Anschuldigungen und Beschuldigungen verbirgt sich etwas ganz anderes: die Verschleierung der eigenen aggressiven und feindseligen Russlandpolitik sowie eine gezielte Vorbereitung der deutschen Bevölkerung auf eine beschleunigte Militarisierung der deutschen Außenpolitik und eine weitere Eskalation im Ukrainekonflikt.

Und wenn Kahl von hybriden und verdeckten Aktivitäten Moskaus spricht, die ein „bisher ungekanntes Niveau erreicht“ haben, so camoufliert diese Äußerung eine unmittelbare Involvierung Deutschlands in das Kriegsgeschehen in der Ukraine, die ein „bisher ungekanntes Niveau“ an Feindseligkeit und Aggressivität gegen Russland seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges erreicht hat.

Oder will Kahl der deutschen Öffentlichkeit weismachen, dass die tonnenweise Waffenlieferung an die Ukraine, mit deren Hilfe womöglich bereits hunderte – wenn nicht tausende – russische Soldaten umgebracht wurden, ein Beitrag zur friedlichen und freundschaftlichen Koexistenz der beiden Völker ist? Es ist auch nicht bekannt, dass Russen ihrerseits auf Putins Befehl in den vergangenen zweieinhalb Jahren einen einzigen deutschen Soldaten oder Zivilisten umgebracht haben.

Nun begründet Kahl seine Anschuldigungen mit „fortschreitendem Aufwuchs der militärischen Potenziale Moskaus“, unterschlägt aber gleichzeitig, dass der Westen, indem er die Ukraine massiv aufgerüstet und den Krieg bis dato bereits mit 300 Milliarden Dollar finanziert hat, Russland seinerseits nichts anderes übriglässt, als sein militärisches Potenzial drastisch zu steigern.

Schließlich kämpft Russland gegen die Anti-Russland-Koalition, die aus mehr als fünfzig Ländern mit einer Milliarde Bevölkerung besteht. Sind es nicht die Eurokraten, namentlich Josep Borrell, und die Kriegspartei insgesamt, die Tag und Nacht davon träumen, Russland auf dem Schlachtfeld zu besiegen und eine „strategische Niederlage“ zuzufügen?

Erwartet Kahl etwa, dass Russland wie auf dem Kölner Karneval mit Bonbons um sich wirft, um diesen Drohgebärden standzuhalten, statt sein Militärpotenzial aufzubauen? Nein, das erwartet er natürlich nicht! Vielmehr warnt er davor, dass die russischen Streitkräfte „wahrscheinlich spätestens ab Ende dieses Jahrzehnts personell und materiell in der Lage (sind), einen Angriff gegen die Nato durchzuführen.“

Warum erst „ab Ende dieses Jahrzehnts“ und nicht gleich? Wenn das so wäre, dass Russland erst gegen „Ende dieses Jahrzehnts personell und materiell in der Lage“ sein wird, „einen Angriff gegen die Nato durchzuführen“, dann hätte die Nato-Allianz schon längst die Gelegenheit ergriffen, um direkt und unmittelbar in die Kämpfe einzugreifen.

Es wird freilich genau umgekehrt ein Schuh daraus. Es ist die Nato, die heute weder in der Lage noch willig ist, einen Angriff gegen Russland durchzuführen. Ob sie gegen Ende dieses Jahrzehnts in der Lage sein wird, einen Landkrieg gegen Russland zu führen, ist genauso fraglich.

2. In einer Sackgasse

Nun verweist Kahl auf Erkenntnisse seiner Behörde, wonach die größte Anpassung der russischen Streitkräfte seit 2008 stattfinde: „Unsere Informationen zeigen neben strukturellen Maßnahmen wie der Neugliederung der Militärbezirke auch einen umfangreichen Aufwuchs der Landstreitkräfte“, berichtet Kahl. Freilich braucht man für diese „Erkenntnisse“, die öffentlich zugänglich sind, keine geheimdienstlichen „Informationen“.

Kahl verschweigt zudem den eigentlichen Grund für den festgestellten „umfangreichen Aufwuchs der Landstreitkräfte“: die Nato-Erweiterung um Finnland und Schweden, die Russland bedroht und dazu zwingt, neue Militärbezirke zu errichten und neue Landstreitkräfte aufzustellen. Und wenn Kahl davon spricht, dass der „Schwerpunkt dieses Kräfteauswuchses … natürlich in der strategischen Richtung West entlang der Nato-Ostflanke statt(findet)“, so fragt man verwundert: Soll das eine „Erkenntnis“, Feststellung oder Vorwurf sein?

Wenn die Nato Russland gegenüber feindselig agiert und am Krieg in der Ukraine unmittelbar mit hunderten Milliarden Dollar und umfangreichen Waffenlieferungen beteiligt ist, dann versteht sich von selbst, dass Russland seine zusätzlichen Streitkräfte entlang der Nato-Ostflanke stationiert.

Die ganze Berichterstattung der deutschen und anderen Nachrichtendienste über die russischen subversiven Aktivitäten in Deutschland und Europa beruht eher auf Einschätzungen, Vermutungen, Mutmaßungen und Unterstellungen und erwecken den Verdacht, dass hier gezielt und bewusst Stimmung erzeugt und Gerüchte verbreitet werden sollten, um die deutsche Öffentlichkeit und Bevölkerung wegen einer vermeintlichen russischen Bedrohung einzuschüchtern und die Fortsetzung der militärischen und finanziellen Unterstützung der Ukraine zu rechtfertigen.

Dass die Vermutung eines Einschüchterungsversuchs naheliegt, zeigt ein Bericht, der mit Verweis auf die „Einschätzungen“ der Sicherheitskreise davon spricht, dass Russland „mittlerweile >robuste Mittel< (investiere), um die westliche Unterstützung für die Ukraine zu unterminieren. Mittlerweile gehe es nicht mehr nur um einen hybriden Krieg gegen Deutschland, sondern um einen >realen Krieg< auf deutschem Boden.“4

Die sog. „Einschätzungen“ der deutschen Sicherheits- und Geheimdienstkreise unterstellen Russland mit anderen Worten dasjenige, was der Westen ja selbst längst praktiziert. Da führen Deutschland, Europa und die USA seit gut zweieinhalb Jahren „einen realen Krieg“ gegen Russland auf ukrainischem Boden mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln (Waffenlieferung, Kriegsfinanzierung und nicht zuletzt Söldnertruppen), werfen aber ausgerechnet Russland ihr eigenes aggressives Verhalten vor.

Das nennt sich eine gezielt gesteuerte Desinformationskampagne. Welche Ziele verfolgen aber solche „Einschätzungen“, Gerüchtestreuung und dergleichen? Um die eigenen geheimdienstlichen und militärischen Aktivitäten zu camouflieren? Oder ist das womöglich eine Ablenkung vom eigenen militärischen Versagen im „realen Krieg“ gegen Russland auf ukrainischem Boden?

Die Göttin Fortuna ist jedenfalls weder auf der ukrainischen noch auf der westlichen Seite. Der Kriegsausgang sieht nämlich für die Ukraine ziemlich düster aus und man muss das Schlimmste befürchten. Die westliche Kriegspolitik ist ihrerseits komplett gescheitert und hat sich in eine Sackgasse manövriert.

Der Krieg scheint für die Ukraine verlorenzugehen und der Westen weiß nicht, war er tun soll. Die alten Parolen sind gegenstandslos geworden. Russland erleidet einerseits erwartungsgemäß keine „strategische Niederlage“ und die Parole: „Russland darf nicht gewinnen und die Ukraine darf nicht verlieren“ ist irrelevant geworden.

Verhandeln wollen die Ukraine und ihre westlichen Kriegskameraden andererseits nur aus der Position der Stärke, die sie ja auf den ukrainischen Schlachtfeldern gerade weitgehend verloren haben. Nichtverhandeln ist aber auch keine Option mehr. Denn in diesem Fall stünde dann womöglich die ukrainische Staatlichkeit zur Disposition. Die westlichen bzw. US-Kriegsstrategen befinden sich in einer Sackgasse und wissen nicht, wie es weiter gehen soll.

3. Was tun?

Was ist also zu tun? Dieser Frage ging einer der führenden Repräsentanten der Neokonservativen, Robert Kagan, nach – jener Neocon, der im Vorfeld des Irakkrieges 2003 mit der Äußerung Furore machte: „Amerikaner kommen vom Mars und Europäer von der Venus.“ Damit wollte er seinem Ärger Luft machen, indem er gegen die europäischen Gegner des Irakkriegs (allen voran Deutschland und Frankreich) wetterte.

Im Ukrainekrieg ziehen die EU-Europäer und die US-Amerikaner heute zwar an einem Strand. Vor dem Hintergrund der militärischen Realität an der „Ostfront“ wissen sie aber nicht, in welche Richtung sie marschieren sollen.

Oder weiß Kagan vielleicht mehr als die anderen? In seiner umfangreichen Analyse, die er unter dem Titel „Are Americans ready to give up on Ukraine?“ (Sind die Amerikaner bereit, die Ukraine aufzugeben?) in The Washington Post am 15. Oktober 2024 veröffentlichte, setzt er sich mit der Frage auseinander, ob die vom Westen diskutierten Friedensregelungen im Ukrainekonflikt von der russischen Führung überhaupt akzeptiert werden.

Man scheint sich kaum Gedanken darüber zu machen, wundert sich Kagan, „ob der russische Präsident die Art von Friedensregelung akzeptieren würde, die die Verhandlungsbefürworter vorgeschlagen haben.“ Die einen gehen wie der ehem. Außenminister Mike Pompeo davon aus, „dass die Nachkriegsukraine (the postwar Ukraine) einen uneingeschränkten Zugang zu US-amerikanischen und Nato-Waffen, Ausbildung und anderen Formen militärischer Hilfe sowie zu einer beträchtlichen Wiederaufbauhilfe haben wird.“

Die andere fordern eine „anhaltende militärische Hilfe in Friedenszeiten“, um „Kiew dabei zu helfen, eine glaubwürdige Abschreckung aufzubauen“. Selbst Senator James David Vance (US-republikanischer Vizepräsidentenkandidat) sieht eine Art Sicherheitsgarantie für die Ukraine vor, damit „die Russen nicht wieder einmarschieren“.

Er fordert eine „stark befestigte“ und „entmilitarisierte Zone“ zwischen den russischen und ukrainischen Streitkräften, was zweierlei bedeuten kann: entweder die Stationierung von internationalen Friedenstruppen entlang der Demarkationslinie oder der Aufbau einer starken ukrainischen Armee, die in der Lage wäre, einen erneuten russischen Angriff abzuwehren.

Warum soll Putin aber derartigen Friedensregelungen zustimmen? – fragt Kagan. Eine gut bewaffnete Nachkriegsukraine würde ein äußerst feindseliger Nachbar bleiben. Es würden starke revanchistischen Bestrebungen geben, das verlorene Territorium zurückzugewinnen, zumal die USA und der Westen nicht vorhaben, „Russlands Eroberungen anzuerkennen“.

„Als Gegenleistung für den Erwerb von Donbass, der Krim und anderen strategisch bedeutsamen Gebieten erhält Putin eine wütende, revanchistische Ukraine, die vom Westen schwer bewaffnet und ausgebildet und – mit oder ohne formelle Nato-Mitgliedschaft – zunehmend in die Nato integriert wird,“ vermutet Kagan und fügt gleich hinzu: Viele US-Amerikaner und EU-Europäer wären mit einem solchen Ergebnis voll und ganz zufrieden und manche würden es sogar als einen „echten strategischen Sieg“ (genuine strategic victory) feiern, wohingegen Putin es bei einem solchen Verhandlungsergebnis schwer haben wird, „das Ausmaß seines strategischen Versagens zu verbergen“ (to mask the magnitude of the strategic failure).

Dass Putin ein solches selbstmörderisches Verhandlungsergebnis akzeptieren würde, bezweifelt Kagan zu Recht: „Die Befürworter von Friedensgesprächen mit Russland gehen einfach davon aus, dass Putin das Ergebnis akzeptieren wird, das den amerikanischen Vorstellungen am ehesten entspricht. So funktionieren Verhandlungen aber nicht und so werden sie auch nicht verlaufen.“

Es wäre zwar wünschenswert, wenn die USA, die Nato und die Ukraine in der Lage wären, Putin die Friedensbedingungen zu diktieren. Das wäre nur dann möglich – glaubt Kagan zu wissen -, wenn die Biden-Administration es nicht versäumt hätte, der Ukraine in den ersten Kriegsmonaten zu geben, was sie brauchte. Es sei aber immer noch nicht zu spät, die Waffen zu genehmigen, die die Ukraine jetzt brauche.

Genau das habe die Biden-Administration nicht getan und werde es auch nicht tun, bedauert Kagan. Der Hardliner plädiert mit anderen Worten dafür, die Landstreckenraketen an die Ukraine zu liefern, was letztlich den Dritten Weltkrieg auslösen kann.

Es gibt zwei Gründe, meint Kagan gegen Ende seiner Ausführungen, warum Putin einem vom Westen vorgeschlagenen Abkommen zustimmen könnte, weil er sich entweder an das Abkommen nicht gebunden fühle und nicht vorhabe, sich daran zu halten. Ein solches Abkommen, sollte es zustande kommen, wäre für Putin auch sehr gefährlich. Denn in diesem Falle wäre für Russland strategisch nichts gewonnen, aber vieles verloren, weil es schlechter als vor dem Krieg dastünde, was nicht zuletzt auch zu innenpolitischen Unruhen führen würde.

Oder könnte Putin sich nur dann für das Abkommen entscheiden, wenn er von Russlands Kriegsniederlage ausgehen würde, was aus heutiger Sicht unrealistisch sei, meint Kagan und fügt gleich hinzu: Putin habe gute Gründe zu der Annahme, dass die Ukraine und ihre westlichen Unterstützer eher zusammenbrechen würden als seine Armee.

Wer auch immer die kommenden Präsidentschaftswahlen gewinne, werde wahrscheinlich auf einen unnachgiebigen Putin treffen, der an seinen aktuellen Forderungen festhalte, die auf das Ende der Souveränität der Ukraine hinauslaufen, prophezeit er.

Putin sei weder von seiner Forderung nach der „Entnazifizierung“ der Ukraine abgerückt, womit er einen Regierungswechsel in Kiew meine, noch habe er auf die Kontrolle über Gebiete verzichtet, die die russischen Streitkräfte noch nicht einmal erobert haben. Falls die Verhandlungsbefürworter glauben, dass es nur eine Verhandlungstaktik sei und Putin zu Kompromissen gezwungen sein könnte, seien sie auf dem Holzweg. Wodurch könnte er denn überhaupt gezwungen sein? (But compelled by what?), fragt Kagan konsterniert.

Trumps Anhänger glauben, dass die bloße Rückkehr ihres Mannes ins Präsidentenamt ausreichen würde, um Putin so in Angst und Schrecken zu versetzen, dass er seine Interessen in der Ukraine aufgebe. Das nennt sich heute – spottet Kagan – ein republikanischer „Realismus“. Das Gegenteil sei jedoch eher der Fall.

Putin werde Trump vielmehr beim Wort nehmen und ihn vor der Wahl stellen: entweder das US-Engagement im Krieg zu intensivieren oder zurückzustecken und eine „neutrale“ Ukraine zu akzeptieren.

Was schlägt Kagan aber selber vor? Wodurch kann Putin gezwungen sein, ein solches Friedensabkommen zu akzeptieren? „But compelled by what?“ Seine Antwort ist bezeichnend für das ganze Dilemma, in dem die US-Russlandpolitik seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine steckt. Die derzeitige US-Kriegspolitik werde nach Kagan weder zu einer stabilen Lösung noch zu einem in Rede stehenden Friedensabkommen führen.

„Dies ist eben keine jener >Win-Win<-Situationen“ (This is not one of those “win-win” situations), die man aushandeln könnte. Wenn sich nichts Dramatisches ändere, werde der Krieg wie seit eh und je

auf dem Schlachtfeld gewonnen oder verloren.

Und so schließt Kagan seine Studie mit der resignierten Feststellung ab: Ein Friedensabkommen werde uns nicht retten. Die Amerikaner müssen bald entscheiden, ob sie bereit seien, die Ukraine verloren zu geben (We are not going to be rescued by a peace deal. Americans need to decide soon whether they are prepared to let Ukraine lose).

Dieses resignierte Resümee eines der markantesten außenpolitischen US-Vordenker zeigt, wie verfehlt doch die US-Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine war. Jetzt steht das US-Establishment vor dem Scherbenhaufen ihrer allein auf den Krieg ausgerichteten Russlandpolitik.

Der wesentliche Grund für diese verfehlte Kriegspolitik liegt wohl darin, dass Joe Biden und seine Entourage immer noch die ideologischen Gefechte des „Kalten Krieges“< bestreiten, als wäre der Ost-West-Konflikt nie zu Ende gegangen, wodurch sie einen geo- und sicherheitspolitischen Konflikt des 21. Jahrhunderts mit dem ideologischen Systemwettbewerb des 20. Jahrhunderts verwechseln.

Russland ist aber heute keine Sowjetunion und der Ukrainekrieg kein „Kalter Krieg“. Die transatlantischen Machteliten des 21. Jahrhunderts sind nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Sie verkennen auf einer fahrlässigen und verantwortungslosen Weise die geopolitische Realität der Gegenwart und haben zudem nicht einmal die Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts, die inmitten des „Kalten Krieges“ gewonnen wurden.

Amerikas einflussreichster Kolumnist aller Zeiten, Walter Lippmann (1889-1974), berichtete nach seinem Treffen mit Chruščov im Oktober 1958 von der Furcht der Sowjetführung, dass die USA einen „heißen Krieg“ beginnen würden, wenn sie den „Kalten Krieg“ nicht gewännen.

Diese Furcht führte Lippmann darauf zurück, dass der Konflikt zwischen der Sowjetunion und den USA „nicht als Konflikt zwischen Staaten und Großmächten, sondern als ein Glaubenskrieg zwischen zwei unvereinbaren Positionen zu begreifen ist“ und dass es auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs Menschen gäbe, die glauben würden, dass ihr jeweiliges politisches und gesellschaftliches System entweder die Welt beherrschen oder zu Grunde richten müsste.

Dieser Glaubenskrieg führe wiederum dazu, schlussfolgert Lippmann, dass das Streben nach der Vernichtung des Rivalen die Entstehung eines im nuklearen Zeitalter erforderlichen Modus Vivendi zwischen den beiden Supermächten unmöglich mache.5

Das war die Zeit der Ideologien und einer erbitterten Systemkonfrontation der zwei bis auf die (nuklearen) Zähne bewaffneten ideologischen Rivalen. Zum Glück blieb diese in einen regelrechten Glaubenskrieg ausgeartete ideologische Rivalität „kalt“ und es kam nicht zu einem „heißen Krieg“, wie Chruščov laut Lippmann befürchtete. Der Modus Vivendi funktionierte mehr schlecht als recht in der ganzen Periode des sog. „Kalten Krieges“.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Die heute stattgefundene Hypostasierung des Ukrainekrieges zu einem „Glaubenskrieg“ macht allerdings jede Friedensregelung unmöglich. Eine geo- und sicherheitspolitische Konfrontation, die die Züge eines „Glaubenskrieges“ einnimmt, ist viel gefährlicher als der ideologische Systemwettbewerb des „Kalten Krieges“, weil sie die vitalen Sicherheitsinteressen einer der rivalisierenden Parteien ignoriert und dadurch jeden Modus Vivendi zwischen den geopolitischen Rivalen verunmöglicht und eine friedliche Lösung des Konflikts von vornherein ausschließt.

Dieser „Glaubenskrieg“ hat längst die „Kälte“ des „Kalten Krieges“ hinter sich gelassen und ist längst in einen „heißen“ Proxy-Krieg übergegangen – mit der akuten Gefahr, in einen direkten Konflikt zwischen den zwei nuklearen Supermächten auszuarten. Die Claqueure des Krieges, die dafür bezahlt werden, der Kriegspartei Beifall zu klatschen, müssen nur aufpassen, selber nicht die Opfer des Krieges zu werden.

Anmerkungen

1. Lippmann, W., Die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Zürich 1944, 49 f.
2. Murphy, M./Neuerer, D., BND-Chef: „Putin wird roten Linien austesten“, Handelsblatt, 15.10.24, S.8.
3. Vgl. Silnizki, M., Gefangen in einer strategischen Asymmetrie. Russlands Defensivstrategie und die US-
Eskalationsdominanz. 25 August 2024, www.ontopraxiologie.de.
4. Handelsblatt-Bericht (wie Anm. 2), S. 9.
5. Lippmann, W., The Communist World and Ours. Boston 1958, 38 f., 50 f. Zitiert nach Annette Messemer,
Walter Lippmann und die Mächte. Eine ideengeschichtliche Studie zu Entwicklung, Positionen und
Konzepten eines amerikanischen Denkers der internationalen Beziehungen. Diss. Bonn 1995, 334.

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